Sesamstraße verkehrt: … und wer fragt, ist dumm?

von Ulrich Wackerbarth

 

Ein Urteil, das die Frage der Rechtsmißbräuchlichkeit sowohl des Verhaltens des einen wie auch das des anderen Beteiligten falsch einschätzt, ist selbst doppelt rechtsmißbräuchlich. So verhält es sich mit einer aktuellen Entscheidung des XI. Senats zu einem angeblich widersprüchlichen Verhalten eines Anlegers.

1. Der Fall

Dieser fragte seinen Bankberater nach der Höhe der Rückvergütung, die die Bank erhalte, wenn sie ihm eine bestimmte Anlage verkaufe, nämlich die Beteiligung an einem Filmfonds. Eine Auskunft darüber verweigerte der Berater jedoch.

Merke: Nach der inzwischen ständigen Rechtsprechung ebendieses Senats (zuletzt hier) muss die Bank an und für sich ungefragt (!) über die Tatsache und Höhe einer erhaltenen Rückvergütung Auskunft erteilen, egal wie hoch sie ist, es gibt keine Mindestschwelle. Grund dafür ist, dass der Anleger sonst im Unklaren über einen Interessenkonflikt der Bank ist, die ihm die Anlage möglicherweise nicht aus Qualitätsgründen, sondern eben wegen der Rückvergütung empfiehlt. Man lese dazu auch § 31 Abs. 1 Nr. 2 WpHG, der auf Filmfonds zwar nicht anwendbar ist, aber diese Rechtsprechung geprägt hat.

Der fragende Anleger kaufte trotzdem und später stellte sich heraus, dass die Bank die nicht unerhebliche Summe von über 35.000 € für die Anlageempfehlung kassiert hatte. Seine Klage auf Rückabwicklung aus c.i.c. hielt der XI. Senat für rechtsmißbräuchlich. Der Anleger verhalte sich widersprüchlich, wenn er Schadensersatz verlange, obwohl er gekauft habe, nachdem der Anlageberater sich ausdrücklich geweigert habe, ihm die Höhe der Rückvergütung mitzuteilen.

2. Widersprüchliches Verhalten des Anlegers?

Auf den ersten Blick leuchtet das ein. Wenn der Berater sagt: „Zur Größe meines Interessenkonflikts sage ich nichts“, dann sollten die Alarmglocken beim Anleger angehen. Wer dennoch kauft, scheint nicht schützenswert. Doch wie laut läutet denn ein Alarm, wenn der Berater sagt: Wir verdienen übrigens an Ihrer Anlage 35.000 Euro, einfach so, nur weil wir Sie das hier über uns kaufen? Und wie laut läuten die Glocken, wenn er nur sagt: „Dazu sage ich nichts?“ Leiser, nicht wahr? Der Anleger handelt deshalb keineswegs widersprüchlich, wenn er sich später auf die fehlende Auskunft beruft. Er konnte zwar vermuten, dass ihm hier eine größere Summe verschwiegen wird. Aber über das Ausmaß des Interessenkonflikts war er nach wie vor nicht informiert, weshalb die Anfechtung nicht wundert, wenn er später davon Kenntnis erlangt.

Letztlich wird hier einem Anleger der vom Recht gegebene Schutz allein deshalb versagt, weil er ausdrücklich um die Auskunft gebeten hat, die der Anlageberater von Rechts wegen schon ungefragt hätte erteilen müssen. Wenn hier irgendjemand widersprüchlich argumentierte, so war es daher bestimmt nicht der Kläger (sondern der XI. Senat).

3. Vertrauensgrundsatz im Rechtsverkehr

Alle, mit denen ich über das Urteil gesprochen habe und die die Entscheidung verteidigen, werfen dem Anleger am Ende nicht die Klageerhebung trotz des Kaufs vor, sondern den Kauf selbst trotz der Informationsverweigerung des Verkäufers. Indessen: Genau dieser Vorwurf ist unberechtigt und untergräbt den Vertrauensgrundsatz im Privatrechtsverkehr. Der besagt, dass man grundsätzlich auf die Redlichkeit des Gegenübers vertrauen darf und (und das ist das Entscheidende) gar nicht erst nachfragen muss. Man darf deshalb niemandem vorwerfen, einen Vertrag trotz erfolgloser Nachfrage geschlossen zu haben. Anders gesagt: Der Vertrauensgrundsatz schließt es auf der einen Seite aus, einem Vertragschließenden vorzuwerfen, er habe auf die Redlichkeit seines Geschäftspartners vertraut, ohne sie durch Nachfragen in Zweifel zu ziehen. In gleicher Weise muss er dann spiegelbildlich den Vorwurf ausschließen, man habe einen Vertrag geschlossen, obwohl der andere Informationen verweigert habe, zu denen er verpflichtet war.

4. Pflichtenänderung

Insofern steckt in dem Urteil in Wahrheit nicht nur eine Verkennung des § 242 BGB, sondern darüber hinaus auch noch eine versteckte Rechtsänderung: Künftig ist die Bank eben nicht mehr zur ungefragten Offenbarung der Höhe solcher Rückvergütungen verpflichtet, sondern nur noch zur Ablehnung jeglicher Auskunftswünsche von beratungswilligen Anlageinteressenten.

