No Brexit oder: Das Ende der Nationalstaaten

VI. Die flexible Union: Ein- und Austritt zu verschiedenen Bereichen der EU

Wo ist nun der Witz? Das werden manche fragen. Wird hier nicht genau das Mehr an Vertiefung und Erweiterung der EU postuliert, das eine nicht unerhebliche Zahl von EU-Bürgern gerade ablehnt? Wie kann man angesichts des Brexit-Votums noch mehr Abgabe von Souveränität fordern und damit die Realität offenbar ausblenden?

Die Antwort auf diese berechtigte Frage liegt m.E. in einer weiteren Institutionalisierung und Flexibilisierung der Bereiche, auf denen die EU tätig ist, bzw. der Einrichtungen, die sie geschaffen hat. Der Ein- und Austritt zu einzelnen Politikfeldern und Einrichtungen sollte für die Mitgliedsstaaten separiert und frei wählbar sein und zwar in erheblich größerem Umfang als bisher. Derzeit kann nach Art. 50 AEUV die Mitgliedschaft in der EU nur im Ganzen beendet werden. Der Brexit bzw. sein voraussichtliches Scheitern zeigt uns aber: ein „ganz oder gar nicht“ stellt die Mitgliedsstaaten vor eine Entscheidung, die sie praktisch nicht treffen können. Wenn man aber die Möglichkeit hätte, selbst über die Reichweite der gewünschten Integration in die EU zu entscheiden, würde der (begrenzte) Austritt vielleicht doch praktisch durchführbar – und dann wäre er zugleich ein effektiver Schutz jedes Mitgliedsstaates vor einer überbordenden Bürokratie oder einer befürchteten EU-Krake.

Wer etwa den Schengen-Raum wieder verlassen will, sollte das ohne viel Aufheben tun können, auch ein Austritt aus dem Euro oder der GASP sollte durch spezielle Vorschriften ermöglicht werden. Dann hat jeder Mitgliedstaat die ganze Zeit über die Möglichkeit einer Wahl. Keiner kann dann die EU noch als Gefängnis bezeichnen, die eine politische Union über die Hintertür einführen will. Niemand muss sich einem Diktat beugen, wenn der Austritt selbst vergleichsweise leicht möglich ist. Umgekehrt muss die Mehrheit keine Rücksicht nehmen, wenn sie innerhalb der jeweiligen Einrichtung Entscheidungen trifft; denn jeder Mitgliedstaat unterwirft sich – jedenfalls auf lange Sicht — stets freiwillig den jeweiligen Regeln. Das allein bietet bereits genügend Minderheitenschutz.

Und nicht zu vergessen: Bei der Schaffung neuer Vertiefungsfelder müssen ihre Erfinder stets einen möglichen Austritt einzelner Mitgliedsstaaten mitbedenken (dann wäre es z.B. zur Euro-Krise erst gar nicht gekommen, weil das System die Möglichkeit eines Austritts von Mitgliedsstaaten von vornherein einkalkulieren hätte müssen).

Wählbare Bausteine einer solchen modular aufgebauten Union könnten etwa sein.

  • Binnenmarkt (EFTA/EWR) – Geltung der 4 Grundfreiheiten und vieler Gesetze, Überwachung nicht durch die Kommission, sondern nur EFTA-Überwachungsbehörde, kein EuGH, sondern nur EFTA-Gerichtshof dafür Reduktion der Mitgliedsbeiträge, aber auch keinen Einfluss auf die Gesetze selbst.
  • Binnenmarkt (EU) – Mitglied in der EU, Einfluss auf die Gesetze, Überwachung durch die Kommission, EuGH als höchstes Gericht, keine Teilnahme an den übrigen Politiken der Union.
  • Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) – Schutz der Grenzen, weltpolitischer Einfluss, aber auch Pflicht zur Aufnahme von Flüchtlingen
  • Agrarpolitik
  • Verkehrspolitik
  • Wirtschafts- und Währungsunion (Eurozone)
  • Steuer- und Finanzpolitik
  • Schengen-Abkommen
  • EURATOM

Wahrscheinlich gibt es noch mehr solcher Bereiche. Mit jeder Einrichtung bzw. jedem gemeinsamen Politikfeld sollten Rechte und Pflichten der Mitgliedstaaten verbunden sein. Jeder Mitgliedstaat kann dann sagen, hier mache ich mit und hat dann auch eine – seiner Größe entsprechende – Stimme bei der weiteren Ausgestaltung dieser Einrichtung. Aber kein Mitgliedsstaat sollte noch Veto-Rechte haben, an die Stelle solcher Verhinderungsrechte sollte die Möglichkeit treten, innerhalb vernünftiger Fristen die jeweilige Einrichtung wieder verlassen zu können. Über diese Fristen müsste natürlich für jeden Bereich noch näher gesprochen werden, Art. 50 AEUV liefert aber immerhin einen ersten Anhaltspunkt.

Das Beste aber an einer solchen Baustein-EU aber wäre: Man benötigte keine neuen Organe. Rat und Parlament entschieden einfach in wechselnder Zusammensetzung – je nachdem, welche Mitgliedsstaaten bei dem Baustein mitmachen, um den es bei der Entscheidung gerade geht.

