„Aktientipps für Philosophen“ oder: Warum so viele Worte?

von Ulrich Wackerbarth

Rainer Hank vermutet heute in der FAZ am Sonntag (S. 20) unter dem Titel „Aktientipps für Philosophen“, die Deutschen kauften möglicherweise keine Aktien, weil sie glaubten, zu wenig davon zu verstehen. „Nichts zu wissen“ helfe aber ungemein, um mit Aktien reich zu werden. Ich glaube ihm nicht. Die Deutschen kaufen keine Aktien, weil sie ganz genau wissen, dass unser Aktienrecht sie nicht hinreichend schützt. Auch wenn in diesem BLawG schon oft erklärt, möchte ich diese Behauptung an zwei hoffentlich einfachen und selbst für Philosophen einsichtigen Beispielen erneut verdeutlichen:

1. Die einfache Jagdgesellschaft

Eine Jagdgesellschaft bestehe aus 9 Personen. Zwei von ihnen bleiben im Lager, suchen Feuerholz und bereiten den Grill vor. Vier treiben das Reh in die richtige Richtung. Drei Jäger warten an unterschiedlichen Stellen mit gespanntem Bogen. Sobald das Reh in die Nähe kommt, schießen zwei ihre Pfeile, aber nur einer der beiden trifft tödlich. Zu dritt kann aber das schwere Tier ins Lager gebracht werden.

So, wer kriegt jetzt was? Da alle mitgemacht haben und jeder seinen Beitrag geleistet hat, wird das Reh gerecht geteilt.  Was indessen in einer Gesellschaft nicht geschieht, ist, dass der erfolgreiche Schütze das Tier für sich behält. Greift er es sich gleichwohl in der Absicht, es allein für sich zu haben, werden die anderen ihm dies mit Recht verbieten bzw. ihm das Reh aus der Hand schlagen.

2. Die etwas komplexere Jagdgesellschaft

Nun stellen wir uns die gleiche Jagd etwas komplizierter vor: Das Jagdgebiet, ein Wald, gehört einer Gesellschaft, die aus drei Personen besteht, 2 von ihnen haben für den Erwerb des Waldes jeweils 500.000 Euro beigesteuert, einer 1,5 Mio. Euro. Dementsprechend sind die Stimmrechte verteilt: 1:1:3. Der Wald wird nun Dritten für die Jagd wie oben beschrieben zur Verfügung gestellt. Diese zahlen dafür ein Entgelt. Am Jahresende hat die Gesellschaft einen Gewinn von 250 000 Euro gemacht. Dieser wird entsprechend den Kapitaleinlagen geteilt. Zwei Gesellschafter bekommen also jeweils 50.000 €, der dritte 150.000 €. So weit, so normal.

Will nun aber der Dritte Gesellschafter mehr als die ihm zustehenden 150.000 €, indem er z.B. mit seinen Stimmen (3 : 2) eine abweichende Gewinnverteilung beschließt, so kann ihm das nicht erlaubt sein. Auch wenn er der Meinung ist, er hätte mehr als bloß seinen Kapitalanteil zu dem erwirtschafteten Gewinn beigetragen, ihm stünde also mehr zu, ändert sich erst einmal nichts: Er mag einen erhöhten Gewinnanteil mit den anderen Gesellschaftern aushandeln (vielleicht hat er gute Gründe und sie stimmen zu), er kann ihn aber nicht nachträglich mit seinen Stimmen beschließen. Ein insoweit bestehendes Stimmverbot ist selbstverständlich.

3. Das Stimmverbot bei Insichgeschäften

Dieses Stimmverbot muss genauso gelten, wenn der Mehrheitsgesellschafter statt der von ihm gewollten anderen Gewinnverteilung einfach mit seiner Stimmenmehrheit beschließt, der Jagdgesellschaft irgend etwas zu überhöhten Preisen zu verkaufen, da dies nur ein anderer Weg wäre, das angestrebte Ziel zu erreichen und – selbstverständlich – den übrigen Gesellschaftern Mittel in die Hand gegeben werden müssen, dies wirksam zu verhindern. Oder mit den Worten des § 705 BGB: „die Gesellschafter [verpflichten sich], die Erreichung eines gemeinsamen Zweckes in der durch den [Gesellschafts-] Vertrag bestimmten Weise zu fördern.“ Die Gesellschafter sollen also gefälligst zusammenarbeiten. Sie sollen sich an die getroffenen Vereinbarungen halten, auch was die Gewinnverteilung angeht. Wenn einer sich mehr nehmen will, als vertraglich vereinbart war, dann müssen die anderen das wirksam verhindern können.

Das ist doch auch in dieser etwas komplexeren Variante nicht so schwer einzusehen, oder etwa doch?

4. Die vielen Worte der Aktionärsrechterichtlinie

Wenn das so einfach ist, warum dann in aller Welt benötigt die überarbeitete Aktionärsrichtlinie so viele Worte, Sätze und Absätze in Art. 9c, mit wortreich beschriebenen und gerade deshalb immer noch ein wenig unklareren Verfahren, Regeln und Ausnahmen, um diese Selbstverständlichkeit auszudrücken? Warum streitet man sich in Europa jahrelang über die Formulierung dieses entscheidenden Teils der Richtline?

Die Antwort ist nicht schwer: weil sich seit über 100 Jahren eine Pseudo-Elite (die glaubt, ihr stehe mehr zu als ihr rechnerischer Anteil) nicht an die einfachsten Regeln halten will, die das Funktionieren von Gesellschaften ermöglichen. Schutzinstrumente, die verhindern, dass die Kleineren von den Größeren übervorteilt werden, werden durch erfolgreiche Lobbyarbeit in umständliche Verfahren eingewebt und ihrer Funktion beraubt, damit die Großaktionäre und Mehrheitsgesellschafter dieser Welt sich einen noch größeren Teil vom Kuchen nehmen können als sie ohnehin schon haben. Die Deutschen hatten an der Verunklarung der Richtlinie übrigens einen ganz besonders großen Anteil. Und selbst über das wenige, was geblieben ist, fallen sie wie die Aasgeier her und versuchen, dem Schutz noch die geringste Wirksamkeit zu nehmen. Erfolgreich, wie man an der deutschen Umsetzung der Richtlinie sieht (siehe dazu meinen Beitrag hier).

Und dann liest man in der aktuellen FAZ, dass gar nicht verständlich sei, warum die Deutschen keine Aktien kaufen. Es ist ganz einfach: Schützt den Kleinaktionär vor unfairer Ausbeutung, dann kaufen die Deutschen auch Aktien! Aber vermutlich wird es eher andersherum laufen: Erst wenn die Niedrigzinspolitik dafür gesorgt hat, dass genügend Aktionäre vorhanden sind, wird der Ruf nach einem angemessenen Schutz nicht mehr überhört werden können.

5. Zum Schluss

Der Schriftsteller George Orwell, ein Philosoph, der nicht gerade für seine besonders optimistische Weltsicht bekannt ist, hat in seinem Werk „1984“ gesagt:

„Freiheit ist die Freiheit zu sagen, dass zwei plus zwei vier ist. Wenn das gewährt ist, folgt alles weitere.“

Ich glaube, Orwell hat dabei die Schweine aus seiner „Animal Farm“ vergessen: Wenn es ihnen gegen den Strich läuft, dann verbieten sie vielleicht nicht, 2 und 2 zusammenzuzählen und 4 zu rufen. Sie sind aber durchaus in der Lage, die daraus folgenden Konsequenzen („alles weitere“) zu verzögern, sie an komplexe Verfahren zu binden und durch wortreiches Brimborium den Kern der Wahrheit bis zur Unkenntlichkeit zu verstümmeln. Wieviel Freiheit dann noch bleibt, darf sich jeder selbst ausrechnen – wenn er noch zwei und zwei zusammenzählen kann.

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