Wenn man das einmal fortdenkt, so wird sich bald in jeder Bank ein gut sichtbares Schild finden: „Aus Haftungsgründen geben wir keine individuellen Auskünfte über Rückvergütungen!“

Das hätte im Übrigen noch weitere Folgen, wenn der XI. Senat auch für das Kaufrecht zuständig wäre: In keinen AGB über einen Gebrauchtwagen darf künftig der Satz fehlen: „Wir geben keine individuellen Auskünfte mehr über schwere Unfälle. Machen Sie sich selbst ein Bild!“

Entscheidend spricht an dieser Stelle gegen das Urteil: Man kann sicher sein, dass gewiefte Verkäufer es schaffen, die Auskunftsverweigerung so zu überspielen, dass der Käufer dennoch Vertrauen aufbaut und die Anlage kauft. Wer einmal aus erster Hand die Diskrepanz zwischen dem erlebt hat, was im Beratungsprotokoll steht, und dem Blauen, das Anlageberater mündlich vom Himmel versprochen haben, der weiß, wovon ich spreche (mancher Gebrauchtwagenhändler kann das übrigens auch).

5. Informationsökonomie – volkswirtschaftliche Erkenntnisse

Im Übrigen verstößt die neue Regel gegen grundlegende volkswirtschaftliche Erkenntnisse, die sogar dem deutschen Gesetzgeber nicht verborgen geblieben sind, wie folgende Gesetzesbegründung zeigt: (BT Drucks. 16/1408, S. 7 zum Verbraucherinformationsrecht)

„Unzureichender Informationszugang ist auch aus volkswirtschaftlichen Gründen nachteilig. Verbraucherentscheidungen sind in der Marktwirtschaft ein entscheidender Faktor für die Steuerung des Gesamtsystems. Beruhen die Kaufentscheidungen vieler Verbraucherinnen und Verbraucher regelmäßig auf falschen oder unvollständigen Informationen, so verliert das Marktsystem seine Lenkungskräfte und damit seine besondere Effizienz bei der Allokation der Ressourcen. Im extremen Fall können Informationsdefizite zum weitgehenden Zusammenbruch von Märkten führen und erhebliche volkswirtschaftliche Schäden zur Folge haben. Maßnahmen zur Verbesserung der Verbraucherinformation dienen daher auch dem besseren Funktionieren der Märkte.“

Hinzuzufügen ist, das Informationen als öffentliches Gut leider die Tendenz innewohnt, ohne gesetzliche Anreize nicht „vom Markt“ selbst prodziert zu werden. Gegen diese Erkenntnisse verstößt die Entscheidung, da sie die frühere Aufklärungspflicht (mittels derer ja die Information über die Höhe der Rückvergütung positiv „in die Welt“ kommt) durch eine Pflicht zur ausdrücklichen Informationsverweigerung ersetzt. So werden allenfalls noch Vermutungen über die Rückvergütung veranlasst, konkrete Zahlen kommen nicht mehr „in die Welt“. Diese Entwicklung geht eindeutig in die falsche Richtung. Aber, wie schon in meinem letzten Beitrag (unter 3.) festgestellt: Volkswirtschaftliche Erkenntnisse brauchen Richter nicht zu erschüttern, sie bilden sich lieber juristisch als wirtschaftswissenschaftlich fort. Und gegen die dort unter 4. a) b) c) gegebenen Empfehlungen verstößt die Entscheidung – natürlich – auch.

6. Berufung der Bank auf eigenes rechtwidriges Verhalten

Nach dem Grundsatz nemo turpitudinem suam allegans auditur wird niemand vor Gericht gehört, der sich auf sein eigenes rechtswidriges Handeln beruft. Anders aber der XI. Senat. Er erlaubt der Bank hier, sich darauf zu berufen, dass sie ihre vorvertragliche Aufklärungspflicht vorsätzlich verletzt hat. Damit verkennt das Gericht nicht nur die fehlende Widersprüchlichkeit des Verhaltens des Anlegers, sondern darüber hinaus die Rechtsmißbräuchlichkeit des Verhaltens der Bank. Ein doppelt rechtsmißbräuchliches Urteil also.

7. Wo war Wiechers?

Inhalt und Richtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung hängen heute viel stärker als noch vor einigen Jahren von den im Senat tätigen Personen ab denn vom geschriebenen Recht. Man schaut lieber, was die Vorsitzenden der Senate veröffentlicht haben, welche Tendenz ihre noch als Oberlandesrichter gefällten Urteile hatten, kurz: wes Geistes Kind sie sind, wenn man voraussehen will, wohin die Reise geht. Bei der Rechtsprechung des XI. Senats hat man in den vergangenen fünf Jahren insofern gute Erfahrungen mit dem Vorsitzenden Ulrich Wiechers machen dürfen.

Nachdem ich das Urteil gelesen habe, war ich deshalb sehr verwundert – und richtig, unterschrieben hat Wiechers diese Fehlentscheidung nicht. Wiechers ist 1949 geboren, sehr lange werden wir also leider nicht mehr auf ihn als Vorsitzenden des XI. Senats bauen können. Wenn die hier kritisierte Entscheidung ein Zeichen für die künftige Rechtsprechung des XI. Senats sein sollte, erwarten die Anleger vor dem Bankensenat schwere Zeiten.

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