Corporate BLawG

Look at me, I´m Roy

27. April 2022

von Ulrich Wackerbarth

It´s magic, mag sich der beklagte Geschäftsführer der GmbH gedacht haben, als er erfuhr, dass ein bloßes „Abracadabra“ die Insolvenz „seiner“ GmbH beseitigt hatte, jedenfalls nach Auffassung des OLG Schleswig (Entscheidung vom 29.09.2021) und der ihm zustimmenden Autoren Schulteis EWiR 2022, 236 f. sowie Beurskens, NZG 2022, 177f. Der Geschäftsführer wurde mit einer einfach unglaublichen Argumentation aus seiner Haftung aus § 64 S. 1 GmbHG a.F. entlassen. Dazu muss man sich vor Augen halten, dass der Geschäftsführer der GmbH zugleich Chef des gesamten deutsch-schweizerischen Konzerns war, in den die GmbH eingebunden war. Er besaß nämlich 54% der Aktien der Schweizer Muttergesellschaft, die neben der deutschen Tochter-GmbH noch an einer Schweizer Schwestergesellschaft beteiligt war. Die Argumentation des OLG Schleswig besitzt zwei Stränge, eine Haupt- und eine Hilfsbegründung.

Der Zombie: der qualifiziert-faktische Konzern

Ich fange mit der Hilfsbegründung an, diese läuft verkürzt wie folgt: Weil die Schweizer Mutter-AG die deutsche GmbH wie eine bloße Betriebsabteilung geführt hatte, liege ein qualifiziert-faktischer Konzern vor, daher habe sie (die Mutter-AG) analog § 302 AktG für alle Schulden der deutschen GmbH haften müssen. Zwar habe der BGH die Rechtsfigur des qualifiziert-faktischen Konzerns aufgegeben, zur Schließung von Schutzlücken sei sie aber beizubehalten. Diese Haftung der Mutter analog § 302 AktG sei bei der Beurteilung der Vermögenslage der GmbH zu berücksichtigen und schließe die Überschuldung der GmbH aus (OLG Schleswig aaO Rn. 29, Rn. nach juris). Daher war die GmbH angeblich nicht insolvent, als der Geschäftsführer die Zahlungen vornahm, die ihn nach § 64 Abs. 1 GmbHG a.F. (jetzt § 15b Abs. 4, 1 InsO) zum Ersatz bzw zur Erstattung verpflichteten. Damit war dessen Haftung erledigt. Das kann nicht unwidersprochen bleiben:

1. Der BGH hat die Rechtsfigur des qualifiziert faktischen Konzerns vorbehaltlos aufgegeben, ein Rückgriff darauf war deshalb unzulässig. Anders als das OLG in Rn. 29 behauptet, hat der BGH dies auch nicht erst 2007 in Trihotel entschieden, sondern bereits 2001 in Bremer Vulkan. Bei dem in Rn. 29 zur Stützung seiner Auffassung in Bezug genommenen Urteil des BGH aus 2006 ging es hingegen um einen Vertragskonzern und nicht um einen qualifiziert-faktischen Konzern, ein Fehlzitat also. Die Schwestergesellschaft wird vom OLG Schleswig in Rn. 28 als „Schwesterkonzern“ bezeichnet: All diese Nachlässigkeiten des OLG Schleswig sprechen bereits für sich.

2. Soweit das OLG argumentiert, es benötige die Haftung zur Schließung von Schutzlücken, die die Existenzvernichtungshaftung lässt (ebenfalls Rn. 29), steht dem entgegen, dass die vom OLG herangezogene Konzernhaftung selbst gerade die Lücke reißt, die das OLG zu schließen vorgibt. Denn die Konzernhaftung trifft ja nur die Schweizer Muttergesellschaft. Die Rechtsfigur des qualifiziert-faktischen Konzerns entlässt damit den hier beklagten Konzernchef gerade aus der Haftung, da er selbst kein „Unternehmen“ iSd Konzernrechts ist, obwohl das gesamte Gebaren hier allein auf seine Leitungsmacht zurückgeht. Im Übrigen war die Mutter ebenfalls insolvent, so dass ihre angebliche Haftung den Gläubigern nichts half.

3. Die Argumentation mit der Rechtsfigur des qualifiziert faktischen Konzerns ist auch im Übrigen geradezu pervers im Sinne des Wortes. Denn der BGH versuchte, mit Hilfe dieser Rechtsfigur Haftungslücken zu schließen, die aus dem Institut der Haftungsbeschränkung resultieren, und missbräuchliche Gestaltungen zu unterbinden. Das OLG hingegen missbraucht die Rechtsfigur dazu, den allein für die Misere verantwortlichen Beklagten aus der Haftung zu entlassen. Als „Rechtsprechung“ kann man das kaum noch bezeichnen.

Das Kaninchen aus dem Hut: die Verlustdeckungszusage

Beurskens (NZG 2022, 177, 178) meint, die Hilfsargumentation mit der Konzernhaftung habe sich das OLG sparen können, bereits die Rechtsgeschäftslehre helfe hier ausreichend weiter. Aber ist das wirklich so? In seiner Hauptbegründung meint das OLG Schleswig nämlich, die Schweizer Muttergesellschaft habe bereits rechtsgeschäftlich zugesagt, die Verluste der GmbH zu übernehmen (Rn. 26 – 28). Ergo bestand sogar eine vertragliche Haftung, die die Insolvenz der deutschen Tochter ausschloss. Schon die Anfangszeilen der Begründung lassen nichts Gutes ahnen:

„Zwar konnte der Bekl. eine derartige Erklärung in Schriftform nicht vorlegen. Hierbei ist jedoch zum einen die Beweisnot des Bekl. zu berücksichtigen, die daraus herrührt, dass bei dem Brand sämtliche Geschäftsunterlagen der Schuldnerin vernichtet wurden.“

4. Mit anderen Worten: Die Verlustdeckungszusage gab es möglicherweise überhaupt nicht: Der Beklagte konnte sie nicht nachweisen und also hätte er sie durchaus auch erst während des Prozesses erfinden können. Dem OLG ist das geradezu ausdrücklich egal: Ihm genügt die Tatsache, dass es eine Zusage hätte geben können, um daraus eine herbeizuzaubern. (Rn. 26 a.E.). Resultieren soll die Vereinbarung (!) aus personeller und wirtschaftlicher Verstrickung der Konzernunternehmen und der Tatsache, dass der Beklagte die Fäden in der Hand hielt und jederzeit entsprechende Gesellschafterbeschlüsse „hätte herbeiführen können“. Verstrickung und „Hätte, hätte, Fahrradkette“ sind indessen nicht die objektiven Tabestandsvoraussetzungen einer Willenserklärung, die ich noch im Studium gelernt habe.

Ähnlich argumentiert auch Beurskens, NZG 2022, 178:

„Die Verlustdeckungszusage war nicht formbedürftig (BGH NZG 2006, 543 Rn. 10 ff.; Emmerich/Habersack/Emmerich § 302 AktG Rn. 10), so dass sie auch konkludent erfolgen konnte. Die gelebte langjährige Praxis dürfte zum Nachweis einer entsprechenden Absprache genügen, ohne dass es des Rückgriffs auf konzernrechtliche Regelungen bedurft hätte.“

Wahnsinn: Weil der Beklagte jahrelang Gelder zwischen den einzelnen Gesellschaften hin- und herschob, was an sich schon verdächtig ist, kam dadurch konkludent eine Verlustdeckungszusage der Schweizer Mutter an die deutsche Tochter-GmbH zustande, die die Überschuldung der Tochter und die Haftung des Beklagten beseitigt. Ich weiß nicht, ob diejenigen, die so argumentieren, überhaupt noch merken, was sie da tun.

5. Aber selbst wenn es nachweisbar eine Verlustübernahmezusage gegeben hätte: Aus Sicht des Insolvenzverwalters als Interessenwalter der Gläubiger der Tochter-GmbH ist es unfair, ihn auf diese „Zusage“ zu verweisen. Vor der Klage gegen den Geschäftsführer kann er diese nicht kennen (vor allem wenn sie „mündlich“ erfolgte) und nach Klageerhebung ist es möglicherweise zu spät (wie hier). Der Verweis auf die angeblich haftende Schweizer Mutter ist vor allem dann auch sehr bequem für einen Geschäftsführer, wenn diese ohnehin pleite (wie hier) und/oder im schwer zu erreichenden Ausland sitzt (wie hier). Konkludente formfreie Verlustzusagen, die angeblich Überschuldung und Haftung beseitigen, sind keine vertrauensbildenden Maßnahmen im Rechtsverkehr. Und kein Gläubiger wäre mit einer Klage gegen die Schweizer Muttergesellschaft durchgedrungen, also sie noch solvent war. Diese hätte sich auf die Haftungsbeschränkung in der GmbH berufen, von einer Verlustdeckungszusage wäre dann nicht die Rede gewesen.

6. Die (deutsche) Rechtsgeschäftslehre leidet daran, dass sie die Perspektive Dritter nicht genügend berücksichtigt und deshalb bislang drittbelastende Wirkungen von Verträgen in zu weitem Umfang zulässt. Verträge können Dritte nicht verpflichten (Verbot des Vertrags zulasten Dritter), über diesen banalen Satz geht die Lehre momentan nicht weit hinaus. Alles darunter scheint erlaubt (ist es aber nicht!). In welchem Umfang genau schuldrechtliche Absprachen Lastwirkungen für Dritte entfalten können bzw. inwieweit die Perspektive Dritter die Auslegung von Vereinbarungen beeinflussen kann oder muss, dazu gibt es bis dato zu wenig Forschung (siehe aber im Zusammenhang mit AGB jüngst Legner, MDR 2021, 208; sehr großzügig Lastwirkungen für Dritte zulassend Rieble, DB 1997, 1165 f.). M.E. können Dritten unbekannte „Abreden“ nicht deren gesetzliche oder vertragliche Ansprüche einschränken. Ebensolches nimmt aber unter weitgehender Zustimmung der Literatur das OLG Schleswig an und blendet den Gläubigerschutz in der GmbH damit einfach aus.

Die Treuepflicht im Gesellschaftsrecht

8. April 2022

von Ulrich Wackerbarth

Gerade erst gelesen und deshalb erst jetzt besprochen: Reif und Walter haben in der JuS 2021, 630 einen Aufsatz über „Die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht“ als ein Kern-Institut des Gesellschaftsrechts geschrieben, um insbesondere deren Examensrelevanz darzustellen und Hilfestellung bei der Examensvorbereitung zu geben. Ein lobenswerter Ansatz, wie mir scheint, zumal ich selbst das Gesellschaftsrecht in meiner eigenen Examensvorbereitung „auf Lücke“ gelernt habe. Prompt wurde ich im Staatsexamen mit einer gesellschaftsrechtlichen Klausur bestraft, die ich mangels näherer Kenntnisse eben der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht nur so gerade bestanden habe.

