Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung oder: wie EU-Recht Lücken reißt

von Ulrich Wackerbarth

Interessante Überlegungen zur Reichweite und zu den Konsequenzen des „Quelle“-Urteils des EuGH v. 17.4.2008 stellt Mörsdorf in der aktuellen ZIP 2008, 1409ff. an. Es geht um den Backofenfall, in dem der EuGH den angeblich gem. § 439 Abs. 4 iVm. § 346 Abs. 1 BGB geschuldeten Nutzungsersatz für die zeitweise Nutzung einer mangelhaften Kaufsache durch den Käufer als richtlinienwidrig abgetan hat. Ich hatte bereits in diesem Blog dargelegt, dass eine richtlinienkonforme Auslegung des § 439 Abs. 4 BGB durchaus möglich ist, aaO. S. 1415. Indes meint Mörsdorf zunächst, für die Sicht des BGH (eindeutiger Wortlaut des § 439 Abs. 4 BGB) spreche der in § 439 Abs. 4 BGB enthaltene Verweis auf die Vorschriften der §§ 346 bis 348. Damit nehme der Gesetzgeber ausdrücklich auch auf § 347 BGB Bezug, der sich ausschließlich mit dem Nutzungsersatz beschäftige. Das ist jedoch falsch, weil sich § 347 Abs. 2 nicht mit dem Nutzungs-, sondern mit Verwendungsersatz für den Käufer beschäftigt. Auch ohne Nutzungsersatz behält der Verweis auf § 346 – § 348 BGB also seinen Sinn. Der BGH hätte sich das ganze Theater vor dem EuGH sparen können.

Aber ähnliche Fragen können auch an anderen Stellen des BGB auftreten. Von daher sind die nachfolgenden Überlegungen von Mörsdorf aaO. S. 1415 durchaus spannend, wenn es wirklich einmal einen eindeutig mit einer Richtlinie nicht vereinbaren Wortlaut nationalen Rechts gibt. Mörsdorf meint, das Gebot richtlinienkonformer Auslegung könne selbst bei einer solchen Wortlaut-Unvereinbarkeit berücksichtigt werden, und zwar im Wege der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung. Diese ermögliche nämlich Analogie oder teleologische Reduktion auch dann, wenn nach nationalem Recht die für die Analogie erforderliche planwidrige „Lücke“ bzw. der für die Reduktion erforderliche planwidrige „Überschuss“ (auch verdeckte Lücke genannt) gerade fehlt. Das europäische Recht reißt dann sozusagen eine Lücke ins nationale Recht. Nur bei ausdrücklicher Umsetzungsverweigerung des nationalen Gesetzgebers (die nicht die Regel ist) gehe das nicht an. Diesen Überlegungen ist zuzustimmen. Für den konkreten Fall bedeutet das: Da der deutsche Gesetzgeber sich nur geirrt hat und die Richtlinie mißinterpretiert hat, ihr jedoch nicht die Gefolgschaft verweigern wollte, ist § 439 Abs. 4 BGB jedenfalls teleologisch dahingehend zu reduzieren, dass der darin enthaltene Verweis auf Nutzungsersatz bei Rückgabe der mangelhaften Sache entfällt.

Interessant ist auch eine weitere von Mörsdorf aufgeworfene Frage: Gilt das Gebot richtlinienkonformer Rechtsfortbildung nur für die auch von der Richtlinie erfassten Kaufrechtsfälle oder muss man künftig zu einer gespaltenen Auslegung kommen? Dann wäre außerhalb des Verbrauchsgüterkaufs doch Nutzungsersatz zu leisten, wei der BGH ja (wie oben gezeigt, zu Unrecht) den Verweis in § 439 Abs. 4 BGB für eindeutig hält. Die von Mörsdorf dafür angebotene Abwägung ist nachvollziehbar (aaO. S. 1416f.): Es muss von Fall zu Fall entschieden werden, ob der Gesetzgeber eher eine einheitliche Regelung für alle Konstellationen wollte (dann einheitliche Auslegung) oder ob er der Richtlinie nur so weit wie nötig folgen wollte (dann gespaltene Auslegung).

„Im Zusammenhang mit der überschießenden Umsetzung der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie spricht aber viel dafür, dass dem deutschen Gesetzgeber in erster Linie an einer grundsätzlich einheitlichen Regelung des deutschen Kaufrechts gelegen war, während die rechtspolitischen Argumente des Gesetzgebers für die Verpflichtung des Käufers zur Zahlung einer Nutzungsvergütung zumindest teilweise dessen nun durch den EuGH offen gelegten Fehlvorstellungen über die diesbezüglichen Vorgaben des Art. 3 Abs. 3 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie geschuldet waren.“

Zu Recht erwartet Mörsdorf mangels Entscheidungserheblichkeit keine Klärung dieser Frage im weiteren Verfahren vor dem BGH. Der BGH täte jedoch gut daran, seine Meinung obiter kundzutun, um Rechtssicherheit für zu erwartende Rechtsstreitigkeiten zu schaffen.

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