Wissenschaftsstreit um Wortlaut und Willen
von Ulrich Wackerbarth
In der aktuellen JZ streiten Höpfner (JZ 2009, 403ff.) und Möllers (JZ 2009, 405f.) um die Zulässigkeit der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung. Es geht – wie könnte es anders sein – um die Entscheidung des BGH v. 26.11.2008 zur Frage des Nutzungsersatzes bei Nachlieferung (§ 439 Abs. 3 BGB). Das Verfahren führte zur Einfügung des § 474 Abs. 2 S. 1 BGB, siehe dazu hier. Höpfner lehnt die Möglichkeit ab, eine konkrete Sachentscheidung des nationalen Gesetzgebers unter Hinweis auf entgegenstehendes Richtlinienrecht und einen allgemeinen Umsetzungswillen des Gesetzgebers rechtsfortbildend abzuändern, Möllers meint dagegen, das gehe durchaus.
Beide aber scheinen sich einig zu sein, dass man nicht allzuviel Wert auf den Wortlaut der auszulegenden oder fortzubildenden Norm legen sollte. Insbesondere Höpfner betrachtet den Wortlaut lediglich als ersten Ansatzpunkt zur Ermittlung des Willens des Gesetzgebers. Vor allem auf den historischen Normzweck komme es an. Einen „eigenen Willen des Gesetzes“ lehnt er rundheraus ab. Das enthält eine gute und eine schlechte Nachricht für alle Jura-Studenten und Rechtsanwender. Die gute Nachricht: Wenn sie den Willen des historischen Gesetzgebers kennen, brauchen sie sich nicht mehr an das gesetzte Wort zu halten. Die schlechte: Das Gesetz und das erlernte juristische Handwerkszeug helfen dem Rechtsanwender nicht mehr, künftig benötigen insbesondere die Studenten in den Klausuren neben dem Gesetz selbst auch noch sämtliche Gesetzesmaterialien.
Ich halte eine solche Vorstellung nicht nur für falsch, sondern für höchst gefährlich. Warum sollen Rechtsanwender künftig noch die genauen Tatbestandsvoraussetzungen einer Norm ermitteln und den Sachverhalt unter die Norm subsumieren? Wozu noch die Rechtsfolgenanordnung der fraglichen Vorschrift genau beachten? Man schaue einfach nur in die Gesetzesmaterialien und erkenne, was der Gesetzgeber „wirklich wollte“ und schon kann man machen, was man will.
Dass Rechtsnormen niemals eindeutig seien, kann ich vielleicht noch unterschreiben. Sie sind dies aber nicht „wie andere Texte auch“ (Höpfner/Rüthers, AcP 2009, 1, 10), sondern angesichts des von Juristen durchlaufenen Studiums in einem deutlich geringeren Maße als andere Texte. Der Wille des historischen Gesetzgebers und auch der historische Normzweck sind nur zwei von mehreren Aspekten bei der Auslegung von Gesetzen. Der Wortlaut eines Gesetzes enthält durchaus Grenzen. Der Gesetzgeber kann etwas gewollt und es tatsächlich aber nicht angeordnet haben. Wenn der Wortlaut einer Norm das Gewollte nicht (ausreichend) andeutet, dann hat das Gesetz Vorrang vor dem historischen Willen des Gesetzgebers – und nicht andersherum.
Man kann sogar noch etwas weitergehen: Die geltenden Gesetze stammen von unterschiedlichen Gesetzgebern mit unterschiedlichen Willen. Sie enthalten unterschiedliche – sich teilweise überlagernde und widersprechende – Wertungen oder Rechtsgedanken, und zwar in insgesamt nicht geringer Zahl. Der Richter, der sich mit der Rechtslage (und nicht nur einer einzelnen Norm) auseinanderzusetzen hat, muss die Einheit der Rechtsordnung wahren und die unterschiedlichen Wertungen in ihrer Gesamtheit (1) feststellen, also zur Kenntnis nehmen (2) ihre jeweilige Reichweite klären und (3) Widersprüche zwischen Wertungen und Überschneidungen mit anderen Wertungen in einer Art und Weise beseitigen, die (4) sämtlichen vorhandenen Rechtsgedanken ein möglichst breites Anwendungsfeld eröffnet. Damit ist es unvereinbar, so wie Höpfner es offenbar aber will, einer konkreten Sachentscheidung eines historischen Gesetzgebers isoliert zur Durchsetzung zu verhelfen. Ein historischer Gesetzgeber, der sich bei seiner Sachentscheidung nicht oder nicht ausreichend mit widersprechenden oder überlagernden Wertentscheidungen früherer oder anderer Gesetzgeber auseinandergesetzt hat (so wie der Schuldrechtsreformgesetzgeber bei der Schaffung des § 439 Abs. 4 BGB, vgl. noch einmal hier) und darüber hinaus keine vom Wortlaut her eindeutige Anordnung getroffen hat, hat seinerseits keinen Anspruch darauf, dass der Richter seinem historischen Willen nur deshalb zur Geltung verhilft, weil er zufällig der bislang letzte gewesen ist, der sich mit einem bestimmten Thema oder einer Rechtsfrage auseinandergesetzt hat.
Wirklich schlimm an der Entscheidung des BGH vom 26.11.2008 ist nicht, wie Höpfner es uns weismachen will, dass der VIII. Senat hier seine begrenzte Befugnis zur Rechtsfortbildung überschritten hat, indem er die Richtlinie zur Feststellung einer Lücke im Gesetz benutzt hat (was er nicht dürfe). Vielmehr ist der Senat seiner eigentlichen Aufgabe, nämlich der Auslegung des Gesetzes nicht in dem erforderlichen Maße nachgekommen: Er hat nicht ernsthaft genug geprüft, ob § 439 Abs. 4 tatsächlich – wie vom Gesetzgeber gewollt, aber vom VIII. Senat mit guten Argumenten für falsch gehalten – die Herausgabe von Nutzungen anordnet. Die weiteren Argumente des BGH tragen seine anschließende Feststellung nicht, es handele sich um einen eindeutigen Wortlaut, der der Auslegung (zunächst; sozusagen vor der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung) Grenzen aufgebe. Diese weiteren mangelhaften Argumente aus dem Vorlagebeschluss wiederholt der VIII. Senat unbeeindruckt in seiner aktuellen Entscheidung in Tz. 20. Offenbar ging es dem BGH nur um die abstrakte Klärung einer Frage des Verhältnisses zwischen nationalem und europäischen Recht.
Nach Einfügung des § 474 Abs. 2 S. 1 in das BGB ist die Rechtslage nunmehr klar, was übrigens allein an dem Wortlaut dieser Vorschrift liegt. Die guten Argumente, die der BGH hatte, um die Vorschrift des § 439 Abs. 4 für sämtliche Verträge zwischen Privaten im Sinne eines Verweises auf die Rücktrittsvorschriften nur für die Rückgabe der Sache anzusehen, sind nunmehr obsolet geworden, ohne dass der Gesetzgeber sich mit ihnen auch nur andeutungsweise auseinandergesetzt hätte. Das ist der eigentliche Skandal.