Mit Recht betonen Reif/Walter die Schwierigkeiten, die die Treuepflicht angesichts ihrer mangelnden Positivierung und ihrer Abstraktheit bei Examenskandidaten verursacht und arbeiten auf anerkennenswert knappen 5 Seiten die wesentlichen Dinge ab, die es zur Treuepflicht zu sagen gibt. Dabei bezeichnen sie die Treuepflicht zutreffend als richterrechtliche Generalklausel, die das Handeln der Gesellschafter an die Mitgesellschafter und den gemeinsamen Zweck zurückbindet. Ich erlaube mir im Folgenden drei kleinere Kritikpunkte an den Ausführungen, die sich in erster Linie als Ergänzung verstehen.

Nicht ganz glücklich bin ich mit ihrer dogmatischen Einordnung. Zwar stellen Reif/Walter die insoweit in Betracht kommenden Möglichkeiten dar (und die jeweilige Kritik daran). Ihr eigener Vorschlag (§ 241 Abs. 2 BGB) führt aber ins Nirvana. Zum einen handelt es sich bei dem durch die Schuldrechtsreform eingefügten § 241 Abs. 2 um eine der missglücktesten Vorschriften überhaupt. Warum steht dort, das Schuldverhältnis „kann“ jeden Partner zur Rücksichtnahme etc. verpflichten, wenn doch klar ist, dass es solche Rücksichtnahme in jedem Schuldverhältnis gibt, nur ihre Intensität unterschiedlich ist? Im Übrigen importiert § 241 Abs. 2 BGB letztlich nur das allgemeine Schädigungsverbot der §§ 823 ff. BGB in ein Schuldverhältnis, um § 831 BGB auszuschalten und § 278 BGB zur Anwendung zu bringen. In dieser Norm ein zentrales Institut des Gesellschaftsrechts zu verorten, erscheint mir mehr als unangebracht und der Verweis von Reif/Walter auf den — Reichweite und Folgen „offen“ lassenden — Wortlaut des § 241 Abs. 2 BGB (S. 631) lässt seinerseits alles offen und hilft daher nicht weiter.

Mir selbst ist die dogmatische Herleitung im Ergebnis freilich weniger wichtig. Festzuhalten ist vor allem, dass die Treuepflicht letztlich aus dem privatautonom gewollten Organisationsvertrag der Gesellschaftsgründer hervorgeht und über die allgemeinen Rücksichtnahmepflichten aus Gesetz (§§ 226, 823 ff. BGB) und Austauschvertrag (§ 242 BGB) deutlich hinausgeht. Wenn man „das Gesellschaftsrecht“ in einem einzigen Satz (für alle Gesellschaftsformen) zusammenfassen will, dann beinhaltet es genau die folgende Anordnung: Die Gesellschafter sollen zusammen den gemeinsamen Zweck verfolgen und nicht gegeneinander arbeiten. Scheinbar banal und pauschal, aber leider angesichts der Praxis keine überflüssige Mahnung. Diese Pflicht ist im Gesetz am ehesten in § 705 BGB erkennbar.

Ein zweiter Punkt betrifft die Darstellung des Verhältnisses der Treuepflicht zur Privatautonomie (S. 632): Hier hätte es sich angeboten, die Frage der Abdingbarkeit der Treuepflicht wenigstens kurz zur Sprache zu bringen. Denn so wenig wie der Schuldner die Haftung für vorsätzliches Verhalten im Vorhinein abbedingen kann, ist es möglich, im Gesellschaftsvertrag die Treuepflicht vorab auszuschalten. Wohl aber kann man sie modifizieren bzw. klären, was (nicht) als Verletzung der Treuepflicht gilt.

Dier letzte notwendige Ergänzung ist die fehlende Darstellung des Zusammenhangs zwischen Treuepflicht und Stimmverboten bei Gesellschaften, in denen Beschlüsse mit Stimmenmehrheit gefasst werden (S. 634 f.). Aus der Rücksichtnahme- und Förderpflicht des Gesellschafters folgt nämlich unausweichlich, dass er nicht mitstimmen darf, wenn es um die Frage geht, ob die Gesellschaft gegen ihn einen Rechtsstreit einleitet (niemand darf Richter in eigener Sache sein), und auch dann nicht, wenn es um Rechtsgeschäfte zwischen der Gesellschaft und einem Gesellschafter geht. Wenn Gesellschafterbeschlüsse mit einfacher Mehrheit zu fassen sind und ein Mehrheitsgesellschafter beschließen will, dass ihm aus der Gesellschaftskasse Geld ausgezahlt wird, dann müssen die Minderheitsgesellschafter dazu „Nein“ sagen können. Daraus folgt das Stimmverbot bei Geschäften zwischen Gesellschaft und Gesellschafter. Dieses ist seinerseits Ausfluss der Treupflicht und für das Funktionieren jeder Gesellschaft zentral, solange nicht das Einstimmigkeitsprinzip gilt. Insbesondere nach dem Wegfall des scharf verstandenen Bestimmtheitsgrundsatzes im Personengesellschaftsrechts könnten die Stimmverbote als zusätzliche formelle Grenze für Mehrheitsbeschlüsse künftig eine größere Rolle spielen.

Es gibt keinen russischen Präsidenten mehr!

26. Februar 2022


von Ulrich Wackerbarth

Vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise kann ich nicht schweigen, ich habe das Gefühl, meiner Wut und Ohnmacht mit Worten Ausdruck verleihen zu müssen. Als Jurist bin ich darauf geeicht, Probleme lösen zu wollen – und wenn es nicht de lege lata geht, dann eben rechtspolitisch. (Nur) insofern sind Juristen auch Politiker. In der aktuellen Situation denken viele darüber nach, wie man sich selbst verhalten soll, aber auch, wie sich unsere westlichen Politiker verhalten sollen und schließlich denken manche vielleicht darüber nach, wie man mit einem Despoten und Mörder mit Atomwaffen sprechen und umgehen soll.

Annalena Baerbock hat gestern oder vorgestern gesagt, es sei eine ihrer bittersten politischen Erfahrungen, kaltblütig angelogen zu werden (von Lawrow und Konsorten), während die Vorbereitungen für den verbrecherischen Angriffskrieg liefen, der von langer Hand geplant war und den die westliche Diplomatie nicht hat verhindern können. Jetzt also, während ich dies schreibe, finden der Kampf um Kiew und damit ein sinnloses Blutvergießen statt, dessen Ende kaum abzusehen ist.

Dieser Krieg ist anders als andere Auseinandersetzungen und Waffen weltweit weder durch Religion oder Hass zwischen Völkern oder Volksgruppen, ja nicht einmal durch unterschiedliche Ideologien oder den Clash of Cultures veranlasst (oder wird dadurch befeuert), sondern allein durch das Sicherheitsbedürfnis, den Größenwahn und die Angst vor demokratischen Reformbewegungen eines einzelnen alten weißen Narzissten.

Umso sinnloser aber ist deshalb das gegenseitige Töten und Abschlachten zwischen den Angehörigen zweier „Brudervölker“. Die ukrainischen Männer bringen ihre Frauen und Kinder in Sicherheit, möglichst in den Westen und gehen dann zurück, um gegen eine Übermacht russischer Soldaten in einen aussichtslosen Kampf zu ziehen. „Wo sollen wir denn sonst hin?“ ist die Frage, die sie zu Recht stellen und die manche meiner Freunde und mich zu der Überlegung bringt: Müssen wir nicht eingreifen und nicht nur Waffen, sondern auch Soldaten zu Hilfe schicken, so wie es die Alliierten im zweiten Weltkrieg getan haben, um die von uns besetzten Gebiete zurückzuerobern und dem Schrecken ein Ende zu setzen? Und sofort anschließend frage ich mich, ob ich selbst bereit bin, mich oder meinen Sohn in die Ukraine zu schicken, um für Menschen zu kämpfen und zu sterben, die ich nicht kenne. Nein, bin ich nicht. Wäre ich es denn wenigstens, würde dasselbe mit Deutschland geschehen? Nein, ich habe mir bereits 1987 während des Wehrdienstes geschworen, niemals mit einer Waffe auf mir völlig unbekannte fremde Personen zu schießen, schon gerade wenn diese – wie in diesem Falle – es nicht besser wissen und nur Befehle befolgen.

Sollen wir gar (um alle Optionen gedanklich durchzuspielen) an schwerere Geschütze denken, die Ukraine stante pede in die NATO aufnehmen und Russland mit einem Atomschlag drohen, falls seine Soldaten nicht binnen 24 Stunden das fremde Land verlassen? Der russische Machthaber hat diese Option selbst indirekt angesprochen, als er bei Einmischung Konsequenzen androhte „wie nie zuvor in der Geschichte“, übrigens ganz im Stil des anderen zeitgenössischen Größenwahnsinnigen („Fire, fury and power the likes of wich the world has never seen“). Sollen wir also unseren Besitz, unser Leben und das unserer Kinder riskieren oder opfern, weil unser Nachbar überfallen wird? Ich bin unentschieden. Wenn der Mörder tatsächlich einen Atomschlag durchführt, falls er selbst offen damit bedroht wird, ist es vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis es auch ohne diese Drohung dazu kommt. Nur einen omnimodo facturus schrecken weder Drohungen noch Sanktionen. Andererseits ist das nur eine Vermutung, und die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Wie groß das Risiko tatsächlich ist, wissen wir nicht, der anzunehmende Schaden bei seiner Verwirklichung schreckt uns aber verlässlich von derartigen Drohungen ab.

Also ist die Konsequenz, militärisch tatenlos zuzusehen, wie das Elend seinen Lauf nimmt; wir geben die Ukraine hin, opfern die ukrainischen Männer und die russischen Soldaten, die keine Wahl haben; wir lassen Präsident Wolodymyr Selenskyj – einen mutigen ehemaligen TV-Moderator, der seiner Staatspflicht mit mehr Würde nachkommt als die ihn letztlich im Stich lassenden westlichen Politiker – absehbar umgebracht werden, da er es abgelehnt hat, sich wie ein feiger Autokrat ins Exil abzusetzen. Es bleiben die „Sanktionen“, bei denen ich mich angesichts verschiedener Berichte und Bewertungen in den Medien frage, ob sie – wenigstens auf Dauer – irgendetwas bewegen können. Heute erfahre ich, dass nur noch Deutschland und Ungarn gegen die Einbeziehung von SWIFT in den Sanktionskatalog sind. Das Für und Wider des Abschneidens Russlands aus diesem System ist ein Thema für sich. Aber geht es hier noch um inhaltliche Argumente? Seien wir glücklich, dass wir dieses Mal mit zu den Allliierten gehören: gemeinsames Handeln ist ein Wert an sich, klein-klein-deutsche Bedenkenträgerei sollte schnell zurückgestellt werden.

