Existenzvernichtungshaftung und Dominoeffekt oder: wir spielen „stille Post“

von Ulrich Wackerbarth

Es ist schon verwunderlich, welche Wege eine richterliche Rechtsfortbildung manchmal nehmen kann. Beispiel: die Haftung von (insbesondere) GmbH-Gesellschaftern wegen eines von der Rechtsprechung sogenannten existenzvernichtenden Eingriffs. Diese Haftung hat der zweite Senat nach Vorüberlegungen seines ehemaligen Vorsitzenden Röhricht erfunden, weil das gesetzliche System der Eigenkapitalerhaltung für den Gläubigerschutz im GmbH-Recht nicht ausreiche. Hauptanlass war die (zutreffende oder unzutreffende) Erkenntnis, dass mancher Vermögensentzug bei der GmbH Folgeschäden auslöst, die durch bloße Rückzahlung des entzogenen Vermögens (wie sie das Kapitalerhaltungsrecht anordnet) nicht voll kompensiert werden können. Beispiel: Der GmbH werden 50.000 € entzogen, deshalb ist sie nicht liquide, kann keine Rohstoffe kaufen, keine Produkte herstellen und keinen Gewinn machen, insgesamt ensteht ihr so ein weit höherer Schaden als die 50.000 €, möglicherweise wird sie deshalb insolvent. Der Vermögensentzug löst also einen Dominoeffekt aus und genau dieser Dominoeffekt stellt die Rechtfertigung dafür dar, den Gesellschafter wegen Existenzvernichtung unbegrenzt (!) für die Schulden seiner Gesellschaft haften zu lassen.

Im Juli 2007 hat der Gesellschaftsrechtssenat diese Haftung um eine weitere Voraussetzung ergänzt und mit § 826 BGB begründet: Der Gesellschafter muss vorsätzlich gehandelt haben und die Schädigung muss sich als sittenwidrig darstellen. Das Erfordernis eines Dominoeffekts hat er jedoch nicht aufgegeben: In Rn. 24 des Urteils heißt es:

„Ausgangspunkt … ist … eine Lücke im Kapital-schutzrecht der GmbH in Bezug auf derartige Eingriffe des Gesellschafters, die nicht oder nicht in vollem Umfang durch die §§ 30, 31 GmbHG ausgeglichen werden können. Dabei handelt es sich namentlich um solche Eingriffe des Gesellschafters, die als solche oder deren Folgen in der für § 30 GmbHG maßgeblichen Stichtagsbilanz zu fortgeführten Buchwerten nicht oder nur ungenügend abgebildet werden, so dass die Schutzfunktion der Kapitalerhaltungsvorschriften von vornherein versagt; ferner geht es um solche Eingriffe, bei denen eine Rückgewähr nach § 31 GmbHG allein die Insolvenz nicht mehr zu beseitigen vermag.“

Der Eingriff muss also bei der GmbH über den Vermögensentzug hinausgehende Folgeschäden verursacht haben.

Nunmehr richtet der Insolvenzsenat des BGH jedoch ganz anders: In seinem Urteil vom 13.12.2007 (heute veröffentlicht) subsumiert er einen Vermögensentzug eines Gesellschafters unter die Haftung für existenzvernichtende Eingriffe kurz und bündig, ohne einen Dominoeffekt festzustellen:

