Ein Akt richterlicher Willkür: Die Abschaffung des Übernahmerechts durch die Hintertür
von Ulrich Wackerbarth
Der zweite Zivilsenat des Bundesgerichtshofs urteilt seit jeher unternehmensfreundlich und privilegiert Groß- und Mehrheitsaktionäre gegenüber Kleinanlegern. Damit trägt er dazu bei, dass in Deutschland kaum jemand Aktien kauft. Nun aber hat er es eindeutig übertrieben und in mehreren Entscheidungen die zentralen Regeln des deutschen Übernahmerechts bei Paketgeschäften praktisch abgeschafft.
1. Pflichtangebot und Vorerwerbsregel
Nach dem Wertpapiererwerbs und Übernahmegesetz (WpÜG) muss der Käufer eines Aktienpakets den übrigen Aktionären einer Gesellschaft ein Angebot zum Abkauf ihrer Aktien machen, wenn er mehr als 30% der Stimmrechte erworben hat (sog. Pflichtangebot). Und er muss dafür mindestens den (höchsten) Betrag je Aktie zahlen, den er in einem Zeitfenster von 6 Monaten vor dem Angebot gezahlt hat (sog. Vorerwerbsregel). Damit sollen letztlich die übrigen Aktionäre mit dem Verkäufer des Aktienpakets gleichgestellt werden. Diese Regel war im Gesetzgebungsverfahren lange umstritten, ist aber nun einmal Gesetz geworden. Genau diesen zentralen Regeln hat der BGH jetzt alle Zähne gezogen.
2. Abschaffung der Sanktionen eines unterlassenen Pflichtangebots
Zunächst hat er im vergangenen Jahr in der BKN-Entscheidung die vom Gesetzgeber zur Absicherung der Angebotspflicht in das Gesetz eingefügten Zahlungsansprüche (§ 38 WpÜG) den Aktionären mit einer hanebüchenen und gesetzeswortlautwidrigen Begründung aus der Hand geschlagen (näher hier unter 2.). Übrig blieb neben behördlichen Maßnahmen noch eine einzige Sanktion: Der Rechtsverlust nach § 59 WpÜG, wodurch der Kontrollinhaber, wenn er seiner Angebotspflicht nicht nachkommt, sämtliche Rechte aus den von ihm gehaltenen Aktien verliert. Die Aktionäre sollten also spätere Hauptversammlungs-Entscheidungen anfechten können, die auf den Stimmen des neuen Kontrollinhabers beruhen. Ein Angebot haben sie dann aber noch immer nicht in den Händen (siehe hier unter 2 c).
Aber mit dieser dysfunktionalen Sanktion noch nicht genug, es kommt noch besser. Als nun bei einer Gesellschaft tatsächlich eine Anfechtungsklage gegen einen Dividendenbeschluss erhoben wurde, weil ein Großaktionär angeblich ein Pflichtangebot unterlassen hatte, hat der BGH im April 2014 dieses Ansinnen mit der Begründung zurückgewiesen, die Hauptversammlung entscheide gar nicht darüber, ob der Großaktionär (auch) eine Dividende erhalte (sondern nur über den Gesamtbetrag der Dividende). Zu einer Überprüfung der Angebotspflicht nach dem WpÜG kam es in diesem Fall dann nicht, weil auch ohne die Stimmen des fraglichen Aktionärs eine Dividende beschlossen worden wäre. Damit ist auch die letzte privatrechtliche Sanktion gegen ein unterlassenes Pflichtangebot praktisch beseitigt. Der Kontrollinhaber kann sich beruhigt zurücklehnen, denn es ist –jedenfalls bei nicht ganz offensichtlichen Verstößen – praktisch ausgeschlossen, dass der Vorstand ihm die Dividende verweigert. Eine Anfechtung kann trotz der Anordnung des vollständigen Rechtsverlustes in § 59 WpÜG erst dann erfolgreich sein, wenn es auf die Stimmen des Großaktionärs tatsächlich ankommt.
3. Abschaffung der Mindestpreisregel
Und schließlich hat der zweite Senat Ende Juli 2014 auch die Vorerwerbsregel in seiner Entscheidung zur Postbankübernahme praktisch abgeschafft. Er ermöglicht, was nach dem Gesetz gerade untersagt ist: Dass nämlich der Käufer dem Paketaktionär seine Anteile auch oberhalb von 30% abkauft, ohne den übrigen Aktionären der Zielgesellschaft den gleichen Preis zahlen zu müssen. Dazu ist nach der Entscheidung lediglich erforderlich, dass zunächst ein beliebiger Preis vereinbart wird, sagen wir 10 Euro/Aktie, jedoch die Abwicklung dieses Geschäfts um etwas mehr als eineinhalb Jahre aufgeschoben wird. Nach einem halben Jahr kann der Käufer den übrigen Aktionären ein Übernahmeangebot zu einem Preis von z.B. 6 Euro machen. Auch wenn angesichts des Preises nur ganz wenige Aktien verkauft werden, genügt das, um sich aller weiteren Pflichten aus dem WpÜG zu entledigen. Nach einem weiteren Jahr kann der Paketverkauf dann vollzogen werden. Ergebnis: Der Paketverkäufer streicht die Kontrollprämie allein ein. Der Gesetzgeber hat das nicht gewollt, er wollte derartigen Umgehungen ausdrücklich vorbeugen. Ihm ist hier also kein Vorwurf zu machen, es sind allein die Richter des zweiten Senats, die dies verantworten.