Würdeloser Alleinverursacher und -schuldiger dieser Katastrophe ist ein ehemaliger KGB-Chef, Plagiator und Geschichtsklitterer, der selbst nicht kämpft und nur feige seine Häscher schickt, der sich von noch schlimmeren Mördern und Schlächtern in der Geschichte nur durch wenig unterscheidet. Mit ihm zu reden, hat keinen Sinn, wie die vergangenen Jahre und Tage zeigen. Ich verstehe nicht, warum er noch Adressat hilfloser Appelle ist, während er Fakten schafft. Alle sind sich einig, dass er seit Jahren schamlos lügt; er ordnet den Tod Tausender vorsätzlich an. Wir werden es erinnern, wenn sich der Rauch gelegt hat (und falls wir dann selbst noch leben). Rückgabe der Ukraine an die Ukrainer, Wiederaufbau und Reparationen werden teuer. Zahlen sollten alle die, die sich nicht gegen den Despoten wenden, sondern sich feige in der zweiten Reihe oder hinter ihm verstecken.

Gestern haben wir mit der Familie am Tisch gesessen und diskutiert, was man (wir, Politiker, das russische Volk, wer auch immer) tun könnte, um diesen Massenmord durch einen Einzelnen zu beenden. Ich schlage vor, den Bluthund künftig zu schneiden, seinen Namen nicht mehr zu nennen und nur noch andere Russen anzusprechen und mit ihnen zu reden. Ein Familienmitglied wirft mir vor, damit nur noch mehr Öl ins Feuer zu gießen, weil man durch absichtsvolles Ignorieren Narzissten erst recht provoziere. Man soll sich auf Empathie mit den Opfern konzentrieren. Ich sehe das ein und sage nur (wie ich es auch jetzt meine), dass es mir vor allem darum geht, andere als ihn anzusprechen, die zwar nicht seine Macht haben, die man aber stärken sollte in der Hoffnung auf einen Tyrannenmord oder wenigstens einen Putsch. Denn ernstzunehmende Institutionen gibt es in Russland momentan nicht, es gibt nur noch den Despoten. Ein „Präsident“ sitzt schon der Wortherkunft nach einem entscheidenden Gremium vor. Das tut kein Tyrann, ihm gelten Gremien nichts. Und in diesem Sinne gibt es keinen russischen Präsidenten mehr.

Nebelkerzen statt Silvesterböller

28. Dezember 2021

von Ulrich Wackerbarth

Am 26.12.2021 hat die FAZ die Vorschläge eines Expertenrats für ein 10-Punkte-Programm zur Stärkung der „Unternehmenskontrolle“ als Reaktion auf den Wirecard-Skandal veröffentlicht. Ich frage mich, wer von den „namhaften Fachleuten“ sich da mit welchen Vorschlägen genau hat durchsetzen können. Bis auf zwei Ausnahmen finde ich die Vorschläge nämlich nicht besonders hilfreich – für eine spürbare Verbesserung der Corporate Governance und zur Verhinderung von Skandalen á la Wirecard taugen sie nichts, da bedürfte es ganz anderer Maßnahmen. Hier eine Kurzkritik der 10 Vorschläge:

1. Der Expertenrat will als erste Maßnahme ganz allgemein „Anreize setzen“ und eine „Kultur der aktiven Kontrolle“ fördern — wie gesetzt und gefördert wird, das sagt der Expertenrat nicht. Für mich schon der erste Totalausfall auf der 10-Punkte-Liste.

2. Alles soll schnell und effektiv sein, deshalb sollen „ggf. noch bestehende Verschwiegenheitspflichten“ zwischen den Akteuren abgebaut werden – welche das genau sind und wie sie abgebaut werden sollen, dazu schweigt der Plan erneut. Zweiter Ausfall.

3. Es sei „zu prüfen“, wie man angemessene Anreize zum Whistleblowing setzen könne. Dafür sollten „Hinweisgebersysteme“ in den Unternehmen eingerichtet werden, die auch Verstöße gegen Rechnungslegungsregeln aufdecken können sollen, und die unternehmensinternen Stellen müssten „hinreichend unabhängig“ sein.

Warum genügt den Experten nicht die Hinweisgeberstelle der BAFin? Und warum muss es gleich ein „System“ sein? Und wie darf ich mir das „System“ vorstellen? Ich bin also z.B. Buchhalter und stelle fest, dass jemand (z.B. Markus Braun?) Luftbuchungen vorgenommen hat. Dann gehe ich also zu Kollege X (z.B. Jan Marsalek?), der Chef des Hinweisgebersystems ist, und berichte ihm. Was macht der dann mit dem Hinweis? Muss ich da vielleicht um meinen Job fürchten? Ach nein, X ist ja „hinreichend unabhängig“ … M.E. funktioniert das nicht: In Skandal-Unternehmen kann man der internen Stelle nicht vertrauen, man ginge allenfalls zur BAFin oder Staatsanwaltschaft, wenn die etwas davon verstünde. Für die Nicht-Wirecard-Unternehmen bedeuten verpflichtende Hinweisgeber-Systeme hingegen nur eines, nämlich mehr Bürokratie (das deutsche Standard-Gift gegen Unternehmertum).

4. Neben dem Hinweisgebersystem sollen die börsennotierten Gesellschaften ein Compliance Management System einrichten, damit „Bilanzbetrug und Vermögensschädigung (Fraud)“ verhindert oder aufgedeckt werden. Da reibt sich der deutsche Leser verwundert die Augen: Betrug ist ein Straftatbestand, Vermögensschädigung hingegen nicht, und auf englisch heißt Betrug halt Fraud (aber nicht Vermögensschädigung). Was soll das bedeuten? Und wie richtet der Vorstand das Compliance Managment System ein, wenn schon die Experten nicht wissen, wie man die Unternehmen effektiv kontrollieren kann? Denn umsetzbare konkrete Vorschläge fehlen gerade, siehe bereits 1 – 3 und nachfolgend 5 – 10. Also noch eine Nebelkerze, und für funktionierende Unternehmen ein weiterer Bürokratie-Knüppel (aaaah, schon wieder ein neues System) zwischen die Beine.

5. Unter dem Deckmantel der Verbesserung der Informationsversorgung veranstalten die Experten anschließend ein heilloses Durcheinander: „Zur Verbesserung der Informationsversorgung sollte die Integration von finanzieller und nichtfinanzieller Berichterstattung beschleunigt werden“. Dazu gehörten auch „nachhaltigkeitsbezogene Informationen“. Selbstverständlich soll aber ein „information overload“ verhindert werden. Die Verantwortung dafür weisen die Experten dem Aufsichtsratsvorsitzenden zu. Was der genau tun soll und wie er einen information overload vermeiden kann, und vor allem, wie dadurch der Wirecard-Skandal hätte verhindert werden können, das verschweigen die Experten. Mir leuchtet das alles nicht ein: Wenn man die Informationsversorgung verbessern will, schaffe man neue Kanäle, der Aufsichtsrat wird sich ihrer schon bedienen, wenn er nur will. Die Integration von finanzieller und nichtfinanzieller Berichterstattung schafft aus meiner Sicht nur (weitere) Möglichkeiten für Unternehmen, schlechte Zahlen zu vertuschen („wir haben zwar wenig Geld verdient, aber dafür den Klimawandel verlangsamt“).

6. Die Experten fordern mal wieder unabhängige Aufsichtsratsmitglieder, dieses Mal soll einer der beiden Finanzexperten im Aufsichtsrat (§ 100 Abs. 5 AktG) zusätzlich auch noch unabhängig sein (wie auch immer man das feststellt). Mir kommt die Aktienrechtsreform in Permanenz mittlerweile so vor, als ob nach jedem Skandal der Aufsichtsrat entweder mindestens eine neue Frau, einen neuen Finanzexperten oder einen neuen Unabhängigen bekommt. Wohin soll das noch führen?

Es hilft im Übrigen nichts, einer unabhängigen Person mehr Macht oder mehr Informationen zu geben. Wer unabhängig ist, dem sind die Angelegenheiten der Gesellschaft im Zweifel egal, mehr Unabhängigkeit führt gerade nicht zur gewünschten Kontrolle. Wer diese will, muss das Gegenteil tun, nämlich einer interessierten Person mehr Macht oder Informationen geben, zum Beispiel einem Vertreter der Minderheit. Dies ist seit längerem bekannt, die zur Verfügung stehenden Informationen wurden von den unabhängigen Experten nicht genutzt — von einem unabhängigen Aufsichtsrat ist nichts Besseres zu erwarten.

7. Der Abschlussprüfer soll das Compliance Management System des Vorstands (s.o. 4) prüfen. Mir gefällt schon die Einführung des Letzteren nicht (s.o. zu 4.), aber da fragt man sich zusätzlich, ob das Expertengremium den Fall Wirecard noch vor Augen hatte, als es den Vorschlag erarbeitete. Dann hätte nämlich EY bei Wirecard aufgepasst, dass Jan Marsaleks Compliance Management System funktioniert. Top-Idee – nur so kann Deutschlands Unternehmenskontrolle gerettet werden.

8. Keine Fachaufsicht des Finanzministers über die BAFin und eine Reform der Finanzierung der BAFin, außerdem eine Stärkung der Abschlussprüferaufsichtsstelle: Darüber kann man reden, die Ausstattung der BAFin ist im Verhältnis zu anderen Ländern, insbesondere zu den USA, unterirdisch, ihre Rechte sind stets schwächer als die der Kartellbehörden (siehe etwa § 107 WpHG, selbst noch in der verschärften Fassung des FISG, oder § 40 WpÜG versus §§ 57 – 59b GWB).

9. Die zweite angesprochene Ausnahme ist Nr. 9: mehr Geld und bessere Fachausbildung für die Strafverfolgungsbehörden tun Not und die Forderung danach ist deshalb sinnvoll.

10. Die Aufnahme von Unternehmen in Indizes wie DAX oder MDAX wollen die Experten/-innen an strengere „Strukturnachweise“ koppeln. Mal wieder soll das der „unabhängige“ Dritte kontrollieren (wer wird es wohl ein? Eine Versicherung? Der Expertenrat selbst?). Welche „Struktur“ (m.E. im Zusammenhang mit der Organisation von Unternehmen das Unwort des Jahrhunderts) gemeint ist, sagt der Rat ebenfalls nicht. Da sich der Wirecard-Skandal vor den Augen der Deutschen Börse im DAX ereignet hat, musste wohl irgendein Vorschlag her, der der Börse als Feigenblatt dienen kann, es war ihr dann wohl doch zu peinlich.

Nach allem wird der Expertenplan kaum zu Verbesserungen der Corporate Governance deutscher Unternehmen führen. Wer etwas verbessern will, müsste private Klagerechte schaffen oder stärken (siehe die Schadensersatzklagen im Kartellrecht, die gerade zum hier besprochenen Samal-Urteil des EuGH geführt haben), aber diesen Weg werden wohl weder die Finanzvorstände von Siemens oder Deutscher Bahn mittragen, die beide mit zum Expertenrat der FAZ gehören. Auch von der Haftung der Wirtschaftsprüfer liest man in den Vorschlägen des Expertenrats herzlich wenig, die Verantwortung der Deutschen Börse für den Wirecard-Skandal wird durch den Vorschlag 10 auch eher verneint denn eingestanden. Auch diese Institutionen waren im Expertenrat namhaft vertreten. Etwas anderes konnte dabei deshalb wohl kaum herauskommen.