„Nach diesen Maßstäben ist der Beklagte der Schuldnerin gemäß § 826 BGB wegen Existenzvernichtung zur Schadensersatzleistung verpflichtet. Der Beklagte hat im Insolvenzverfahren selbst eingeräumt, dass die Schuldnerin bereits in dem Zeitpunkt überschuldet war, als er die ihn begünstigenden Zahlungen beschlossen und veranlasst hat. Die – wie der vereinbarte Vorrang gegenüber sonstigen Verbindlichkeiten der Gesellschaft belegt – gerade auch für den Fall einer Krise vorgesehene zusätzliche Vergütung des Beklagten war jedenfalls unzulässig, weil der Schuldnerin als Gegenleistung keine Vorteile zugeflossen waren (vgl. BGHSt 50, 331, 337 „Mannesmann“), sondern der Beklagte das Unternehmen vielmehr in die Insolvenz geführt hatte. Da folglich die Insolvenz der Schuldnerin vertieft wurde, liegt in den von einem einheitlichen Willensentschluss des Beklagten getragenen Zahlungen eine Existenzvernichtung. Der von § 826 BGB vorausgesetzte Vorsatz ist über die Schädigung der Schuldnerin hinaus auch im Blick auf das Merkmal der Sittenwidrigkeit gegeben: Denn dem Beklagten waren die Tatsachen – der betriebsfremden Zwecken dienende Entzug von Gesellschaftsmitteln zum Nachteil der Gesellschaftsgläubiger – bekannt, aus denen das Verdikt der Sittenwidrigkeit hergeleitet wird (BGH, Urt. v. 16. Juli 2007 aaO, S. 2692).“

Mehr als eine verbotene Zahlung aus dem Vermögen der GmbH an den Gesellschafter stellt der IX. Senat hier nicht fest. Dass diese zurückgewährt werden muss, ist zweifelsfrei. Dass der Gesellschafter deshalb aber gleich aus § 826 BGB unbegrenzt (!) in Anspruch genommen werden können sollte, ist damit keineswegs geklärt.

Vielleicht glaubt der IX. Senat, es reiche schon aus, dass die GmbH im Zeitpunkt der Zahlungen schon insolvent war. Doch will der II. Senat mit der Alternative Insolvenzvertiefung nur einer Verteidigungslinie des Gesellschafters vorbeugen, die die Kausalität des Eingriffs für die Vernichtung der Gesellschaft leugnet. Folgeschäden muss auch ein Vermögensentzug bei der bereits überschuldeten GmbH haben, sonst gibt es keine Begründung, den Gesellschafter unbegrenzt haften zu lassen.

Man hat den Eindruck, hier gehen wesentliche Tatbestanselemente einer (vielleicht zu komplizierten) richterlichen Rechtsfortbildung verloren, sobald sie von anderen Senaten angewendet werden sollen. Das erinnert an das Kinderspiel „stille Post“.

3 Reaktionen zu “Existenzvernichtungshaftung und Dominoeffekt oder: wir spielen „stille Post“”

  1. D. Eckardt

    Da kann man Ihnen, was die Fallgruppe der Existenzvernichtungshaftung mit ihrer spezifischen weiten Haftungsfolge angeht, nur beipflichten.

    Aber für einen „schlichten“ § 826 BGB wegen gläubigerbenachteiligender Vermögenschiebungen unter zusätzlichen (über die Anfechtungsvoraussetzungen hinausgehenden) sittenwidrigkeitsbegründenden Umständen reicht es doch trotzdem noch, oder? Mehr als die Rückzahlung der geflossenen Geldsumme war im konkreten Rechtsstreit ja auch gar nicht beantragt worden.

  2. Ulrich Wackerbarth

    Hallo Herr Eckardt,
    ich glaube nicht, dass die Feststellungen für § 826 BGB ausreichen. Der Entzug von Gesellschaftsvermögen einer bereits überschuldeten Gesellschaft zum eigenen Vorteil ist genau das, was die Anfechtungsvorschriften in der Insolvenz mit detaillierten Einzeltatbeständen bekämpfen und rückgängig machen sollen. Man braucht ein darüber hinausgehende Element, um die Sittenwidrigkeit begründen zu können. Dieses könnte man allenfalls in den nicht kompensierbaren Folgeschäden, also dem Dominoeffekt sehen, aber gerade der war hier ja nicht festgestellt.

  3. D. Eckardt

    Ich würde schon annehmen, dass es „reicht“.

