Nemo tenetur delicta ad hoc publicare?

von Ulrich Wackerbarth
Gehling überlegt in der aktuellen ZIP 2018, 2008 ff. unter dem Titel „Selbstbelastung und Selbstbelastungsfreiheit“, inwieweit sich börsennotierte Unternehmen auf den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit („nemo tenetur se ipsum accusare“) berufen können und ob dieser Grundsatz der Ad-hoc Publizität bei schlechten Nachrichten entgegenstehen kann. Beides bejaht Gehling mit scheinbar sorgfältiger Begründung. Zwar nicht nach deutschem Verfassungsrecht, wohl aber nach Art. 6 EMRK können sich auch juristische Personen auf die Selbstbelastungsfreiheit berufen (Gehling, aaO. 2010). Sie stehe einer Verpflichtung aus Art. 17 MMVO insoweit entgegen, als aus einer Veröffentlichung die Gefahr von Ermittlungen gegen die Emittentin wegen des Verdachts einer Verletzung von § 130 OWiG folgte (aaO. 2013 f.). Seine Ausführungen sind interessant, gehen aber im Ergebnis deutlich zu weit. Würde man Gehling folgen, so bedeutete das die faktische Abschaffung der Ad-hoc Publizität für schlechte Nachrichten, jedenfalls in allen Fällen, in denen Fehler des Unternehmens (und sei es nur theoretisch) mit einem Bußgeld geahndet werden könnten. Oder anders gesagt: Explodiert eine Fabrik, so dass Umsatzeinbußen oder eine Haftung der Emittentin zu befürchten sind, muss das ad hoc veröffentlicht werden. War eine Verletzung von Aufsichtspflichten dafür ursächlich, kann die Veröffentlichung unter Berufung auf Art. 6 EMRK unterlassen werden. Das kann nicht sein!

1. Besonderheiten der juristischen Person

Dass die Selbstbelastungsfreiheit für juristische Personen nicht in gleicher Weise gelten kann wie für natürliche, kann man sich schon an der Herkunft des nemo-tenetur-Grundsatzes klar machen. Dieser resultiert nämlich aus dem Folterverbot (dazu Zerbes ZStW 129 (2017), 1035, 1037 f.). Eine juristische Person kann aber nicht gefoltert werden und empfindet keine Schmerzen, bedarf daher auch nicht des gleichen Schutzes wie eine natürliche Person durch die Selbstbelastungsfreiheit.

Gegen die unbesehene Übertragung des nemo-tenetur Grundsatzes haben sich daher neben der schon genannten Zerbes (ausführlich auf S. 1050 f.) auch Fink in Wistra 2014, 257 ff. und Dannecker, ZStW 127,  (2015), 370 ff. ausgesprochen, weitgehend wie Gehling freilich Assmann in: Assmann/Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl. 2019, Art. 17 VO (EU) Nr. 596/2014 Rn. 76ff. Anders als Gehling in Fn. 10 glauben machen will, sind insbes. Zerbes und Dannecker eben nicht für eine „allgemeine Übertragbarkeit“ auf juristische Personen, sondern plädieren für eine differenzierte Sichtweise. Auch Dannecker gibt insoweit zu, dass neben den – übertragbaren – prozessualen Regeln auch materielle Gründe für die Selbstbelastungsfreiheit bestehen, die eben nicht einfach auf juristische Personen übertragen werden können. Wie eine Einschränkung zu erfolgen hat, ist freilich unklar und weiterer Forschung überlassen: Zerbes aaO. will insoweit einen „Druck zur Kooperation“ zulassen; Dannecker beschränkt in einem zweiten Aufsatz (ZStW 127 (2015), 991 ff.) sehr weitgehend die Selbstbelastungsfreiheit von Unternehmen. Er sieht kein Problem in einer Herausgabepflicht schon existenter Dokumente und will lediglich die Verteidigungsfähigkeit der juristischen Person aufrechterhalten, so dass das Leitungsorgan nicht zugleich als Zeuge gegen die Juristischen Person auftreten darf. Freilich bedeutete das – konsequent fortgedacht – auch aus Danneckers Sicht möglicherweise, dass von einem Emittenten nicht im Wege der Ad hoc-Publizität verlangt werden könnte, eigene Ordnungswidrigkeiten zu offenbaren.