Wer sind die Geisterfahrer?

20. Dezember 2021

 

von Ulrich Wackerbarth

Ein Autofahrer hört aus dem Radio: „Ein Geisterfahrer auf der A7!“ — Sagt der Fahrer: „Einer? Wieso einer? Hunderte!“

Dieser abgedroschene Witz ging mir durch Kopf, während ich den Beitrag „Grenzenlose Haftung“ von Hommelhoff und Schneider in der FAZ vom 15.12.2021, Nr. 292, S. 16 über das Urteil des EuGH in der Rechtssache Sumal vom 6.10.2021 (C-882/19) las. In dieser Entscheidung hat der EuGH den im Kartellrecht zentralen Begriff des Unternehmens genauer definiert. Darüber echauffieren sich Hommelhoff/Schneider nun, als ginge mit dem Urteil das Abendland unter. Schauen wir uns die Entscheidung mal etwas genauer an.

1. Das Unternehmen im Kartellrecht als wirtschaftliche Einheit

Schon seit jeher ist das Unternehmen im Kartellrecht etwas anderes als ein Rechtsträger. Der EuGH versteht darunter eine „wirtschaftliche Einheit“. Während aus mehreren Rechtsträgern bestehende Konzerne nach deutschem Gesellschaftsrecht mehrere Unternehmen (Unternehmensgruppe) sind, werden sie in der Wirtschaft praktisch durchweg als „Unternehmung“ und damit als Einheit angesehen. Im besonders wirtschaftsnahen Kartellrecht gilt insoweit schon seit längerem ein sich von den einzelnen rechtlichen Einheiten lösender wirtschaftlicher Unternehmensbegriff, eben die „wirtschaftliche Einheit“.

Das hat schon länger dazu geführt, dass eine Muttergesellschaft und zumindest ihre 100%ige Tochter als einheitliches Unternehmen angesehen wurden mit der Folge, dass bei einem Kartellverstoß durch die Tochter neben der Tochter zusätzlich auch die Mutter auf Schadensersatz in Anspruch genommen werden konnte. Mit einem gesellschaftsrechtlichen Haftungs-Durchgriff hatte das letztlich nicht viel zu tun, das Ergebnis war möglicherweise ähnlich, aber es lag in solchen Fällen keiner der anerkannten Durchgriffshaftungstatbestände vor und die Mutter wurde nicht wegen ihrer schlechten Behandlung der Tochter zur Haftung herangezogen, sondern weil das Recht ihr persönlich zurechnete, was die Tochter an Kartellrechtsverstoß begangen hatte – das war ein genuin kartellrechtlicher Haftungstatbestand und weder mit Vermögensvermischung, Mißbrauch der Tochter oder existenzvernichtendem Eingriff gleichzusetzen.

2. Durchgriffshaftung der Tochter?

Nun hatte der EuGH den umgekehrten Fall zu entscheiden: Der Kartellverstoß der Mutter stand fest, konnte man diesen der Tochter zurechnen? Der EuGH bejaht die Frage und stellt den Grundsatz auf, dass alle Rechtsträger einer wirtschaftlichen Einheit für einen Kartellrechtsverstoß eines anderen Rechtsträgers gesamtschuldnerisch haften, gleich ob sie an dem konkreten Verstoß beteiligt waren oder nicht. Damit wird – gesellschaftsrechtlich betrachtet – einer Tochtergesellschaft jedenfalls in bestimmten Fällen das Verhalten ihrer (Haupt-)Gesellschafterin zugerechnet, das gab es bisher in dieser Form nicht.

Das Urteil des EuGH hat in der Tat Folgen. Es ermöglicht nämlich Klagen auf Schadensersatz im jeweiligen Heimatland der durch ein kartellrechtswidriges Verhalten geschädigten Wettbewerber, wenn der Delinquent dort bzw. europaweit über Tochtergesellschaften tätig ist. Damit verlieren die nationalen Gerichte die Oberhand über „ihre“ Unternehmen und die vereinheitlichende Wirkung der Rechtsprechung des EuGH wird um so wichtiger.

Kein Wunder, dass dies bei deutschen Konzernrechts-Dogmatikern nicht auf Gegenliebe trifft. Hommelhoff/Schneider sprechen davon, dass der EuGH damit „die Axt an den Konzern“ lege und Unternehmen „das bedeutendste Instrument aus der Hand“ nehme, „um im europäischen Binnenmarkt die grenzüberschreitende Ausübung der Niederlassungsfreiheit adäquat zu organisieren“. Begründen oder konkretisieren können die Autoren diesen Pauschalangriff aber nicht. Mit der Haftungstrennung zwischen Mutter und Tochter hätte ja zunächst einmal nur der umgekehrte Fall (Haftung der Obergesellschaft trotz Haftungsbeschränkung in der Tochter) zu tun.  Und warum Unternehmen jetzt, nach dieser gar schlimmen Entscheidung, keine ausländischen Töchter mehr gründen werden, leuchtet mir schon gar nicht ein. Dass ein Unternehmen Sanktionen für ahndbares Fehlverhalten im Ausland nicht mehr durch Gründung von Auslandstöchtern verhindern kann, führt doch nicht zu ernsthaften Bedenken hinsichtlich der Gründung solcher Töchter. Dafür sind steuerliche und Haftungsgründe ausschlaggebend, die durch das von Hommelhoff/Schneider angegriffene Urteil nicht berührt werden (freilich aber durch die bereits erwähnte Haftung der Mutter für Kartellverstöße der Töchter).

3. Keine allgemeine Aufgabe des Trennungsprinzips

Wenn Hommelhoff/Schneider meinen:

„Für die Verbindlichkeiten der Tochtergesellschaften darf die Muttergesellschaften nicht ohne weiteres haften und umgekehrt.“

dann ist das gesellschaftsrechtlich sicher richtig. Das Urteil „Sumal“ ändert daran aber auch nichts für die vielfältigen Haftungsfälle außerhalb von Kartellverstößen. Denn auf diese beschränkt sich die Rechtsprechung des EuGH und sie hat eben wegen der Wirtschafts- und Wettbewerbsnähe des Kartellrechts einiges für sich. Insbesondere sorgt sie für eine bessere Durchsetzung des Kartellrechts, da die auf dem konkreten Kartellverstoß beruhende Vertriebsmaßnahme unmittelbar in dem Mitgliedsstaat verfolgt werden kann, in dem sie stattfindet. Auf unsichere grenzüberschreitende Klagen muss sich dann kein Kartell-Opfer einlassen. Solange das kartellrechtlich begründet werden kann, handelt es sich im Übrigen nicht um einen gesellschaftsrechtlichen Durchgriff – weder von unten nach oben, noch umgekehrt.

4. Fragen über Fragen

Deutlich zu weit gehen Hommelhoff/Schneider mit folgender Aussage:

„Die Konzernrechtspraxis und -wissenschaft macht die kartellrechtliche Spruchpraxis des EuGH mit dem Samal-Urteil endgültig ratlos.“

In der Kartellrechtswissenschaft (!) ist das Urteil von vielen erwartet worden und wird von manchen begrüßt. Man lese nur die abgewogene Stellungnahme von Barennes/Braeken/Versteeg. Auch in Deutschland gibt es bereits eine Reihe von Stellungnahmen, die die Entscheidung des EuGH vorwegnehmen und gutheißen (Kersting, ZHR 182 (2018), 8 ff.; Ackermann, ZWeR 2010, 329 ff.; Kreße, GPR 2019, 240 ff.; zu allgemein Weck, NZG 2016, 1375 f.; s.a. das obiter dictum im Urteil des LG Dortmund v. 8.7.2020 Rn. 47). Aber auch die Gesellschaftsrechtler sollte das Urteil nicht vor unüberwindbare Hürden stellen. Mir jedenfalls fallen sofort Antworten auf die rhetorischen Fragen von Hommelhoff/Schneider ein:

Haftet auch die Tochtergesellschaft mit Minderheitsgesellschaftern neben der Muttergesellschaft?

Die Antwort ist leicht, es kommt darauf an. Sind es echte Minderheitsgesellschafter und nicht lediglich Strohmänner, dann nein, eine Zurechnung von Verhalten nur eines Gesellschafters an eine mehrgliedrige Gesellschaft sollte in diesem Fall nicht möglich sein, weil die Minderheit sonst ohne Grund bestraft würde (ähnlich Mörsdorf, ZIP 2020, 489, 495 f., der das freilich auf alle Töchter erweitert, ohne dabei die erwähnte internationale Dimension miteinzurechnen). Aber das wird vielleicht künftig eine umstrittene Frage sein, bei der es die künftige Rechtsprechung des EuGH genau zu beobachten gilt.

Wie soll sich die Tochtergesellschaft vor den Folgen kartellrechtswidrigen Verhaltens der Muttergesellschaft schützen?

Ganz einfach: Sie muss es nicht, wenn sie eine echte Gesellschaft ist (siehe Antwort auf die erste Frage). Ist sie aber keine Gesellschaft, sondern nur ein haftungsmäßig abgeschotteter Teil eines aus zwei Rechtsträgern bestehenden einheitlichen Unternehmens, dann soll sie es gerade nicht können, das ist der begrüßenswerte Inhalt der Sumal-Entscheidung. In einem solchen Fall wird übrigens im Betriebsrentenrecht über die Zurechnung der wirtschaftlichen Lage der der Obergesellschaft an die Tochter diskutiert (sog. Berechnungsdurchgriff) — es ist also keinesfalls so, dass entsprechende Fragen dem deutschen Recht vollkommen fremd wären.

Hat sie Abwehr- und Informationsrechte?

Ja, siehe die Entscheidung Sumal selbst: Der EuGH bemüht sich, den Begriff der wirtschaftlichen Einheit einzugrenzen und die Haftung handhabbar zu machen. Er postuliert zwar eine gesamtschuldnerische Haftung der zur wirtschaftlichen Einheit gehörenden Rechtsträger des Konzerns. Diese Einheit wird aber nicht allein an der Beteiligungsstruktur festgemacht. Es bilden nicht automatisch eine Mutter und sämtliche ihrer 100%igen, eng geführten (Rn. 43) Töchter eine wirtschaftliche Einheit. Vielmehr betrachtet der EuGH die Funktion der Tochter innerhalb des Konzerns und unterscheidet Konzerne danach, ob sie Konglomerate sind oder aber Wettbewerber zu einer Unternehmensgruppe zusammenfassen (Rn. 45 -47): Bei Konglomeraten wird die Mutter nur mit den zur jeweiligen Branche gehörenden Töchtern und dann ggf. verschiedene Einheiten bilden. Im konkreten Fall ging es insoweit um eine 100%ige Vertriebsgesellschaft der Daimler AG (Mecedes Benz Truck Espana SL) und um kartellrechtswidriges Verhalten der Daimler AG beim Vertrieb von LKW. Damit war klar, dass die spanische Tochter mit zur wirtschaftlichen Einheit gehörte.