    Einig sind wir uns im Ausgangspunkt: Bei Geschäften, die ihrer Struktur nach unter einen Anfechtungstatbestand fallen können, kommt eine Unwirksamkeit wegen Sittenwidrigkeit des Geschäfts nur dann in Betracht, wenn über den Tatbestand der Anfechtungsnorm hinaus weitere besondere Umstände hinzutreten, die die Annahme der Sittenwidrigkeit rechtfertigen. Einig sind wir uns wohl auch darin, dass die Subsumtion mit Unsicherheiten behaftet ist: Leider hat sich der für das Insolvenz- und Anfechtungsrecht zuständige IX. Senat des BGH der Bildung klar umgrenzter Fallgruppen mit definierten Voraussetzungen, wie sie etwa der II. Senat für die Existenzvernichtungshaftung erarbeitet hat, gerade hier weitgehend verweigert. Dies hat aus Sicht des BGH seine Vorteile, indem es Umgehungsgeschäften vorbeugt und dem Gericht die gerechte Einzelfallentscheidung erleichtert, erweist sich aber für die Rechtssicherheit doch zunehmend als nachteilig. Trotz einer beträchtlichen Zahl an in den letzten Jahrzehnten zu dieser Konkurrenzfrage ergangenen höchstrichterlichen Entscheidungen ist deshalb nur in Umrissen klar, was der BGH sich unter solchen besonderen Umständen vorstellt. Bezogen auf die „Ober-Fallgruppe“ der Gläubigerschädigung kann ein solches überschießendes Sittenwidrigkeitsmoment hiernach etwa in einem kollusiven Zusammenwirken von Anfechtungsgegner und Schuldner liegen (vgl. zuletzt BGHZ 130, 314, 330f.; BGH NJW 1996, 2231, 2232; BGHZ 143, 246 = NJW 2000, 1259, 1263), nach einzelnen Entscheidungen aber auch in der „Planmäßigkeit“, mit der sich der Schuldner seines gesamten Vermögens zugunsten eines Dritten entäußert (BGH, NJW 1973, 513). Beides verknüpft der BGH in seiner letzten einschlägigen Entscheidung (BGHZ 162, 143). In die gleiche Richtung geht auch die schon mehrfach verwendete Formulierung, solche erschwerenden Umstände könnten vorliegen, wenn der Schuldner und sein eingeweihter Ehegatte planmäßig zusammenwirken, um das pfändbare Schuldnervermögen dem Zugriff von Gläubigern zu entziehen (BGHZ 130, 314, 331; BGH, NJW 1996, 2231, 2232; BGHZ 143, 246).

    Auf dieser Grundlage wäre es aber m.E. ein klarer Wertungswiderspruch, den planmäßigen und/oder kollusiven Vermögenstransfer zugunsten eines Dritten, insbesondere der Ehefrau, als „zusätzliches sittenwidrigkeitsbegründendes Moment“ anzusehen, nicht aber den hier vorliegenden Fall der planmäßigen (Selbst-)Begünstigung des Alleingesellschafters und -geschäftsführers bei einer GmbH; hier greift für meine Begriffe sogar ein argumentum a fortiori.

    (Unter methodischem Aspekt sind alle diese Konstellationen eines angeblich „überschießenden“ Sittenwidrigkeitsmoment zwar auch nach meiner Ansicht ganz unzureichend begründet – es geht hier nicht um zusätzliche Momente i.S. eines qualitativen Mehr oder Aliud gegenüber dem Normalfall anfechtbaren Rechtserwerbs, sondern über ein rein quantitatives Plus i.S. eines gläubigerbenachteiligenden Handelns besonderer Intensität. Gleichwohl ist für die Praxis von dieser Rechtsprechung auszugehen, und es entspricht auch der praktischen Erfahrung mit derartigen Fällen, dass die Gerichte bis hin zum BGH die Gelegenheit nutzen, um Gerechtigkeitsdefizite zu beheben, die sich aus den gesetzlichen Grenzen der Anfechtungsansprüche zu ergeben scheinen.)

    Viele Grüße, D. Eckardt