Faires Gesellschaftsrecht, Corporate Governance und die Volksabstimmung in der Türkei

von Ulrich Wackerbarth

 

In genau einem Monat, am 16.4.2017, wird in der Türkei über 18 Vorschläge zur Änderung der Verfassung der Republik Türkei abgestimmt. Was hat das türkische Referendum mit (privatem) Gesellschaftsrecht zu tun? Viel! Zwar nicht unbedingt mit irgendeinem nationalen geschriebenen Gesellschaftsrecht, wohl aber mit Prinzipien eines fairen Gesellschaftsrechts und mit den Besonderheiten der Corporate Governance von Publikumsgesellschaften. Zunächst ist an das Grundprinzip einer Publikumsgesellschaft zu erinnern, nämlich die Herrschaft der Mehrheit. Die Mehrheit bestimmt, welche konkreten Maßnahmen zur Erreichung des gemeinsamen Zweckes ergriffen werden müssen und die Minderheit muss sich beugen. In erster Linie kommt dieses Prinzip darin zum Ausdruck, dass sich die Mehrheit „ihren“ Geschäftsleiter aussucht, so wie die Mehrheit der Türken Recep Tayyip Erdo?an zum Präsidenten gewählt haben.

Dieses Mehrheitsprinzip wird aber ergänzt und begrenzt durch weitere Prinzipien und Regeln. Zum einen gehört dazu ein Vetorecht der Minderheit bei einem Interessenkonflikt der Mehrheit. Versucht die Mehrheit, sich mehr als den ihr zustehenden Anteil aus der Gesellschaftskasse zu nehmen, dann hat die Minderheit das Recht, „Hayir“ dazu zu sagen und die Mehrheit darf insoweit nicht mit abstimmen. Dieses zweite Prinzip ist weniger bekannt als das erste und wird im Gegensatz zu diesem auch nicht überall konsequent beachtet, auch nicht in ansonsten leidlich funktionierenden Rechtsstaaten wie etwa Deutschland. Das zugrundeliegende Problem tritt freilich vor allem dann auf, wenn die Mehrheit institutionalisiert ist, wie etwas das herrschende Unternehmen in einem Konzern.

In Publikumsgesellschaften ohne einen solchen herrschenden Gesellschafter – also vor allem wenn wie in einer Demokratie nicht nach Kapitalanteilen, sondern nach Köpfen abgestimmt wird — ist das zentrale Problem ein anderes. Hier geht es darum, dass der einmal gewählte Geschäftsleiter sich verselbständigt und nicht mehr im Interesse der Gesellschafter, sondern im eigenen Interesse handelt. Dieses Problem des quasi-autonomen Vorstands ist beschrieben schon von Wiedemann (GesR I, 1980, S. 352) und exemplifiziert an der Holzmüller-Entscheidung des BGH. Dafür, dass Erdo?an genau dieser quasi-autonome Vorstand der Türkei geworden ist und seine Macht weiter stärken will, gibt es eine Reihe von Indizien (siehe hier, hier, hier,  und hier). Gegen die Verselbständigung des Vorstands zu kämpfen, ist schwierig. Das zeigt bereits die Tatsache, dass das us-amerikanische Gesellschaftsrecht in der Kontrolle der Geschäftsleiter seine zentrale (ungelöste) Aufgabe sieht (vgl. dazu Wackerbarth, ZGR 2005, 686, 704 ff., pessimistisch Wiedemann, aaO). In Betracht kommt jedoch u.a., in bestimmten Fällen die Zuständigkeit der Hauptversammlung zu stärken. Im Falle der Türkei geschieht das durch die Volksabstimmung am 16.4.2017.

Und es gibt ein weiteres Prinzip: Sollen die Spielregeln geändert werden, nach denen die Gesellschaft funktioniert, so benötigt man dafür eine qualifizierte Mehrheit, z.B. eine 2/3-Mehrheit oder 3/4 der Stimmen, oder gar Einstimmigkeit. Denn schließlich haben sich die Gesellschafter irgendwann einmal auf Spielregeln geeinigt, diese Regeln hätten keine Bedeutung, wenn sie nicht auch für die — einfache — Mehrheit gälten, sondern einfach zu ihrer Disposition stünden. Im jetzt anstehenden Referendum kommt dieses Prinzip indirekt darin zum Ausdruck, dass eine Verfassungsänderung nach türkischem Recht grundsätzlich – ähnlich dem deutschen Recht in Art. 79 Abs. 2 GG – eine 2/3-Mehrheit im Parlament voraussetzt. Die jetzige Volksabstimmung wird überhaupt nur deshalb abgehalten, weil im türkischen Parlament bei der Abstimmung für die Verfassungsänderung die 2/3-Mehrheit nicht erreicht wurde, sondern nur etwas mehr als 3/5 der Abgeordneten für die Änderung gestimmt haben (vgl. hier).

Nur wenn neben dem Mehrheitsprinzip auch die genannten weiteren ergänzenden und begrenzenden Regeln in einer Gesellschaft gelten, nur wenn also die Gesellschafter nicht rechtlos stehen, falls die Mehrheit oder der Geschäftsleiter übergriffig werden, dann besteht eine ausreichende Machtbalance in der Gesellschaft. Dies wusste schon Alexander Hamilton, als er formulierte: „Give all power to the many, they will oppress the few. Give all power to the few, they will oppress the many. Both therefore ought to have power so that each may defend itself against the other.” Diese Balance besteht freilich nur dann, wenn die Gesellschafter von ihrem Recht, „Nein“ zu sagen, im richtigen Zeitpunkt auch tatsächlich Gebrauch machen. Ohne ein Mindestmaß an Aktivität funktioniert keine Gesellschaft.

Es bleibt deshalb zu hoffen, dass sich unsere türkischen Mitbürger und die türkischen Wähler insgesamt nicht von einem Despoten scherzhaft in die Irre führen lassen. Auch wenn die Umwandlung der Republik Türkei in eine Diktatur schon weitgehend fortgeschritten sein mag: 1989 haben die Einwohner der damaligen „DDR“ vorgemacht, wie man  gegen alte Männer kämpfen kann, die wahrheitswidrig von einer Demokratie reden und ihre eigene Macht meinen. Unsere deutschen Mitbürger haben damals friedlich „nein“ gesagt, weil sie sich von Demagogen und Verbrechern weder haben blenden noch Angst einjagen lassen, und sie hatten damit Erfolg. 28 Jahre nach dem deutschen Beispiel für einen erfolgreichen friedlichen Widerstand ist es nun an der Zeit, dass die Türken beweisen, dass sie reif sind für eine Teilnahme an unserem gemeinsamen friedlichen Europäischen Projekt. Es ist nicht gleichgültig, wie jeder einzelne Gesellschafter sich verhält. In diesem Sinne: „Hayir“.

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