Sie wird daher in einem zivilrechtlichen Verfahren auf Schadensersatz so behandelt, als hätte sie selbst den Kartellrechtsverstoß begangen. Der EuGH begründet das ausführlich und stellt dabei klar, dass die Tochter, nachdem ein Bußgeld gegen die Mutter rechtskräftig geworden ist, den Kartellverstoß nicht mehr bestreiten kann. Ihr steht in einem Kartellschadensersatzprozess aber stets der Einwand offen, sie gehöre eben nicht zum „Unternehmen“ im beschriebenen Sinne. Solange noch kein Bußgeld verhängt ist, kann sie auch den Kartellverstoß bestreiten (Rn. 60). Umgekehrt aber folgt aus der Verhängung eines Bußgelds allein gegen die Mutter kein Argument dafür, dass nicht sanktionierte Töchter im Schadensersatzprozess nicht mit zur wirtschaftlichen Einheit gehören (Rn. 63).

Und was tun die Gläubiger, deren Befriedigungschancen die Einstandspflicht der Tochtergesellschaft verringert: Wie können sie sich informieren, um im Zweifel notwendige Maßnahmen zu treffen?

Diese Frage sollten die beiden Autoren besser als jeder andere beantworten können: es geht ihnen wie allen Gläubigern von Gesellschaften, die sich nicht auf die Zahlungsfähigkeit ihres Schuldners verlassen wollen: Entweder schreiben sie covenants in die Verträge und verschaffen sich Informationsrechte oder aber sie sind auf faire Insolvenzverfahren angewiesen – besondere Konzern-, Insolvenz- oder Gerechtigkeitsprobleme stellen sich hier nicht.

Was folgt daraus für die Bilanzierung der Tochter, was für ihre Insolvenzvorsorge?

Nach meinem Dafürhalten: nichts Besonderes. Wer bilanziert denn Kartellverstöße oder sorgt insoweit für eine eventuelle Insolvenz vor? Niemand. Und wenn die Gesellschaft tatsächlich verklagt ist, muss sie eben Rückstellungen bilden. Dafür gibt es allgemeine Regeln.

Nach alledem sollte man sich vielleicht fragen, ob nicht das durchsetzungsfeindliche deutsche Recht hier von den europäischen Richtern eher etwas lernen kann. Und dann sind wir wieder beim Titel dieses Beitrags.

Recht(s)kraftlos

1. Dezember 2021

von Ulrich Wackerbarth

Schwach und unfair – nicht anders kann man die Argumentation des BGH bezeichnen, mit der er bereits in seiner Entscheidung v. 23.5.2017 die Vererblichkeit eines rechtshängig gemachten Anspruchs auf „Schmerzens“geld, d.h. Entschädigung wegen Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts ausgeschlossen hat. Das hat jetzt die Witwe von Helmut Kohl erfahren müssen, der der BGH eine Millionenentschädigung mit der nicht sehr würdevollen Begründung verweigert, ihr verletzter Ehegatte sei eben zu früh gestorben (Entscheidung vom 29.11.2021). Nach der Entscheidung aus 2017 war die jetzt getroffene Entscheidung absehbar. Grund genug, sich die Argumentation des VI. Senats aus 2017 einmal näher anzuschauen, bevor die Begründung der aktuellen Entscheidung veröffentlicht ist.

Ausgangspunkt: Die Genugtuungsfunktion der Entschädigung

Es wird immer gefährlich, wenn der BGH mit Natur und Wesen (oder heute, etwas moderner: Funktion und Zweck) eines praeter legem geschaffenen Rechtsinstituts argumentiert. Dabei will ich gar nicht den Ausgangspunkt der BGH-Rechtsprechung zum Entschädigungsanspruch bei Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts (APR) in Zweifel ziehen (obschon man das mit guten Gründen kann): Dass die Genugtuungsfunktion der Entschädigung und der höchstpersönliche Charakter der Verletzungshandlung im Vordergrund stehen – geschenkt. Daraus hat der BGH die fehlende Vererblichkeit und Übertragbarkeit des APR-Entschädigungsanspruchs abgeleitet. Hierzu hat er den (in 1990 abgeschafften) § 847 Abs. 1 S. 2 BGB a.F. herangezogen (BGH v. 29.4.2014 Rn. 11 mit Nachweisen). Der bestimmte:

„Der Anspruch [sc. auf Schmerzensgeld] ist nicht übertragbar und geht nicht auf die Erben über, es sei denn, daß er durch Vertrag anerkannt oder daß er rechtshängig geworden ist.“

Diese Wertung hat der BGH auf den Entschädigungsanspruch aus Verletzung des APR übertragen. Eine Genugtuung gegenüber dem in seinem APR Verletzten kann nach seinem Tod nicht mehr erfolgen. Dementsprechend gibt es keinen Anspruch, wenn das postmortale Persönlichkeitsrecht verletzt wird (BGH NJW 2006, 605) – selbst das mache ich noch mit, wenngleich mir die daraus resultierende fehlende Abschreckung für derartige Taten nicht gefällt. Aber dass es dem Verletzten nichts nützt, Klage auf die Entschädigung zu erheben, sondern er auch noch das gesamte Verfahren bis zur Rechtskraft überleben muss, damit dieser Genugtuungsanspruch zu seinem vererbbaren Vermögen gehört – das ist schlicht nicht hinnehmbar.

Doppelzüngige Argumentation mit § 847 Abs. 1 S. 2 BGB a.F.

Der VI. Senat des BGH redet mit zwei Zungen, wenn er auf § 847 Abs. 1 S. 2 BGB a.F. zu sprechen kommt. Seit dessen Abschaffung im Jahr 1990 sind (allgemeine) Schmerzensgeldansprüche, nunmehr in § 253 Abs. 2 BGB geregelt, bekanntlich vererblich, weshalb gleiches in der Literatur auch für den Genugtuungsanspruch bei Persönlichkeitsrechtsverletzung gefordert wird (Nachweise in BGH v. 2014 Rn. 6). Diese Argumentation macht der BGH jedoch (nachvollziehbar) nicht mit, weil der Gesetzgeber bei der Abschaffung des § 847 Abs. 1 S. 2 BGB a.F. Ansprüche aus dem APR nicht vor Augen hatte (BGH v. 2014 Rn. 14 f.). Aber ganz sicher hat der Gesetzgeber mit der Abschaffung des § 847 I 2 BGB dann auch nicht sagen wollen, dass bei Ansprüchen aus dem APR nunmehr noch schärfere Maßstäbe für die Vererblichkeit gelten sollen, als sie der BGH ehemals aus dieser Norm hat ableiten können. Anders der VI. Senat (2017 Rn. 17):

„Der Rechtshängigkeit kann zwar auch eine rechts(ver)stärkende Wirkung zukommen …. Soweit man § 847 Absatz 1 S. 2 BGB aF und § 1300 Absatz 2 BGB eine solche Wirkung entnahm, ist diese aber bereits durch deren Streichung gegenstandslos geworden.“

Doch die fehlende Vererblichkeit und Übertragbarkeit des APR-Entschädigungsanspruchs hat der VI. Senat ja gerade aus § 847 Abs. 1 S. 2 BGB a.F. abgeleitet, siehe noch einmal ausdrücklich BGH 2014 Rn. 11 mit Nachweisen. So kann man natürlich auch argumentieren: Aus der Abschaffung einer Norm folgt nichts, außer, wenn es mir gerade in den Kram passt.

Unredlichkeit bei den Zitaten

Der VI. Senat usurpiert zudem in Rn. 18 des Urteils aus 2017 Stellungnahmen in der Literatur, die seine Rechtsprechung ablehnen: So ist etwa Spickhoff LMK 2014, 359158 für die volle Vererblichkeit der Entschädigung, wird aber vom BGH ausschließlich für seine Auffassung in dem nichtssagenden Detail zitiert, die Genugtuung sei weder mit Einreichung noch mit Zustellung der Klage erreicht; ähnliches gilt für den Aufsatz von Stender-Vorwachs, NJW 2014, 2831, 2833 sowie die Anmerkung von Geiger jurisPR-FamR 22/2014, Anm. 1 [unter C]. Sie alle halten den Anspruch ohnehin für vererblich. Wenn meine Studierenden so selektiv zitierten (nämlich dem Geist der Quellen zuwider), würfe ich Ihnen ein Fehlzitat, mindestens aber wissenschaftliche Unredlichkeit vor.

Das Scheinargument „rechtliche Anerkennung durch Rechtskraft“

Eine Grenze will der VI. Senat dann aber doch nicht erst bei der Erfüllung des Anspruchs ziehen (nach dem Motto: Der Verletzte hat einen Anspruch, wenn der Verletzer ihn erfüllt). Offenbar geriet ihm der Anspruch dann doch zu nahe an eine bloße Naturalobligation: In Rn. 18 seines Urteils aus 2017 legt er dar, die Genugtuung trete

„mit der rechtskräftigen Zuerkennung eines Anspruchs auf Geldentschädigung ein. Denn mit der Rechtskraft und nicht – wie die Revision meint – mit der Zustellung der Klage, mit der allenfalls eine Aussicht auf Genugtuung entsteht, wird eine gesicherte Position erlangt.“

Warum gerade die Rechtskraft die relevante „Zuerkennung“ des Anspruchs bedeute, die damit die Genugtuungsfunktion erfülle, kann der Senat nicht erklären. Preuß weist in LMK 2017, 395735 mit Recht darauf hin, dass

„dem Verletzten, der Genugtuung verlangt, insoweit bereits die schlichte Tatsache [genügte], dass die Rechtsordnung ihm wegen der Persönlichkeitsrechtsverletzung einen Entschädigungsanspruch gewährt, den er, sollte der Verletzer nicht freiwillig leisten, gerichtlich durchsetzen kann. Die Wirkung würde sogar verstärkt, wenn der Verletzte Gewissheit hätte, dass ein solcher Anspruch seinen Tod überdauerte.“

M.a.W.: Der gewählte Zeitpunkt für die rechtlich relevante Zuerkennung ist vom BGH vollkommen willkürlich gewählt.

Verstoß gegen die Waffengleichheit

Mit dem Argument, dass seine Auffassung zu prozessualen Verzögerungstaktiken einlädt, setzt sich der VI. Senat erst gar nicht auseinander. Vermutlich würde er auch einfach darauf verweisen, dass man einer missbräuchlichen Verzögerung ja – wenn sie denn festzustellen ist (nie!) — mit Mitteln des Rechts zu Leibe rücken könnte. Mir geht es aber gar nicht nur um die zynische Taktik des Verletzers, das Verfahren so lange zu hintertreiben, bis sich sein Problem „auf natürliche Art und Weise“ erledigt (wie ich schon einmal Arbeitgeber-Anwälte im Rahmen eines Betriebsrentenverfahrens habe reden hören).