Ein flexibles System, in dem jeder selbst entscheiden kann, bei welchem Teil er mitmachen und Einfluss nehmen will, oder lieber ohne Einfluss draußen bleibt, das wäre ein Fortschritt und eine logische Weiterentwicklung der bisherigen Geschehnisse in der EU-Geschichte, freilich eben nicht mehr mit dem bisherigen immer wieder gescheiterten Versuch, doch noch zu einem Superstaat zu kommen. Vielleicht versucht man mal etwas Neues.

VII. Eine unflexible Notwendigkeit: Die EU-Amtssprache

Abgesehen von dem bisher Besprochenen besteht in Europa die unabweisbare Notwendigkeit der Einführung einer einheitlichen Amtssprache. Hier ist Flexibilität ganz unangebracht. Bislang gibt es 24 Amtssprachen, die rechtlich gleiche Verbindlichkeit beanspruchen. Man versteht sich buchstäblich nicht oder redet aneinander vorbei. Mißverständnisse und Auslegungsprobleme sind nicht nur bei der Auslegung von Gesetzen oder dem Verständnis von Urteilen programmiert. Auch gibt es allenfalls unter jungen Europäern bislang ein europäisches Gemeinschaftsgefühl, das zudem nicht sehr ausgeprägt ist. Auch dies dürfte unter anderem an einer fehlenden gemeinsamen Sprache liegen.

Eine einheitliche Amtssprache müssten alle Mitgliedsstaaten in der Schule als erste Fremdsprache beibringen. Mit der Zeit würde sie den Aufenthalt in jedem EU-Land vereinfachen. Alle würden neben ihrer Muttersprache auch die EU-Sprache sprechen. Die Verständigung innerhalb Europas würde grundlegend erleichtert. Das notwendige Wir-Gefühl könnte noch mehr entstehen als heute. Die Sprache würde ein einheitlicher Maßstab für alles, was in der EU geschähe und sie würde die vielfältigen Probleme, die unterschiedliche Sprachen der EU-Mitgliedsstaaten schaffen (siehe dazu etwa Kreße, Mehrsprachigkeit im Recht der Europäischen Union, ZRP 2014, 11 ff.), mit dem Ablauf der Zeit verschwinden lassen.

Eine einheitliche EU-Amtssprache ermöglichte ferner die Besinnung auf regionale Kulturen und Traditionen, weil die jeweilige Muttersprache gepflegt werden könnte, ohne damit zugleich die nationale Identität eines Mitgliedstaates gegenüber der EU sicherzustellen. Sie könnte damit ihrerseits helfen, nationale Abspaltungstendenzen zu verringern. Dann wäre es vielleicht einfach nicht mehr so wichtig, wenn die Katalanen ihre Identität durch die katalanische Sprache finden wollen (siehe etwa hier  und hier).

Natürlich bleibt die Frage: welche Sprache sollte EU-Amtssprache werden? Da niemand einen Vorteil haben soll, kann keine der in der EU gesprochenen Muttersprachen die zukünftige EU-Sprache werden. Esperanto bietet sich als Lösung an. Zwar handelt sich um eine Kunstsprache, die momentan praktisch tot ist, weil sie kaum gesprochen wird. Das würde sich jedoch schnell ändern, weil sie gesprochen werden müsste und würde, wäre sie — noch dazu: einzige — EU-Amtssprache. Sie wäre dann auch einzige Sprache, in der Gesetze und Urteile verfasst würden. Niemand wäre übervorteilt. Esperanto ist leicht zu lernen und als (dann) lebende Sprache würde sie in Kürze auch den nötigen Detailgrad haben, um schwierige Probleme zu beschreiben.

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Eine Reaktion zu “No Brexit oder: Das Ende der Nationalstaaten”

  1. Hagen Wollert

    Englisch als EU-Amtssprache fallen zu lassen wäre m.E. das Dümmste was die EU tun könnte. Vielmehr wäre das Gegenteil angebracht: Nach vollzogenem EU-Austritt der Briten sollte Englisch zur alleinigen Amtssprache für EU-Angelegenheiten gekürt werden, denn

    1. sprechen dort ohnehin fast alle Englisch – ja, auch die Franzosen !!!

    2. spricht dann im Parlamentsbetrieb & in den Ausschüssen – abgesehen von den Iren – niemand mehr in seiner Muttersprache, worauf wegen der retorischen Chancengleichheit großen Wert gelegt wird (Die Iren dürfen ggf. das Bier für die Party spendieren 😉 )

    3. öffnet das Verwenden der englischen Sprache den amerikanischen Wirtschaftsraum auch ohne TTIP bzw. nähme etwas Erfolgsdruck aus dessen Verhandlungen

    4. bietet das Verwenden der englischen Sprache der EU eine wünschenswerte verteidigungspolitische Nähe zu unseren amerikanischen Freunden und gerade den osteuropäischen Mitgliedern eine größere Distanz zu ihren russischen Brüdern (N.B.: Freunde kann man sich aussichen, Brüder nicht.)

    5. bietet die englische Sprache eine Tür zum Wiedereintritt der Briten – dann aber bitte ohne jeden Beitragsrabatt & mit Ausschluss der EU-Subventionen für königliche Landgüter.