Hier beißt sich die Katze in den Schwanz oder: warum der Rechtsverlust nach § 59 WpÜG nicht schützt
von Ulrich Wackerbarth
Habersack hat in der aktuellen NZG 2019, 881 unter dem Titel „Angemessene Gegenleistung (§ 31 WpÜG) versus angemessene Abfindung (§§305, 327?b AktG) nach „BKN“ und „Postbank““ dafür plädiert, Vorerwerbe bei der Beurteilung des Unternehmenswertes im Spruchverfahren nicht zu berücksichtigen. Diese spielten nur bei der Ermittlung des Angebotspreises im Übernahmerecht eine Rolle und darauf habe der Gesetzgeber sie auch bewusst beschränkt (aaO 883 f.). Die Ausführungen Habersacks sind indessen teilweise zirkulär und insgesamt abzulehnen. Ganz im Gegenteil bietet nichts eine so gute Beurteilung des Unternehmenswertes wie der Preis, den ein konkreter Käufer gerade bereit war, für Aktien des Unternehmens zu bezahlen. Es spricht daher nichts dagegen, Vorerwerbe auch maßgeblich bei der Ermittlung des Unternehmenswertes im Spruchverfahren zu berücksichtigen.
1. Missachtung der Angebotspflicht durch den Bieter
Das Problem lässt sich am besten anhand eines einfachen Sachverhalts erläutern.
Nehmen wir an, A hat von B ein Paket von 30% der Aktien der börsennotierten X-AG zum Preis von 100 €/Aktie gekauft, obwohl deren Börsenpreis nur 90 € ist. Dann schreiben ihm §§ 35, 31 WpÜG vor, auch allen übrigen Aktionären der X-AG ein Angebot zum Kauf aller ihrer Aktien zu 100 € zu machen.
Dies geschieht aber nicht, A gibt stattdessen nur irgendwann ein „freiwilliges“ Kaufangebot zu 90 € ab. Das nehmen einige Aktionäre an, andere aber nicht (weil es ihnen zu gering ist). Die Aktien der nicht annehmenden Aktionäre besorgt sich A anschließend, indem er einen Unternehmensvertrag mit der X-AG abschließt bzw. mit seinen Stimmen einen Squeezout durchsetzt, mit dem die noch in der X-AG verbliebenen Aktionäre beseitigt werden.
Über die richtige Abfindung nach einem solchen Unternehmensvertrag oder einem Squeezeout wird anschließend in einem Spruchverfahren gestritten. Hier macht A nun geltend, das Unternehmen sei nicht mehr als der Börsenpreis (90€/Aktie) wert. Die Aktionäre hingegen berufen sich darauf, dass A ja nie das vom WpÜG vorgeschriebene Pflichtangebot zu 100 € abgegeben hat, und wollen mindestens diese 100 €.
Das LG Köln hat nun in einer solchen Fallgestaltung (konkret: der Postbank-Übernahme) gemeint, unmittelbar anwendbar seien die Preisvorschriften des WpÜG für das Spruchverfahren nach einem Unternehmensvertrag zwar nicht. Aber würde man den Vorerwerb zu 100 € vollends außen vor lassen, entstehe für diejenigen, die das Angebot zu 90 € nicht angenommen haben, eine Schutzlücke. Denn nach dem WpÜG haben nur die annehmenden Aktionäre das Recht, später den Unterschiedsbetrag (10 €) vom Bieter zu verlangen. (LG Köln Beschlüsse v. 17.7.2017 und v. 13.3.2018 82 O 77/12, siehe dazu hier)
2. § 59 WpÜG gibt Steine statt Brot
Habersack meint nun, für eine solche Argumentation bestehe kein Anlass. Eine Schutzlücke sei zu verneinen. Die Aktionäre, die das Angebot nicht angenommen haben, könnten gegen den Zustimmungsbeschluss zum Unternehmensvertrag oder Squeezeout Anfechtungsklage erheben. Der Bieter sei nämlich bei der Abstimmung über Unternehmensvertrag oder Squeezeout mit seinen Stimmen gem. § 59 WpÜG ausgeschlossen, da er ja seiner Angebotspflicht nicht nachgekommen sei. Daher müsse eine Anfechtungsklage erfolgreich sein. Das schütze die Aktionäre genügend.
In meiner ablehnenden Stellungnahme zur BKN -Entscheidung (hier unter 2.c) hatte ich bereits darauf hingewiesen, dass der Rechtsverlust nach § 59 WpÜG den Aktionären Steine statt Brot gibt. Die Argumentation Habersacks bestätigt dies nun: Zum einen müsste dann jeder einzelne Aktionär Klage erheben, wenn er Schadensersatz haben will – denn nur dem Kläger hilft im Falle eines Freigabebeschlusses § 246 IV AktG. Das aber läuft der Ökonomisierungswirkung des Spruchverfahrens zuwider, das ja erga omnes wirkt. Oder anders gesagt: Das Spruchverfahren ist der richtige Ort, über die Frage des richtigen Preises zu diskutieren, nicht hingegen die Anfechtungsklage.
3. Ende des Rechtsverlustes bei nachfolgendem Angebot
Zum anderen aber – und hier beißt sich die Katze sehr schmerzhaft in den Schwanz — will Habersack dem Aktionär gerade dann, wenn es darauf ankommt, sein Anfechtungsrecht wieder wegnehmen: Hat nämlich der Bieter wie im Postbank-Fall statt des Pflichtangebots zu 100 € irgendwann ein „freiwilliges“ Übernahmeangebot zu 90 € abgegeben, so entfällt der Rechtsverlust nach § 59 WpÜG (und damit die Anfechtungsmöglichkeit für die verbliebenen Aktionäre).
Habersacks Auffassung schützt also gerade nicht: Wenn der Bieter einen Vorerwerb über 30% der Aktien zu 100 € getätigt hat und nun eigentlich ein Pflichtangebot abgeben müsste, so kann er dieses effektiv vermeiden. Er gibt stattdessen ein Angebot zu 90 € ab, das ein verständiger Aktionär nicht annimmt (denn dieser weiß ja, dass mindestens 100 € zu bieten wären). Anschließend aber ist der Rechtsverlust des Bieters aus dem unterlassenen Pflichtangebot Geschichte: Folgt nun ein Squeezeout oder Beherrschungsvertrag, ist der Aktionär dem schutzlos ausgeliefert.
4. Der Zweck des WpÜG
Habersack hat dies selbst erkannt. Am Ende seines Beitrags schreibt er.
„Verzichten die Aktionäre dagegen auf die Annahme des Angebots, haben sie die Folgen dieser Entscheidung auch dann zu tragen, wenn sie das Angebot, wäre es von vornherein zu dem iSv § 31 WpÜG angemessenen Preis abgegeben worden, angenommen hätten.“
Das hält Habersack für „völlig sachgerecht“. Dem verständigen Leser springt die fehlende Sachgerechtigkeit indessen sofort ins Auge. Der Sinn des WpÜG war und ist es, den Aktionären eine freie und informierte Entscheidung über das Angebot zu ermöglichen. Habersacks Auffassung zwingt sie dagegen, jedes auch noch so schlechte Angebot anzunehmen.