Nein, es geht schon darum, dass Gerichtsverfahren selbst auch ohne Verzögerungstaktiken eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen. Dass es in Deutschland dauert, Recht zu bekommen, nicht zuletzt weil die Justiz unterfinanziert ist, ist bekannt und unvermeidbar. Aber dass im Falle solcher Genugtuungsklagen dabei eine Ausschlussfrist zu Lasten nur einer der beiden Seiten läuft, nämlich des Gläubigers, das stört die Waffengleichheit immens und ist nach meinem Dafürhalten Zeugnis fehlender Fairness.

 

Folgenabschätzung statt Wirtschaftsethik oder: Was Gesellschaftsrechtler nie verstehen …

5. Juni 2021

von Ulrich Wackerbarth

Nachgerade geärgert hat mich ein Beitrag von Thielemann in der FAZ vom 31.5., S.16, mit dem Titel „Was Finanzanalysten nie verstehen“. Thielemann wettert darin gegen übersteigertes Gewinnstreben (wer wollte nicht dagegen sein?), aber auch gegen einen Lehrbuchklassiker der BWL, den „Wöhe“, mit dem schon Generationen von Studenten das Handwerkszeug der Kauffrau gelernt haben. Er wirft den Autoren vor, mit ihrer eindimensionalen Grundhaltung der langfristigen Gewinnmaximierung eine den Menschen und die Gesellschaft korrumpierende Geisteshaltung zu fördern (zu ihr zu „ermuntern“). Das ist starker Tobak.

Shareholder Value

Nun bräuchte es mich als Jurist und Gesellschaftsrechtler kaum zu interessieren, wenn sich Wirtschaftswissenschaftler gegenseitig an den Kragen gehen. Aber in dem Beitrag verbergen sich unter dem Deckmantel der Wirtschaftsethik wissenschaftsfeindliche und m.E. nach gefährliche Aussagen, deren Konsequenzen auch Gesellschaftsrechtler fürchten müssen. Thielemann wendet sich z.B. unmittelbar gegen das „Primat der Anteilseigner“, auch Orientierung am shareholder value genannt. Nicht umsonst habe der Business Roundtable vergangenes Jahr dieses Prinzip aufgegeben.

Unternehmen auf den shareholder value zu verpflichten, bedeutet, einen Maßstab für das Verhalten der Unternehmensleitung zu haben, dem der Vorstand nicht oder nur schwer ausweichen kann. Demgegenüber bedeutet eine Ausrichtung am sog. stakeholder value die Erlaubnis zur Berücksichtigung von Interessen der Arbeitnehmer, der Gläubiger, der Umwelt usw. usf. Gilt als Maßstab nur dieser letztgenannte Standard, dann können sich Manager in jedem Einzelfall aus eventueller Kritik herausreden mit einem Verweis auf irgendeine der genannten Interessengruppen. Der „stakeholder value“ ist beliebig, eine Kontrolle von Vorstandshandeln wird mit ihm effektiv verhindert. Demgegenüber lässt der Gedanke des shareholder value den Managern weniger Freiraum für Selbstbereicherung und Verantwortungsverschieberei. Und wer weiß, vielleicht gefällt den im Business Roundtable versammelten Vorständen das Prinzip des shareholder value auch genau deshalb nicht mehr. Natürlich kann man diese Idee wie jede andere auch mißbrauchen. Das heißt aber nicht, dass sie jemals schlecht war oder ist.

Rhetorische Fragen, die selbst fragwürdig sind

Der zentrale Denkfehler im „Wöhe“ ist nach Thielemann schon dessen Ausgangspunkt. Dass Gewinnmaximierung Ziel der Eigenkapitalgeber sei, sei nach dem „Wöhe“ angeblich empirisch nachweisbar. Woher, fragt Thielemann, wissen die Autoren das? Schließlich gebe es keine empirischen Feldstudien dazu. Träfe die Grundannahme des Wöhe zu, so wären die Unternehmen alle bereits Maschinen zur Gewinnmaximierung und bräuchten den „Wöhe“ nicht, der es ihnen ja beibringen möchte. Woran nur waren die Unternehmen „vorher“ orientiert?

So einleuchtend all dies klingt, so fehlerhaft sind Thielemanns Schlussfolgerungen, so unberechtigt seine rhetorischen Fragen. Unternehmen können in Deutschland Gottseidank auch von Leuten gegründet werden, die den Wöhe vorher noch nicht gelesen haben. Trotz ihrer „Gier“ nach Gewinnen haben sie dann durchaus noch Optimierungsspielräume, so dass auch die Tipps zur Gewinnsteigerung aus dem „Wöhe“ bei ihnen noch fruchten könnten. Und wenn Peter Drucker sagt, Finanzanalysten verstünden nicht, dass Unternehmen nicht Geld machten, sondern Schuhe, so mag dies zutreffen. Es ändert aber nichts daran, dass man in der Betriebswirtschaft nun einmal weder die Qualität noch Schönheit von Schuhen messen kann, wohl aber die Rentabilität eines Unternehmens.

Gefährliche Großzügigkeit

Selbstverständlich dürfen Unternehmen auch nach Auffassung von Thielemann noch Gewinne erzielen, genauer: dürfen die Kapitalgeber eine „angemessene Risikoprämie“ auf ihr eingesetztes Kapital erwarten. Der Knackpunkt ist hier das Wörtchen „angemessen“. Denn es ist nicht definiert und niemand kann es intersubjektiv nachvollziehbar definieren. Wissenschaft geht anders. Am Ende wird wohl niemand anderes als Ulrich Thielemann (oder, Gott behüte, der Staat) bestimmen, wann es denn genug ist mit den Gewinnen. Die Denkweise Thielemanns führt damit geradewegs in die Planwirtschaft. Das hat der Wirtschaft noch nie gut getan.

Was Unternehmen tun „sollen“

Und auch wenn man mal unterstellt, die Angemessenheitsdefinition wäre möglich (quod non), so ist der damit verbundene moralische Anspruch, den Thielemann erhebt, seinerseits moralisch bedenklich. Es ist ein weit verbreitetes Missverständnis, das leider auch in vielfältigen Appellen von Politikern zum Ausdruck kommt: Unternehmen „müssen“ viele Arbeitsplätze schaffen, ökologisch nachhaltig handeln, ein „guter Staatsbürger“ (corporate citizenship) sein usw. usf. Das ist modern und läuft heute unter dem Stichwort ESG (environment, social, governance). Damit lenken die Fordernden nur vom eigenen Versagen ab. M.E nach muss ein Unternehmen mit so geringen Kosten und so wenig Arbeitnehmern wie möglich (!!!) seine Ziele verfolgen. Wenn es das tut, leistet es automatisch seinen maximalen Beitrag zum Gemeinwohl, denn dann kann es im Wettbewerb bestehen. Und es ist Aufgabe der Politik, der Richter und der Wissenschaft, dafür zu sorgen, dass ein Wettbewerbsumfeld und nachhaltige Rahmenbedingungen be- oder entstehen, so dass Monopolrenten der Unternehmen verhindert werden (hier und nur hier ist nämlich das „Zuviel“ an Gewinnen zu verorten, das Thielemann anprangert). Nur durch Wettbewerb entstehen Arbeitsplätze. Es ist eine öffentliche und keine private Aufgabe, dafür zu sorgen, dass gesetzliche Vorgaben bestehen, deren Einhaltung kontrolliert und durchgesetzt wird. Nur so kann den Unternehmen die Externalisierung von Kosten zulasten der Umwelt, der Verbraucher und des Klimas unmöglich gemacht werden. So sind die Verantwortlichkeiten verteilt und man kann mit Appellen nicht den Bock zum Gärtner machen.

Die Rechnung ohne den Wirt gemacht

Das geht auch schon deshalb nicht, weil ein Unternehmen sich in aller Regel im Wettbewerb befindet oder Wettbewerb entsteht, wenn Unternehmen nicht effizient arbeiten. Hält ein Unternehmer sich freiwillig an teure Vorgaben zur Bezahlung von Arbeitnehmern oder Einhaltung von Nachhaltigkeitsstandards, tun dies seine Wettbewerber aber nicht, wird der „Freiwillige“ bald insolvent, weil seine Wettbewerber Kostenvorteile erlangen. Dieser Zusammenhang wird von all denen übersehen, die meinen, es sei doch zumindest denkbar, dass der eine oder andere Unternehmer freiwillig tut, was er als gut und richtig erkennt. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Sind die Vorgaben für alle gleich und werden durchgesetzt, werden insbesondere Staatsanwälte oder die BAFin mit genügend gut ausgebildetem Personal und den notwendigen technischen und rechtlichen Mitteln ausgestattet, dann freuen sich die meisten Unternehmer auch über den Schutz der Umwelt und andere Vorgaben, weil sie wissen, dass nicht nur sie selbst, sondern auch der Wettbewerber die dafür notwendigen Kosten hat und erwirtschaften muss.

Wes Geistes Kind ….

Letztlich ist es eine psychologische Frage und am Ende eine des Menschen- und Weltbildes: Wovon gehe ich aus, wenn ich Erklärungen und Analysen liefere, wie sich betriebliche Abläufe optimieren lassen? Davon, dass die Menschen altruistisch handeln und zwar leben wollen, ihnen aber jede Gier fremd ist? Oder gehe ich vorsichtshalber von der Gier aus, sichere so das Überleben des Kaufmanns im Wettbewerb und freue mich dann, wenn dieser Zeit, Geld und die notwendige innere Haltung hat, um mit dem Erfolg seiner unternehmerischen Tätigkeit auch Versorgungsziele oder andere altruistische Zwecke zu verfolgen? Ganz abgesehen davon liegt der Vorwurf gegenüber dem „Wöhe“ auch inhaltlich neben der Sache: Selbst wenn er eindimensional wäre (was ich nicht weiß, da ich ihn nie gelesen habe), so spräche aus dieser Eindimensionalität nicht die verachtenswerte Verabsolutierung eines schädlichen Gewinnstrebens, sondern wissenschaftlicher Geist, der die Realität aus einer bestimmten Perspektive heraus analysiert und dabei konsequent ist.

Path dependency makes bad law

19. März 2021

von Ulrich Wackerbarth
Als Rechtswissenschaftler steht man ja eher an der Seitenlinie des Geschehens auf dem Platz und beobachtet mehr, als dass man eingreift (so sehr man es sich manchmal auch wünscht). Wenn man dies allerdings über einen längeren Zeitraum tut, bringt das Betrachten auch Positives mit sich: Z.B. kann manchmal einfache Erklärungen für richterliche Entscheidungen liefern, bei denen andere vielleicht Willkür oder Schlimmeres am Werk sehen.

