Sachentscheidungsverhinderungsrechtsprechung – und eine harte Nuss für Prozessrechtler
von Ulrich Wackerbarth
Das OLG Koblenz zeigt in seiner Entscheidung vom 8.4.2010 (GmbHR 2010, 1043 f. = BeckRS 2010, 15483 n.rkr.), wie man verhindert, dass sich Gesellschafter vor Gericht streiten.
In einer zweigliedrigen GmbH mit je hälftiger Beteiligung der beiden Gesellschafter behauptete der klagende Gesellschafter, es habe ein Wettbewerbsverbot bestanden und sein Mitgesellschafter und -geschäftsführer habe dagegen verstoßen, folglich schulde dieser der GmbH (und ihm) Schadensersatz. Das OLG meinte, der Kläger könne nur dann mit der Gesellschafterklage vorgehen, „wenn die Mehrheit der Gesellschafter eindeutig und endgültig zu erkennen gegeben hat, dass sie, soweit es an ihr liegt, zur Verfolgung des Anspruchs nicht bereit ist“. Daran soll es gefehlt haben, was angesichts des Klageabweisungsantrags des beklagten Mitgesellschafters nicht besonders lebensnah ist.
Die actio pro socio ist im GmbH-Recht grundsätzlich subsidiär. Zunächst muss gem. § 46 Nr. 8 GmbHG versucht werden, einen Beschluss über die Geltendmachung von Ansprüchen gegen Gesellschafter oder Organe der Gesellschaft herbeizuführen. Die Gesellschafterversammlung hat die Kompetenz. Diese Subsidiarität gilt freilich nicht uneingeschränkt. In einer — vom OLG Koblenz nicht zitierten — Entscheidung des BGH aus dem Jahr 2005 (NZG 2005, 216) heißt es:
„… der [Vorrang der inneren Zuständigkeitsordnung der Gesellschaft entfällt] aber jedenfalls dann […], wenn eine Klage der Gesellschaft undurchführbar, durch den Schädiger selbst vereitelt worden oder infolge der Machtverhältnisse in der Gesellschaft so erschwert ist, dass es für den betroffenen Gesellschafter ein unzumutbarer Umweg wäre, müsste er die Gesellschaft erst zu einer Haftungsklage zwingen. Weiter hat der II. Senat im Urteil vom 4. 2. 1991 (NJW 1991, 1884 = ZIP 1991, 582) eine Gesellschafterklage im Fall einer im Handelsregister gelöschten zweigliedrigen GmbH mit Rücksicht darauf zugelassen, dass ihr ein Vertretungsorgan fehlte und das Erfordernis eines Gesellschafterbeschlusses gem. § 46 Nr. 8 GmbHG hier wegen des Stimmrechtsausschlusses des in Anspruch zu nehmenden Gesellschafters (§ 47 Abs. 4 S. 2 GmbHG) eine überflüssige Formalität bedeuten würde.“
In einer früheren Entscheidung des BGH aus dem Jahr 1982 (ZIP 1982, 1203, 1204) heißt es bereits: „Weitere Gesellschafter, deren Interessen durch eine Ausschaltung der Gesellschafterversammlung verletzt sein könnten, sind nicht vorhanden.“ Darauf kommt es entscheidend an: Die Kompetenz der Gesellschafterversammlung besteht ja nicht, um Klagen zu erschweren, sondern um die Zuständigkeit der Gesellschafter zu wahren. Bei zwei Gesellschaftern ist diese Wahrung der Kompetenz aber gerade nicht notwendig, wenn es um eine Klage für die Gesellschaft gegen den anderen Gesellschafter geht. Anders aber das OLG Koblenz:
„Vielmehr hätte der Kläger als einziger stimmberechtigter Gesellschafter (§ 47 Abs. 4 S. 2 GmbHG) die Einleitung eines Rechtsstreits gegen den Beklagten im Namen der GmbH beschließen und sich selbst zum Prozessvertreter bestellen können (§ 46 Nr. 8 GmbHG).“
Das ist genau die Förmelei, die der BGH in der Entscheidung von 1991 überwinden wollte. Ebenso wie hier sehen das die vom OLG Koblenz — fälschlich — für sein Urteil herangezogenen Autoritäten: K. Schmidt in Scholz, 10. Aufl. § 46 GmbHG Rn. 161 (a.E.); Fastrich in Baumbach/Hueck, 19. Aufl., § 13 GmbHG Rn. 39 (konkrete Einflussverteilung in Zweimanngesellschaft); OLG Düsseldorf, ZIP GmbHR 1996, 689, 696 (Zwei-Personen-Gesellschaft, bei der eine vorherige Anrufung der Gesellschafterversammlung … ohnehin unnötig bzw. aussichtslos ist).
Schön ist auch, wie das OLG Koblenz die Argumente verdreht. Es verlangt vom Kläger, Besonderheiten, etwa Anhaltspunkte für eine „Blockierstellung“ der Gesellschafter vorzulegen, um über die Subsidiarität hinwegkommen zu können. Das zitierte OLG Düsseldorf hatte die Blockierstellung der Gesellschafter aber gerade aus der 50/50 Beteiligung der zwei Gesellschafter hergeleitet.
Die Entscheidung des OLG Koblenz folgt damit ganz offensichtlich dem Prinzip, dass man durch Verfahrenshindernisse eine Sachentscheidung noch stets erfolgreich verhindern kann (wenn man in der Sache nicht entscheiden will). Vorausgesetzt, die Anwürfe des Klägers entsprechen der Wahrheit, kann sein Mitgesellschafter nun also weiterhin die Früchte seiner unerlaubten Konkurrenztätigkeit genießen. Und das Beste: einer späteren Sachentscheidung (nach Durchführung des vom OLG gewollten Verfahrens) steht möglicherweise die (allerdings wegen Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH noch nicht existente) Rechtskraft des vorliegenden Urteils entgegen, was ich hiermit zur Diskussion stelle: Weist das Gericht — wie hier — mangels Aktivlegitimation ab, wenn in Wahrheit allenfalls die Prozessführungsbefugnis des Klägers fehlte (= h.M. zur actio pro socio), dann kann es, nachdem der Kläger seine Prozessführungsbefugnis durch die Herbeiführung einer Beschlussfassung hergestellt hat, die alsdann erhobene Klage mit der Begründung abweisen, das erste Urteil sei ein Fehlurteil gewesen, aber nun leider rechtskräftig. Was sagen die Prozessrechtler?
Am 29. September 2010 um 01:40 Uhr
Ich glaube, so gemein sind die Prozessrechtler gar nicht. Ich glaube, die würden (jedenfalls mehrheitlich) vielmehr sagen, dass eine Klageerneuerung – natürlich – zulässig ist, wenn die Richtigkeit der rechtskräftigen Entscheidung durch eine den tragenden Abweisungsgrund ausräumende „neue“ (nach der letzten Tatsachenverhandlung entstandene) Tatsache in Frage gestellt wird, dass die Existenz einer solchen neuen Tatsache auf der Basis des Subsumtionsschlusses des Erstrichters zu beantworten ist und dass im Fall einer derartigen Veränderung der Tatsachenbasis zudem keine völlige Neubeurteilung der Rechtslage durch den Zweitrichter stattfindet, sondern lediglich eine Anpassung des Urteils an die geänderten Verhältnisse auf der Basis der Rechtsauffassung des Erstrichters.
Denn auch wenn neue Tatsachen rechtskraftfrei sind, muss doch das rechtskräftige Urteil soweit als möglich in seinem Bestand respektiert werden. Es würde zu stark entwertet, wenn das Verfahren bei jeder neuen Tatsache völlig neu aufgerollt werden könnte. Das zweite Verfahren ist vielmehr als Fortsetzung des ersten zu begreifen, seine Ergebnisse sind gewissermaßen fortzuschreiben unter Berücksichtigung der seither eingetretenen Veränderungen, ohne dass sie dadurch völlig in Frage gestellt würden.
Im Fall des OLG Koblenz müsste die actio pro socio folglich auch im zweiten Urteil jedenfalls ein eigener Anspruch des Gesellschafters bleiben, nur eben jetzt ein bestehender.