No Brexit oder: Das Ende der Nationalstaaten

IV. Einige zentrale Schwächen der EU

1. Komplexität und fehlender Einfluss der EU-Bürger (Demokratiedefizit)

Die Befürworter eines Brexit scheinen sich im Moment so wenig mit der EU identifizieren zu können, weil zum einen die Zuordnung von Verantwortlichkeiten nicht klar ist. Es mangelt also einerseits an Transparenz. Die Organisation der EU und das Gesetzgebungssystem sind deutlich zu kompliziert. Wer kennt sie bis ins Detail außer einigen Spezialisten, wer kann sie in groben Zügen so erklären, dass man sich das Handeln der entscheidenden Personen vorstellen kann? Neben dem Parlament, das nach dem Eindruck vieler nicht genügend zu sagen hat, gibt es die Kommission und den Rat der EU (Ministerrat). In diesem Rat haben die Regierungen der Mitgliedstaaten das Sagen (Exekutivföderalismus), obwohl er ein Legislativorgan ist. Hinzu kommt noch der Europäische Rat.

Für viele ist undurchsichtig, wer hier die zentralen Entscheidungen trifft (mangelnde Transparenz). Oft scheinen in undurchsichtigen Verfahren Kompromisse auch mit solchen Mitgliedstaaten gefunden zu werden, die sich aus rationalen oder irrationalen Gründen sperren. Es werden keine Mehrheitsentscheidungen getroffen, obwohl Mehrheitsentscheidungen doch eigentlich ein Zeichen von Demokratie sind. Verhandlungen in Hinterzimmern sind gefühlt wichtiger als gewählte Parlamente. Die Menschen befürchten, von einer weit entfernten anonymen Bürokratie ferngesteuert zu werden.

2. Fehlende Verantwortlichkeiten und Intransparenz

Führende Politiker können sich hinter den EU-Institutionen verstecken. Ich kann weder Herrn Schulz noch Herrn Juncker noch Herrn Tusk kritisieren, wenn mir eine EU-Entscheidung nicht passt, einfach weil ich nicht sicher sagen kann: Der hat das entschieden, der hatte da die Macht, also ist er auch verantwortlich, wenn die Dinge so (schlecht) sind, dass ich sie kritisieren will.

3. Schwammiges Recht, mangelhafte Begründungen

Auch die Gesetze selbst sind oft wenig klar formuliert noch zeugen sie überhaupt von Entscheidungsfreudigkeit. Es wird nachdrücklich versucht, es jedem (Mitgliedsstaat) Recht zu machen und sich bloß nicht zu weit aus dem Fenster zu lehnen, und am liebsten wird überhaupt keine Entscheidung gefällt. Ähnliches gilt für den EuGH. Die EU-Richter selbst begründen Ihre Entscheidungen kaum bis nicht (eine unselige französische Tradition), es bleibt der Rechtswissenschaft überlassen, allem einen Sinn zu geben, die Richtersprüche zu erklären und eine Dogmatik zu finden. Das schafft kein Vertrauen, keine Rechtssicherheit und keinen Rechtsfrieden.

 

V. Prinzipien einer Neuorientierung

Bei einer allfälligen Neuorientierung sollte man einige Prinzipien beachten.

1. Evolution statt Revolution

Sicher scheint mir: Keine Revolution, sondern Evolution sollte ein Grundprinzip sein. Es vermeidet allzu große Unsicherheit, die bei grundstürzenden Reformen sicher entstünde und die Europa-Angst noch schürte.

Am besten konzentriert man sich also auf die Weiterentwicklung bestehender Institutionen. Man orientiere sich dabei jedoch weniger an der Idee einer immer enger werdenden EU als vielmehr an den Problemen, die zum Brexit geführt haben. Man sollte sich konsequent fragen, was in welche Richtung zu ändern ist, damit eine (vernünftig denkende) Mehrheit der Brexit-Befürworter künftig für „Remain“ stimmen würde.

2. Das Parlament stärken

Soweit die Zuständigkeiten reichen, müssen klarere Entscheidungen gefällt werden, die dann auch klar von allen eingehalten werden und für die es auf eine Mehrheitsbildung der Menschen in allen EU-Mitgliedsstaaten ankommt. Aus meiner Sicht heißt das: Das Verhältnis zwischen Rat und Parlament sollte nachgerade umgedreht werden. Mehrheit ist Mehrheit und Gesetze sollten nicht von Mitgliedern der Exekutive der Mitgliedstaaten gemacht werden können.

Umgekehrt gilt dann: Im Rahmen der EU-Kompetenzen gibt es keine Rücksichtnahme auf Einzelne und kein Veto-Rechte. Nationale Souveränität wird abgegeben und damit kann auch eine Verantwortlichkeit des Parlaments und einer EU-Regierung eingefordert werden. Wenn ich weiß, wer die fragliche Regel verantwortet, dann kann ich ihn auch kritisieren. Umgekehrt bin ich aber auch an mehrheitliche Entscheidungen des EU-Gesetzgebers gebunden. Das ist Demokratie.

3. Klares Recht, EuGH als Revisionsinstanz

Bislang wurde auch bei der Art und Weise der Rechtsetzung viel zu vorsichtig agiert: Harmonisierung statt Vereinheitlichung, die Mitgliedstaaten-Traditionen entscheiden letztlich über die Lösung des jeweiligen Streitfalles. Richtlinienrecht sollte künftig weitgehend durch unmittelbar anwendbare Verordnungen ersetzt werden. Und worin besteht der Sinn, wenn der EuGH nur über die Auslegung des EU-Rechts entscheidet, die konkrete Falllösung aber den nationalen Gerichten überlassen bleibt? Diese nationalen Gerichte können sich derzeit – jedenfalls praktisch – auch noch weitgehend selbst aussuchen, ob sie eine Frage dem EuGH zur Entscheidung vorlegen oder nicht. Auch hier müssten Rechtsstaatsprinzipien besser durchgesetzt werden. Wäre der EuGH echte Revisionsinstanz, soweit EU-Recht den Fall entscheidet, so wäre der nationalen Willkür eine Grenze gezogen. Dann könnte der rechtssuchende Bürger unter bestimmten Voraussetzungen Revision durch den EuGH verlangen. Im Gegenzug wären die Entscheidungen des EuGH ausführlich zu begründen, damit seine Entscheidungen die notwendige Rechtssicherheit leisten können und er nicht mehr das Orakel von Delphi spielen könnte.

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VI. Die flexible Union: Ein- und Austritt zu verschiedenen Bereichen der EU

VII. Eine unflexible Notwendigkeit: Die EU-Amtssprache

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Eine Reaktion zu “No Brexit oder: Das Ende der Nationalstaaten”

  1. Hagen Wollert

    Englisch als EU-Amtssprache fallen zu lassen wäre m.E. das Dümmste was die EU tun könnte. Vielmehr wäre das Gegenteil angebracht: Nach vollzogenem EU-Austritt der Briten sollte Englisch zur alleinigen Amtssprache für EU-Angelegenheiten gekürt werden, denn

    1. sprechen dort ohnehin fast alle Englisch – ja, auch die Franzosen !!!

    2. spricht dann im Parlamentsbetrieb & in den Ausschüssen – abgesehen von den Iren – niemand mehr in seiner Muttersprache, worauf wegen der retorischen Chancengleichheit großen Wert gelegt wird (Die Iren dürfen ggf. das Bier für die Party spendieren 😉 )

    3. öffnet das Verwenden der englischen Sprache den amerikanischen Wirtschaftsraum auch ohne TTIP bzw. nähme etwas Erfolgsdruck aus dessen Verhandlungen

    4. bietet das Verwenden der englischen Sprache der EU eine wünschenswerte verteidigungspolitische Nähe zu unseren amerikanischen Freunden und gerade den osteuropäischen Mitgliedern eine größere Distanz zu ihren russischen Brüdern (N.B.: Freunde kann man sich aussichen, Brüder nicht.)

    5. bietet die englische Sprache eine Tür zum Wiedereintritt der Briten – dann aber bitte ohne jeden Beitragsrabatt & mit Ausschluss der EU-Subventionen für königliche Landgüter.