Die hier beispielhafte Entscheidung ist die des BGH vom 22.9.2020, in der der Bankrechtsenat des BGH ein verbraucherrechtliches Widerrufsrecht eines Bürgen mit der Begründung abgelehnt hat, der Bürgschaftsvertrag sei kein entgeltlicher Vertrag iSd. § 312 Abs. 1 BGB. Er hat es darüber hinaus auch abgelehnt, die Rechtssache dem EuGH vorzulegen.

Diese Entscheidung ist ohne ausreichende Begründung ergangen, wie aktuell mit Recht und detailliert Knops in der JZ 2021, 299 ff. darlegt. Nicht nur (1) stimmt sie wertungsmäßig nicht, weil sie ein Widerrufsrecht des Verbrauchers gerade dann ablehnt, wenn – was über die Interessenlage bei Austauschgeschäften ja noch hinausgeht – es um ein einseitiges Geschäft zugunsten des Unternehmers (!) geht. Sie (2) übergeht auch sämtliche EU-rechtlichen Grundsätze zur Notwendigkeit einer Vorlage an den EuGH mit einer hanebüchenen Bezugnahme auf ein nicht einschlägiges, weil zu einer anderen Richtlinie ergangenes, und willkürlich herausgepicktes Urteil, das sich zur Frage der Widerruflichkeit einer Verbraucherbürgschaft überhaupt nicht äußert. Schließlich setzt sie sich (3) nicht mit der gerade anderslautenden ständigen Rechtsprechung des EuGH zu den Vorläuferrichtlinien der geltenden Verbraucherrechte-RiL 2011/83/EU auseinander (Knops, aaO, 304).

Die Ursache für diese falsche Entscheidung ist aber nicht etwa allzugroße Bankennähe des Bankrechtssenats oder welche sonstigen Verschwörungstheorien man dazu noch aufstellen mag. Die Ursache ist vielmehr ein vor 24 Jahren falsch eingeschlagener Weg, den der Bankrechtssenat offenbar unter keinen Umständen wieder verlassen mag („path dependency“). In den Jahren 1996 und 1997 entschied der BGH nämlich, dass ein Gesellschafter-Geschäftsführer als Verbraucher handele, wenn er einer Schuld „seiner“ GmbH beitrete (BGH v. 5.6.1996, NJW 1996, 2156 (VIII. Senat), BGH v. 25.2.1997, NJW 1997, 1443 (XI. Senat)). Diese Entscheidungen waren falsch, weil jedenfalls ein Allein- oder Mehrheitsgesellschafter aufgrund seiner Leitungsmacht die Geschäfte der GmbH als seine eigenen betrachten muss und damit weder nach damaliger Definition im VerbrKrG noch nach heutiger in § 13 BGB als Verbraucher handelt (so schon Wackerbarth, DB 1997, 1950 ff.), wenn er einer Schuld „seiner“ Gesellschaft beitritt.

Das führt natürlich zu einer Abgrenzung im Einzelfall: Der Fremdgeschäftsführer oder Minderheitsgesellschafter ist nicht in gleicher Weise in seine Gesellschaft involviert. Er ist dann tatsächlich Verbraucher, wenn er für Zwecke der Gesellschaft eine eigene Verpflichtung eingeht. Und bei Minderheitsgesellschafter-Geschäftsführern müsste man im Einzelfall genau hinschauen. Der BGH nimmt in vergleichbaren Fällen genau die von mir skizzierte Abgrenzung vor (so etwa im Rahmen des § 17 Abs. 1 S. 2 BetrAVG, wo es auch darauf ankommt, ob ein Gesellschaftsorgan die Gesellschaft als seine eigene betrachten muss oder nicht, s. ausf. Rolfs in Blomeyer/Rolfs/Otto § 17 BetrAVG Rn. 81-114). Mir hat nach dem Artikel von 1998 jemand gesagt, das sei ja alles gut und schön, man brauche aber im Verbraucherrecht einfache Abgrenzungen und damit sei meine Auffassung nicht vereinbar. So wünschenswert diese sein mögen (man könnte ja auf die zu § 17 BetrAVG entwickelten Fallgruppen zurückgreifen), so bedeutet die pauschale Verneinung eines näheren Hinschauens aus meiner Sicht bloße Bequemlichkeit.

Welche Folgen dies  hat, wird aber erst jetzt offensichtlich. Damals wurden mit der Rechtsprechung des BGH einfach nur Leute geschützt, die diesen Schutz nicht benötigten. Das war zwar wenig schön für die Banken auf der anderen Seite des Geschäfts; diese konnten sich indessen auf die Rechtlage einstellen. Der mit der aktuellen Entscheidung produzierte Folgefehler ist freilich deutlich ernster. Zwar ging es auch im aktuellen Bürgschaftsfall wieder um einen GmbH-Gesellschafter-Geschäftsführer. Mit dem Ergebnis im konkreten Fall, nämlich diesen nicht vor seinem unternehmerischen Handeln zu schützen, kann ich gut leben. Aber damit gleichzeitig alle Verbraucher-Bürgschaften schutzlos zu stellen und dies dann auch noch für europarechtlich unangreifbar zu erklären, das ist dann eben die unschöne Konsequenz eines vor einem Vierteljahrhundert eingeschlagenen (falschen) Weges.

Der Hauptzweck der Haftungskonzentration bei Partnerschaftsgesellschaften

7. Mai 2020

von Ulrich Wackerbarth

Von hinten durch die Brust – aber neben die Augen, so kommt mir der Beitrag von C. Schäfer in der NZG 2020, 401 ff. mit dem Titel „Aktuelle Fragen zur Haftung für Berufsfehler in der Partnerschaftsgesellschaft (PartG)“ vor. Vordergründig geht es Schäfer um ein aktuelles Urteil des BGH zur Haftung in der PartG, in Wahrheit aber um ein über 10 Jahre altes Grundsatzurteil zur Haftungskonzentration auf die „befassten Partner“ gem. § 8 Abs. 2 PartGG.

Der BGH führte in seinem Urteil aus dem Jahr 2009 aus, die Haftungskonzentration solle aus Sicht der Partner deren Rechts- und Planungssicherheit erhöhen und für die unbeteiligten Partner das Risiko der Inanspruchnahme minimieren. Zugleich sollte sie für den Geschädigten diejenigen als Haftungsadressaten zur Verfügung stellen, die sich für ihn erkennbar mit der Sache befasst haben. Daher hafteten auch solche Partner, die erst nach der Begehung des Fehlers mit dem Auftrag befasst wurden. Hört sich doch nachvollziehbar an, oder? Für mich jedenfalls, zumal die Zwecke auch so in der Gesetzesbegründung stehen.

Von hinten

Nicht aber für C. Schäfer: Er behauptet (aaO 402) zunächst, die Begründung des BGH sei zweigeteilt, der BGH rekurriere zunächst einmal auf allgemeine Grundsätze der Personengesellschaften, wenn es darum geht, dass Eintretende auch für Altverbindlichkeiten haften. Doch schon das ist nicht der Fall: in Rn. 15 stellt der BGH nicht auf allgemeine Grundsätze ab, sondern wiederholt in erster Linie den Gesetzeswortlaut des § 8 Abs. 1 S. 2 PartGG und dort ist diese Haftung für Altverbindlichkeiten nach § 130 HGB ausdrücklich angeordnet.Warum Schäfer das überhaupt erwähnt, bleibt zunächst dunkel. Denn sein eigentlicher Angriff zielt auf die erwähnte Ermittlung des Normzwecks des § 8 Abs. 2 PartG durch den BGH.

Durch die Brust

Zwar könne es ja sein, dass der Gesetzgeber (auch) die Haftungsdurchsetzung erleichtern wolle. Der Hauptzweck des § 8 Abs. 2 PartGG liege jedoch in seiner „haftungsbegrenzenden Wirkung“ durch Konzentration auf die befassten Partner (aaO 403). Woher Schäfer diese Qualifikation als Hauptzweck nimmt? Man weiß es nicht, er begründet es jedenfalls nicht.

Es folgt noch eine weitere Behauptung: An die „Befassung“ werde nur der leichteren Erkennbarkeit wegen angeknüpft, den Haftungsgrund bilde allemal der Berufsfehler selbst. Klar ist, gehaftet wird für einen Fehler. Indessen haften in jeder Personengesellschaft eben gem. § 128 HGB alle unbeschränkt haftenden Gesellschafter für alle Fehler, die der Gesellschaft zugerechnet werden – und das kann nun einmal auch bei solchen Fehlern der Fall sein, die sie nicht selbst verschuldet haben, sondern andere, vielleicht sogar nur ein Angestellter. Mit der Frage, wer gem. § 8 Abs. 2 PartGG von der Haftung ausgenommen wird, hat das nichts zu tun… Es passt indessen zur erwähnten Anordnung der Haftung für Altverbindlichkeiten nach § 130 HGB, wenn ein Partner neu in die PartG eintritt.

Damit ist die Argumentation auch schon wieder beendet. Mehr kommt nicht, auf über 6 Seiten NZG-Text, mit dem die angebliche Fehlerhaftigkeit einer bestätigten höchstrichterlichen Rechtsprechung aufgezeigt werden soll.

Konsequenzen

Was aus dem Normzweck Haftungsbegrenzung angeblich folgt, legt Schäfer dann klar dar (aaO 403): Wenn Haftgrund der Berufsfehler sei, dann dürften nur solche Partner haftbar sein, bei denen über die Befassung hinaus zumindest die Möglichkeit besteht, dass sie am Berufsfehler beteiligt waren. Und das sei nur der Fall, wenn der Fehler während ihrer Befassung geschehen sei. Folgte man dem, so hätte man in der Tat eine weitreichende Haftungsbegrenzung in der Partnerschaft, auch wenn es sich gerade nicht um eine PartG mbB handelt. Denn entgegen der ausdrücklichen Anordnung in § 8 Abs. 1 S. 2 PartGG hafteten neu eintretende Partner eben nicht nach § 130 HGB für Altverbindlichkeiten, wenn der Fehler vor ihrem Eintritt geschah. Ausscheidende Partner hafteten entgegen § 10 Abs. 2 PartG nicht gem. § 160 HGB noch 5 Jahre für Altverbindlichkeiten, wenn der Fehler erst nach ihrem Ausscheiden geschah. Das kann nicht richtig sein. Aber damit nicht genug; innerhalb der Partnerschaft könnten Mandate – solange noch kein Fehler geschehen ist – trotz Befassung haftungsbefreiend an andere Partner übergeben werden, ein Ergebnis, das mit der Formulierung des § 8 Abs. 2 auf Kriegsfuß steht und der BGH in der aktuellen Entscheidung aus 2019 deshalb abgelehnt hat. An der früheren Befassung des übergebenden Partners ändert die Übergabe nichts.

Schäfer meint indessen, insoweit komme es nur auf die Erkennbarkeit der Übergabe für den Geschädigten an. Das heißt aber: Wird ihm schriftlich mitgeteilt, das Mandat sei von Partner X an Partner Y übergeben worden, dann könnte X für spätere Fehler des Y mangels Befassung nicht haftbar sein. Damit würde PartG ein denkbar einfaches Mittel in die Hand gegeben, der Befassungshaftung mehrerer Partner zu entkommen: sie müssten nur dafür sorgen, dass dem Mandanten/Auftraggeber stets ein einziger Verantwortlicher mitgeteilt wird. Soll der doch mal nachweisen, dass das intern anders geregelt war. Schon diese Überlegungen zeigen, dass dieses Verständnis von § 8 Abs. 2 PartGG nicht trägt.

Weitere Gegenargumente

Von der Notwendigkeit einer Befassung im Zeitpunkt des Berufsfehlers steht nichts in § 8 Abs. 2 PartGG, vielmehr liest sich § 8 Abs. 2 PartGG für einen unbefangenen Leser (und ganz offenbar auch für den BGH) als Ausnahme vom Grundsatz der gesamtschuldnerischen Haftung aller Partner, der in § 8 Abs. 1 PartGG festgehalten ist. Nach dem Grundsatz „singularia non sunt extendenda“ hätte der von Schäfer geforderte zeitliche Zusammenhang im Gesetz zumindest angedeutet sein müssen. Davon abgesehen lässt sich dieses Zeitmoment mitnichten aus der „Haftungsbegrenzung“ als dem von Schäfer behaupteten „Hauptzweck“ der Haftungskonzentration ableiten. Denn aus dem Zweck „Haftungsbegrenzung“ folgte nichts für die Art und Weise, wie diese erfolgt. Der zeitliche Zusammenhang ist aber nur eine von vielen denkbaren Arten.

Das Zeitmoment ist zudem denkbar ungeeignet: was ist mit Fehlern, die schon begangen sind, deren Auswirkungen aber ein neu eintretender bzw. befasster Partner noch vermindern kann? Man denke an eine fehlerhaft, weil unschlüssig erhobene Klage aus einem Dauerschuldverhältnis, mit der der Anwalt für bestimmte Zeiträume in der Vergangenheit bereits Verjährung hat eintreten lassen, für andere aber noch nicht: Der Fehler ist schon begangen, soll der neu befasste Partner nun haftungsfrei bleiben, auch wenn er die Auswirkungen (durch neuen, schlüssigen Sachvortrag) noch minimieren könnte? Oder soll gar der alte Partner (insoweit) haftungsfrei werden, weil die Schadensminimierung nach der Übergabe des Mandats allein dem neu befassten Partner oblag? Tritt mit solchen Unwägbarkeiten nicht genau die unübersichtliche Haftungssituation ein, vor der der Gesetzgeber den Geschädigten mit dem Abstellen auf die Befassung gerade bewahren wollte? Was ist mit Fehlern, die in einer dauerhaften Unterlassung bestehen? Soll dem Geschädigten wirklich zugemutet werden, den entstandenen Schaden je nach Zeitdauer der Befassung unterschiedlichen Partnern zuzurechnen und sie dann nicht als Gesamtschuldner, sondern jeweils gesondert auf Teile des Schadens in Anspruch nehmen zu müssen?

Die Auffassung Schäfers führt letztlich zu untragbaren Ergebnissen. Der in Anspruch genommene Partner könnte wörtlich sagen: „Haftung? Nö, dafür hatte ich keine Zeit…“

„Aktientipps für Philosophen“ oder: Warum so viele Worte?

30. Dezember 2019

von Ulrich Wackerbarth

Rainer Hank vermutet heute in der FAZ am Sonntag (S. 20) unter dem Titel „Aktientipps für Philosophen“, die Deutschen kauften möglicherweise keine Aktien, weil sie glaubten, zu wenig davon zu verstehen. „Nichts zu wissen“ helfe aber ungemein, um mit Aktien reich zu werden. Ich glaube ihm nicht. Die Deutschen kaufen keine Aktien, weil sie ganz genau wissen, dass unser Aktienrecht sie nicht hinreichend schützt. Auch wenn in diesem BLawG schon oft erklärt, möchte ich diese Behauptung an zwei hoffentlich einfachen und selbst für Philosophen einsichtigen Beispielen erneut verdeutlichen:

1. Die einfache Jagdgesellschaft

Eine Jagdgesellschaft bestehe aus 9 Personen. Zwei von ihnen bleiben im Lager, suchen Feuerholz und bereiten den Grill vor. Vier treiben das Reh in die richtige Richtung. Drei Jäger warten an unterschiedlichen Stellen mit gespanntem Bogen. Sobald das Reh in die Nähe kommt, schießen zwei ihre Pfeile, aber nur einer der beiden trifft tödlich. Zu dritt kann aber das schwere Tier ins Lager gebracht werden.

So, wer kriegt jetzt was? Da alle mitgemacht haben und jeder seinen Beitrag geleistet hat, wird das Reh gerecht geteilt.  Was indessen in einer Gesellschaft nicht geschieht, ist, dass der erfolgreiche Schütze das Tier für sich behält. Greift er es sich gleichwohl in der Absicht, es allein für sich zu haben, werden die anderen ihm dies mit Recht verbieten bzw. ihm das Reh aus der Hand schlagen.

2. Die etwas komplexere Jagdgesellschaft

Nun stellen wir uns die gleiche Jagd etwas komplizierter vor: Das Jagdgebiet, ein Wald, gehört einer Gesellschaft, die aus drei Personen besteht, 2 von ihnen haben für den Erwerb des Waldes jeweils 500.000 Euro beigesteuert, einer 1,5 Mio. Euro. Dementsprechend sind die Stimmrechte verteilt: 1:1:3. Der Wald wird nun Dritten für die Jagd wie oben beschrieben zur Verfügung gestellt. Diese zahlen dafür ein Entgelt. Am Jahresende hat die Gesellschaft einen Gewinn von 250 000 Euro gemacht. Dieser wird entsprechend den Kapitaleinlagen geteilt. Zwei Gesellschafter bekommen also jeweils 50.000 €, der dritte 150.000 €. So weit, so normal.

Will nun aber der Dritte Gesellschafter mehr als die ihm zustehenden 150.000 €, indem er z.B. mit seinen Stimmen (3 : 2) eine abweichende Gewinnverteilung beschließt, so kann ihm das nicht erlaubt sein. Auch wenn er der Meinung ist, er hätte mehr als bloß seinen Kapitalanteil zu dem erwirtschafteten Gewinn beigetragen, ihm stünde also mehr zu, ändert sich erst einmal nichts: Er mag einen erhöhten Gewinnanteil mit den anderen Gesellschaftern aushandeln (vielleicht hat er gute Gründe und sie stimmen zu), er kann ihn aber nicht nachträglich mit seinen Stimmen beschließen. Ein insoweit bestehendes Stimmverbot ist selbstverständlich.

3. Das Stimmverbot bei Insichgeschäften

Dieses Stimmverbot muss genauso gelten, wenn der Mehrheitsgesellschafter statt der von ihm gewollten anderen Gewinnverteilung einfach mit seiner Stimmenmehrheit beschließt, der Jagdgesellschaft irgend etwas zu überhöhten Preisen zu verkaufen, da dies nur ein anderer Weg wäre, das angestrebte Ziel zu erreichen und – selbstverständlich – den übrigen Gesellschaftern Mittel in die Hand gegeben werden müssen, dies wirksam zu verhindern. Oder mit den Worten des § 705 BGB: „die Gesellschafter [verpflichten sich], die Erreichung eines gemeinsamen Zweckes in der durch den [Gesellschafts-] Vertrag bestimmten Weise zu fördern.“ Die Gesellschafter sollen also gefälligst zusammenarbeiten. Sie sollen sich an die getroffenen Vereinbarungen halten, auch was die Gewinnverteilung angeht. Wenn einer sich mehr nehmen will, als vertraglich vereinbart war, dann müssen die anderen das wirksam verhindern können.

Das ist doch auch in dieser etwas komplexeren Variante nicht so schwer einzusehen, oder etwa doch?

4. Die vielen Worte der Aktionärsrechterichtlinie

Wenn das so einfach ist, warum dann in aller Welt benötigt die überarbeitete Aktionärsrichtlinie so viele Worte, Sätze und Absätze in Art. 9c, mit wortreich beschriebenen und gerade deshalb immer noch ein wenig unklareren Verfahren, Regeln und Ausnahmen, um diese Selbstverständlichkeit auszudrücken? Warum streitet man sich in Europa jahrelang über die Formulierung dieses entscheidenden Teils der Richtline?

Die Antwort ist nicht schwer: weil sich seit über 100 Jahren eine Pseudo-Elite (die glaubt, ihr stehe mehr zu als ihr rechnerischer Anteil) nicht an die einfachsten Regeln halten will, die das Funktionieren von Gesellschaften ermöglichen. Schutzinstrumente, die verhindern, dass die Kleineren von den Größeren übervorteilt werden, werden durch erfolgreiche Lobbyarbeit in umständliche Verfahren eingewebt und ihrer Funktion beraubt, damit die Großaktionäre und Mehrheitsgesellschafter dieser Welt sich einen noch größeren Teil vom Kuchen nehmen können als sie ohnehin schon haben. Die Deutschen hatten an der Verunklarung der Richtlinie übrigens einen ganz besonders großen Anteil. Und selbst über das wenige, was geblieben ist, fallen sie wie die Aasgeier her und versuchen, dem Schutz noch die geringste Wirksamkeit zu nehmen. Erfolgreich, wie man an der deutschen Umsetzung der Richtlinie sieht (siehe dazu meinen Beitrag hier).

Und dann liest man in der aktuellen FAZ, dass gar nicht verständlich sei, warum die Deutschen keine Aktien kaufen. Es ist ganz einfach: Schützt den Kleinaktionär vor unfairer Ausbeutung, dann kaufen die Deutschen auch Aktien! Aber vermutlich wird es eher andersherum laufen: Erst wenn die Niedrigzinspolitik dafür gesorgt hat, dass genügend Aktionäre vorhanden sind, wird der Ruf nach einem angemessenen Schutz nicht mehr überhört werden können.

5. Zum Schluss

Der Schriftsteller George Orwell, ein Philosoph, der nicht gerade für seine besonders optimistische Weltsicht bekannt ist, hat in seinem Werk „1984“ gesagt:

„Freiheit ist die Freiheit zu sagen, dass zwei plus zwei vier ist. Wenn das gewährt ist, folgt alles weitere.“

Ich glaube, Orwell hat dabei die Schweine aus seiner „Animal Farm“ vergessen: Wenn es ihnen gegen den Strich läuft, dann verbieten sie vielleicht nicht, 2 und 2 zusammenzuzählen und 4 zu rufen. Sie sind aber durchaus in der Lage, die daraus folgenden Konsequenzen („alles weitere“) zu verzögern, sie an komplexe Verfahren zu binden und durch wortreiches Brimborium den Kern der Wahrheit bis zur Unkenntlichkeit zu verstümmeln. Wieviel Freiheit dann noch bleibt, darf sich jeder selbst ausrechnen – wenn er noch zwei und zwei zusammenzählen kann.