Unternehmensinteresse oder shareholder value — (wann) muss der Vorstand mit dem Aufsichtsrat Rücksprache halten?

 

von Ulrich Wackerbarth

Ich frage mich seit langem, ob die Diskussion um das Unternehmensinteresse irgendetwas bringt – eine jüngere Entscheidung des OLG Frankfurt und der Aufsatz von Kort in AG 2012, S. 605 ff. „Vorstandshandeln im Spannungsverhältnis zwischen Unternehmensinteresse und Aktionärsinteressen“ haben mich nun darin bestärkt, die Frage zu verneinen.

Der Streit geht vereinfacht und kurz gefasst so: Muß der Vorstand sein Handeln allein am Interesse der Aktionäre ausrichten (shareholder value) oder muss er auch die Interessen anderer „stakeholder“ (Arbeitnehmer, Gläubiger, Öffentlichkeit) „berücksichtigen“ und sein Handeln daher am „Unternehmensinteresse“ ausrichten, was immer das sein mag?

Hauptargument für die Maßgeblichkeit des shareholder value als Leitmaxime ist einerseits, dass die Aktionäre eben das Unternehmen „veranstalten“ und das unternehmerische Risiko tragen und andererseits, dass der Vorstand sonst machen könnte, was er will. Denn was immer es ist, es wird schon im Interesse mindestens einer der genannten stakeholder – Gruppen liegen. Nur wenn man ihm vorschreibt, die Interessen einer einzigen Gruppe, eben der Aktionäre, zu berücksichtigen, bringt eine Pflichtenbindung des Vorstands überhaupt etwas.

Ich glaube mittlerweile fast, nicht einmal eine solche Bindung an eine einzige Interessengruppe schränkte den Handlungsspielraum des Vorstands auch nur marginal ein. Im Übrigen herrscht allerdings die Gegenauffassung (Maßgeblichkeit des Unternehmensinteresses) in Deutschland noch immer vor und sie wird auch von Kort noch einmal dargelegt. Ich sage ausdrücklich „dargelegt“, denn Argumente für seine Auffassung bringt Kort nicht vor. Er beschränkt sich auf ein „Das war schon immer so“ (aao, S. 608). Und zum Hauptargument der shareholder value- Anhänger meint er nur, „dennoch“ sei es anders (ohne weitere Begründung).

Vor allem aber: Gibt es einen einzigen Fall, in dem es auf diesen Meinungsstreit ankommt? Falls nein, so darf man ihn wohl getrost als akademisches Glasperlenspiel betrachten (und bezeichnen). Und da sind wir bei der Entscheidung des OLG Frankfurt, die vermutlich auch Anlass für den Beitrag von Kort war: Nach einer Übernahme durch einen Alleinaktionär schließt der Vorstand „noch schnell“ (vor seiner Abberufung) einen die AG langfristigen bindenden Vertrag. Die AG verlangt nun Schadensersatz, weil der Vorstand zuvor keine „informelle Rücksprache“ mit dem Aufsichtsrat gehalten hatte und das pflichtwidrig sei.

Die Entscheidung des OLG ist — mit der dort gegebenen Begründung — abzulehnen, was allerdings nichts mit der Frage „Unternehmensinteresse oder shareholder value?“ zu tun hat. Das OLG meint, der Vorstand der klagenden AG habe den Vertrag für die Gesellschaft abschließen dürfen, ohne vorher den Aufsichtsrat zu informieren. Diese Rechtsauffassung ist mit dem Wortlaut von § 90 AktG nicht vereinbar. War der Vertrag wichtig, so hatte der Vorstand eine vorherige Berichtspflicht nach § 90 Abs. 1 Nr. 1 AktG, weil die beabsichtigte Beauftragung eines externen Fonds-Managers zur Personalplanung und Geschäftspolitik (warum erledigt der Vorstand solches nicht selbst?) gehört und weil gem. § 90 Abs. 2 Nr. 1 Änderungen der Lage und neue Fragen einen solchen Bericht eben gebieten. Auf den Wortlaut des § 90 AktG geht das OLG Frankfurt mit keinem Wort ein, weshalb die Entscheidung schon aus diesem Grunde (und ganz unabhängig von irgendwelchen „Interessekonzepten“) abzulehnen ist. Im Raum stand hier nämlich neben Veränderungen im Vorstand und im Fondsmanagement auch eine negative Pressemitteilung über die klagende AG, die es zu verhindern galt, was schon — unabhängig von der Frage, welche Bedeutung dem konkret beabsichtigten Vertrag zukam — zeigt, dass es hier um die Zukunftsplanung des Unternehmens der AG und einen im verlangten Sinne „wichtigen“ Vertrag ging. Die Entscheidung des OLG Frankfurt, die sich allein mit der Weisungsfreiheit des Vorstands beschäftigt und damit, dass der Aufsichtsrat kein Geschäftsführungsorgan sei, schöpft deshalb den zur Verfügung stehenden Argumentationshaushalt nicht aus, um es einmal freundlich zu formulieren.

Zum Schluss: Gesellschaftsrecht ist das Recht, das eine Organisation des Auftretens Mehrerer im Rechtsverkehr ermöglicht. Nicht mehr eine einzelne natürliche Person, sondern Mehrere (eben eine Gesellschaft) tragen ein Unternehmen. Und dieses „Tragen“ ermöglicht das Gesellschaftsrecht, indem es die Willensbildung dieser Mehreren regelt, so dass die Mehreren nach innen und vor allem nach außen wie ein Einzelner auftreten können. In der Aktiengesellschaft sind die Mehreren eben besonders viele, und doch kann ein Einzelner (Vorstand) sie alle vertreten. Niemand hat bislang überzeugend begründet, warum dieser Vertreter bei seinem Handeln z.B. gegenüber einem Arbeitnehmer in diesem Unternehmen anders auftreten müsste, als die einzelne natürliche Person als Träger desselben Unternehmens mit denselben Arbeitnehmern und Gläubigern es täte (oder ihr Vertreter). Und doch folgte aus der Orientierung am „Unternehmensinteresse“ genau ein solches anders-handeln-Müssen — ohne dass dies irgendwie gerechtfertigt wäre.

Aber wie gesagt, auch im OLG-Frankfurt-Fall kam es auf all dies nicht an. Ich bin daher weiterhin gespannt, ob mir jemand einen (realen) Sachverhalt präsentieren kann, den ich anhand des geschriebenen Aktienrechts nicht ohne Rückgriff auf die Frage „Unternehmensinteresse oder Shareholder Value?“ lösen kann (gerne auch in den Kommentaren).

Eine Reaktion zu “Unternehmensinteresse oder shareholder value — (wann) muss der Vorstand mit dem Aufsichtsrat Rücksprache halten?”

  1. O. García

    Im Sinne der „Nichtausschöpfung des Argumentationshaushalts“ fällt auch auf, daß das OLG die Entscheidung des BGH im Strafverfahren Mannesmann/Vodafone (http://dejure.org/2005,49) nicht einmal erwähnte.

    Interessanterweise führte das OLG in seiner Begründung zur Nichtzulassung der Revision aus, daß der Fall keinen Anlaß gebe, Leitsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen aufzuzeigen, doch dies hinderte das Gericht nicht, seiner Entscheidung Leitsätze voranzustellen. Ob der erste dieser Leitsätze mit Mannesmann/Vodafone (Randnummer 21 der BGH-Entscheidung) vereinbar ist, kann man sich fragen (vgl. § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO).