Negative Fortführungsprognose für § 19 InsO

von Ulrich Wackerbarth

Spannende Einblicke in die Realität der Überschuldungsmessung ermöglicht die empirische Untersuchung (Expertenbefragung) von Bitter/Hommerich/Reiß zur „Zukunft des Überschuldungsbegriffs“, z.T. veröffentlicht in ZIP 2012, Heft 25/26, S. 1201.

1.

So berichten Bitter et al. von der Erstellung von Fortführungsprognosen zur Ermittlung der Überschuldung (aaO., 1204):

„Der aktuelle Überschuldungsbegriff bringe insoweit den notwendigen Zeitgewinn für die Sanierung, weil er in der Praxis so verstanden werde, dass eine positive Fortführungsprognose so lange besteht, wie es überwiegend wahrscheinlich ist, dass sich die beteiligten Parteien auf eine Lösung einigen, mit der die Fortexistenz des Unternehmens gesichert wird.“

Ich schätze, das bedeutet: Fortführungsprognosen (d.h. solche wie die, von denen der BGH spricht, oder die in Kommentaren verlangt oder als geradezu selbstverständlich dargestellt werden) werden in der Praxis gar nicht erst aufgestellt!!!

Das ganze Theater, das um die Ausarbeitung dieser Prognosen gemacht wird, habe ich schon immer für ein potemkinsches Dorf gehalten. Das wird durch diesen einen Satz eindrucksvoll bestätigt: Es gibt sie überwiegend nicht, die Finanzpläne und Liqudiditätsprognosen. Die „Praxis“ kommt ohne sie aus.

Was es gibt, sind Verhandlungen mit den Gläubigern, und zwar im Zweifel zu spät und auch nur mit einem Teil von ihnen (die Kleingläubiger kann man später als angebliche Akkordstörer abkanzeln, siehe hier).

2.

Ein weiterer bemerkenswerter Satz in der Dokumentation der Experten-Antworten ist der folgende, der sich mit Unternehmen beschäftigt, die einen finanzierten Hauptvermögensgegenstand besitzen, etwa Schiffsgesellschaften (aaO., 1205):

„Für die Gläubiger des Unternehmens sei es in derartigen Fällen von Assetfinanzierungen äußerst ungünstig, wenn das Insolvenzverfahren in Zeiten der gesunkenen Marktpreise eröffnet werden müsste, weil dann ein nur geringer Kaufpreis für das wesentliche Asset zu erzielen sei. Könne das Unternehmen hingegen fortgeführt werden, bis sich der Markt wieder erholt, sei gerade auch den Gläubigern enorm geholfen, weil die Deckung ihrer Ansprüche dann wieder wahrscheinlicher werde, zumal auch die Kosten des Insolvenzverfahrens vermieden würden.“

 

Großartig: Insolvenzverfahren können sich die befragten Experten offenbar nur in der Variante „übertragende Sanierung“ oder „Liquidation“ vorstellen. Das wesentliche Asset erzielt nicht den richtigen Preis, also ist das Insolvenzverfahren zu vermeiden. Dass aber auch Eigenverwaltung und Insolvenzplan in Betracht kommen, d.h. Fortführung unter Beteiligung der Gläubiger, was — je nach Zahl der Gläubiger und Komplexität des Unternehmens — auch nicht die Welt kosten muss, scheint den Experten nicht in den Sinn zu kommen. Doch genau darum geht es beim Tatbestand der Überschuldung: Um eine Grenze, ab der die Gläubiger ein Wörtchen mitzureden haben, wenn es um das Ob und Wie der Fortführung des Unternehmens geht. Die zitierte Bemerkung ist widersinnig: Die Gläubiger sind die Herren des Insolvenzverfahrens, eine Eröffnung kann ihnen prinzipiell nur nutzen und nicht schaden. Wenn die Gläubiger einhellig meinen, der Schuldner könne weitermachen wie bisher, weil er sich erholen wird, dann sollen sie ihn doch weitermachen lassen. Wo ist das Problem?

3.

Für die bisherigen Feststellungen kann ich die Autoren nicht verantwortlich machen, sie berichten lediglich. Später aber werten sie auch, aaO. 1204:

 

„Der wichtigste Unterschied zwischen der Gruppe der Insolvenzverwalter und den sonstigen an der Befragung beteiligten Gruppen ist darin zu sehen, dass die Insolvenzverwalter aus der Gesamtzahl der Krisenunternehmen beruflich nur mit einer Negativauswahl zu tun haben, nämlich jenen Unternehmen, bei denen eingeleitete Sanierungsbemühungen nicht erfolgreich waren und genau deshalb der Insolvenzantrag am Ende doch gestellt werden musste“

 

In einer empirischen Untersuchung hätte ich diesen Satz nicht erwartet. Soll doch eine solche Untersuchung gerade mit Tatsachenbehauptungen aufräumen und nicht selbst für neue sorgen. Wer weiß denn bittschön, ob die Verwalter es wirklich mit einer „Negativauswahl“ im Sinne „gescheiterte Sanierungswillige“ zu tun bekommen? Vielleicht haben sie es tatsächlich mit Unternehmen zu tun, bei denen vor dem Insolvenzantrag überhaupt keine Sanierungsbemühungen gestartet wurden? Vor allem aber suggeriert der Satz, dass die Wahrnehmung der Insolvenzverwalter möglicherweise verzerrt ist und man ihrer — der Auffassung der Verfasser tendenziell zuwider laufenden — Einschätzung lieber nicht folgen sollte.

Es kommt den Autoren nicht in den Sinn, dass man den Überschuldungsbegriff gerade für solche Unternehmen benötigen könnte, mit denen Insolvenzverwalter es zu tun bekommen. Für solche Krisenunternehmen, in denen bereits die Vernunft dem Geschäftsführer rechtzeitig befiehlt, sich um die Sanierung zu kümmern, benötigt man ihn natürlich nicht.

4.

Wenig gefallen hat mir auch folgende Empfehlung der Autoren, aaO. 1205:

„Bei der Entscheidung des Gesetzgebers über die Zukunft des Überschuldungsbegriffs sollte in Rechnung gestellt werden, dass die Ziele, die seinerzeit mit der Verschärfung des Überschuldungsbegriffs verfolgt wurden, schon deshalb nur zu einem geringen Teil erreicht werden können, weil die Überschuldung nach Einschätzung der Experten insolvenzrechtlich eine geringere Bedeutung hat, als ihr zugeschrieben wird. So sind nicht weniger als 82 % aller Befragten der Ansicht, dass Insolvenzanträge in aller Regel nicht auf Überschuldung gestützt werden.“

Diese Schlußfolgerung (und mehr ist es nicht) lautet übersetzt: Weil der Überschuldungsbegriff in der Praxis nicht funktioniert, darf man ihn keinesfalls praxistauglich machen.

Es ist seit der Erfindung der Rechnungslegung noch nie auch nur versucht worden, den Tatbestand der Überschuldung konsequent an eine existierende Bilanz zu knüpfen (und nicht an eine Sonderbilanz, die in der Praxis dann doch nicht aufgestellt wird, siehe auch oben 2.) und ihn wirksam durchzusetzen. Man hat mit anderen Worten nie versucht, das einzige Gegengewicht zur Haftungsbeschränkung praxistauglich zu machen. Dann darf man sich natürlich nicht wundern, wenn das Recht praktisch nicht funktioniert. Irgendwelche rechtspolitischen Argumente gibt das nicht her.

5.

Für dreist halte ich die Einschätzung der Autoren, die volkswirtschaftlichen Vorteile der Änderung des Überschuldungstatbestands in Zeiten der Finanzkrise dürften die Nachteile klar überwiegen (aaO S. 1207). Wie immer man zum Überschuldungstatbestand steht, man kann aufgrund einer bloßen Expertenbefragung nicht etwas wissenschaftlich Haltbares über volkwirtschaftliche Vor- oder Nachteile aussagen. Und geradezu widersprüchlich ist es, einerseits die geringe Bedeutung des § 19 InsO in der Praxis zu betonen und andererseits von „volkswirtschaftlichen Vorteilen“ einer Änderung dieses — ja nicht praktizierten — Tatbestands zu sprechen. Meine eigene Einschätzung der volkwirtschaftlichen Auswirkungen der Änderung des Überschuldungstatbestands im Rahmen der Finanzkrise sieht jedenfalls anders aus (hier).

6.

Das Resümee der Verf. lautet: Geänderten Überschuldungstabestand beibehalten, am besten aber § 19 InsO ganz abschaffen. In Wahrheit bestätigt diese Untersuchung allenfalls einen bereits vorher eingenommenen Standpunkt der Untersucher und daneben noch etwas, über das hinter vorgehaltener Hand ohnehin Einigkeit besteht: Die heute praktizierte Rechnungslegung widerspricht in aller Regel eklatant dem zentralen Grundsatz des Bilanzrechts, nämlich ein wahres und faires Abbild des Unternehmens zu zeichnen. Und auch die von den Autoren aufgestellte Bilanz und ihre darauf aufbauenden Empfehlungen sind m.E. weder wahr noch fair. Sie taugen nicht für höhere Weihen.

Gleichwohl ist zu erwarten, dass aufgrund solcher „Untersuchungen“ Gesetze gemacht werden. Mehr „empirische Grundlage“ für eine allfällige Gesetzesänderung braucht in Deutschland kein Gesetzgeber. Die hier aufgestellte negative Fortführungsprognose für den Überschuldungstatbestand kann sich so als self-fullfilling prophecy erweisen

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