4. Erwartbare Reaktionen in der Literatur
Nunmehr gibt es erste Reaktionen auf das Urteil, die allesamt entweder von Unverständnis oder einseitiger Interessenbindung zeugen. Zunächst zur interessegeleiteten Schreiberei: Drei Autoren geben unumwunden zu, dass der BGH die aufgezeigte Umgehungsmöglichkeit geschaffen hat, begrüßen dies indessen — als Anwälte von Großkanzleien nicht weiter verwunderlich:
Paschos, DB 2014, 2276, 2277 (und fast wortgleich Krause, AG 2014, 833, 836) meint:
„Damit ist klar, dass Aktionäre der Zielgesellschaft regelmäßig nicht an einem im Rahmen einer Option vereinbarten Premium partizipieren, sofern die Optionsvereinbarungen sechs Monate vor einem Übernahmeangebot abgeschlossen und erst ein Jahr nach Beendigung des Angebots i.S.v. § 23 Abs. 1 Sa tz 1 Nr. 2 WpÜG vollzogen wird.“
Diese Worte am Ende des Beitrags stehen für eine beliebte Haltung von Unternehmensvertretern: „Ich kann mit jeder anlegerschützenden Regel gut leben, solange sie nicht für mich gilt. Denn ich weiß, wie ich sie umgehen kann.“
Von Falkenhausen NZG 2014, 1368, 1369 meint zur Begründung, die Pflichtangebotsregelung sei ja auch ein „problematisches Institut“ (mit anderen Worten: wenn die gesetzliche Regelung non placet, darf der Richter sie beseitigen). Im Weiteren legt er dar, warum die börsliche Bewertung das einzig wahre sei (und übergeht damit das Gesetz, das eben nicht nur den Börsenkurs, sondern auch die Bewertung der Aktie durch ein Paketgeschäft als mindestpreisbestimmend ansieht). Seine Worte am Schluss beweisen vor diesem Hintergrund – entgegen ihrer Absicht -, dass hier das WpÜG umgangen und nicht etwa vermieden wurde.
„Deswegen ist es nicht missbräuchlich, wenn eine Transaktionsstruktur gewählt wurde, die es der Deutschen Bank erlaubte, ein Übernahmeangebot zu einem Preis zu vermeiden, der durch die Finanzkrise obsolet geworden war“
Drei andere Autoren nehmen das Gesetz nicht zur Kenntnis:
Löhdefink/Jaspers ZIP 2014, 2261, 2269, meinen, der Gesetzgeber habe sich nun einmal
„dafür entschieden, nur solche Preise für berücksichtigungsfähig zu erachten, deren Festlegung in den durch § 31 Abs. 1, 4 und 5 WpÜG (ggf. i.V. m. § 4 WpÜG-AngVO) bestimmten Zeitraum fallen.“
Das ist nachweisbar falsch: Erfolgte die Preisfestlegung zu einem beliebigen Zeitpunkt vor dem Beginn des Referenzzeitraums, liegt der Erwerb des Eigentums an den Aktien jedoch innerhalb des Referenzzeitraums, ist die beliebig lang (!) zurückliegende Festlegung nach Wortlaut des Gesetzes und allgemeiner Meinung ganz klar preisbestimmend.
Witt DStR 2014, 2132, 2134 meint (wie letztlich der BGH selbst in Rn 31 des Urteils),
„Denn würden § 31 Abs. 6 S. 1 WpÜG, § 4 S. 2 WpÜG-AngVO die zeitliche Streckung von der (schuldrechtlichen) Vereinbarung bis zu deren Vollzug erfassen, auch wenn beide Rechtsakte nicht innerhalb des gesetzlich vorgegebenen Referenzzeitraums lägen, so wäre der Referenzzeitraum Makulatur.“
Auch hier zeigt das bereits zu Löhdefink/Jaspers genannte Gegenbeispiel, dass der Autor die Funktionsweise der Vorerwerbsregel nicht zur Kenntnis genommen hat. Das Gesetz erfasst schon in seinem Standardanwendungsfall den aus Vereinbarung und Vollzug bestehenden Erwerb, erst Recht muss das im Rahmen einer Umgehungsverhinderungsvorschrift gelten. Hinzu kommt: Liegen Vereinbarung u n d Vollzug vor oder nach dem Referenzzeitraum, so liegt kein relevanter Vorerwerb vor. Warum also wird der Referenzzeitraum angeblich Makulatur, wenn man ihn auf Umgehungsgestaltungen wie die im Postbank-Fall anwendete? Eine Antwort auf diese Frage bleibt der Autor schuldig.
5. Fazit
Der bekannte us-amerikanische Rechtswissenschaftler Mark Roe hat einmal gesagt: „wheeler-dealers run rings around the civil judge“, was sinngemäß bedeutet: Mauschel-Geschäftemacher stecken den kontinentaleuropäischen Richter in den Sack und holen ihn wieder heraus, ohne dass er es merkt. Ich habe das noch 2005 in einem Aufsatz für eine Übertreibung gehalten. Mittlerweile bin ich ebenfalls der Auffassung, dass der II. Senat des BGH vollkommen überfordert ist, wenn es um Fragen des Anlegerschutzes, erst Recht um Fragen des Übernahmerechts geht. Angesichts der Stellungnahmen zur Postbankentscheidung habe ich nun auch eine klare Vorstellung davon, wen Roe mit den „wheeler-dealers“ gemeint hat.