2. Vereinbarkeit von Selbstbelastungsfreiheit und Ad hoc Publizität

Zutreffend ist: Die Behörden müssen zwar begangene Ordnungswidrigkeiten beweisen, und Organmitglieder einer juristischen Person müssen ihr eigenes Fehlverhalten nicht (selbst) veröffentlichen oder daran mitwirken. Vorstandsmitglieder oder ggf. der Aufsichtsrat müssen aber für eine Veröffentlichung sorgen, wenn sie von Fehlverhalten von Mitarbeitern oder auch von anderen Organmitgliedern erfahren, gerade wenn und weil solches Fehlverhalten (auch) zu einer Verfolgung der Gesellschaft durch Ordnungsbehörden führen kann (siehe auch mein Beitrag zum VW-Dieselskandal hier). Schließlich handelt es sich um eine Publikumsgesellschaft, die von vornherein auf höchstmögliche Transparenz angelegt ist, gerade im Interesse der Anleger. Erfüllen die übrigen Organmitglieder oder der Aufsichtsrat ihre Pflichten nicht, besteht auch eine Haftung der Gesellschaft ihren Anlegern gegenüber aus § 97 f. WpHG. Dass eine ad hoc – Publizität ggf. erst staatsanwaltliche Ermittlungen auslöst, ist unwahrscheinlich, indessen notfalls hinzunehmen. Schließlich verlangt Art. 17 MMVO von der Emittentin nicht anzugeben, wer im Vorstand welche Pflichtverletzungen begangen hat. Eine Warnung der Anleger kann auch erfolgen, ohne Details einer begangenen Ordnungswidrigkeit preiszugeben.

3. Verhinderung eines Organkartells

Nur so kann im Übrigen vermieden werden, dass die Mitglieder der Organe sich gegenseitig decken:  Gehling zieht zu Unrecht gerade den gegenteiligen Schluss und meint, wenn man dem folgte, würde sich „ein Geheimhaltungsinteresse des Emittenten umso eher durch[setzen], je mehr Mitglieder des für die Abwägungsentscheidung des Emittenten zuständigen Organs an dem strafrechtlich relevanten Verhalten beteiligt sind oder jedenfalls unter Verdacht stehen“ (aaO. S. 2009).

Diese Schlussfolgerung berücksichtigt zum einen nicht die Überwachungsfunktion des Aufsichtsrates: Begeht der Vorstand insgesamt, d.h. unter Beteiligung aller seiner Mitglieder, eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit, so muss der Aufsichtsrat für die nötige Publizität sorgen, indem er diesen Vorstand sofort abberuft und für Ersatz sorgt. Man könnte insoweit sogar – gerade wegen der Selbstbelastungsfreiheit aller Vorstandsmitglieder – daran denken, den Aufsichtsrat ausnahmsweise analog § 112 AktG die Gesellschaft vertreten zu lassen.

Zum anderen berücksichtigt sie nicht psychologische Aspekte: Offene Diskussionen über geplante Ordnungswidrigkeiten werden die Organmitglieder kaum führen, da ja jeder verpflichtet ist, die anderen davon abzuhalten. Schließlich begehen alle, die mitmachen, eine Pflichtverletzung im Sinne des §§ 93 und/oder 116 AktG. Insofern sollte denen, die nicht mitmachen wollen, stets ein gangbarer Weg eröffnet werden, selbst haftungsfrei aus der Angelegenheit herauszukommen. Die Spielregeln müssen so sein, dass es auch ohne Mitwirkung der Delinquenten zu einer Ad-hoc Meldung kommt (Stichwort: Stimmverbot der Delinquenten im Vorstand, jedenfalls aber Recht der Unbeteiligten zur Information des Aufsichtsrates). Damit sind Zentrifugalkräfte vorhanden, die ein mögliches Kartell der Organmitglieder verhindern oder auseinanderdrängen. Gehlings Modell ist hingegen dazu geeignet, potentielle whistleblower an die Leine zu nehmen. Dem sollte man nicht folgen.

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