Recht(s)kraftlos

von Ulrich Wackerbarth

Schwach und unfair – nicht anders kann man die Argumentation des BGH bezeichnen, mit der er bereits in seiner Entscheidung v. 23.5.2017 die Vererblichkeit eines rechtshängig gemachten Anspruchs auf „Schmerzens“geld, d.h. Entschädigung wegen Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts ausgeschlossen hat. Das hat jetzt die Witwe von Helmut Kohl erfahren müssen, der der BGH eine Millionenentschädigung mit der nicht sehr würdevollen Begründung verweigert, ihr verletzter Ehegatte sei eben zu früh gestorben (Entscheidung vom 29.11.2021). Nach der Entscheidung aus 2017 war die jetzt getroffene Entscheidung absehbar. Grund genug, sich die Argumentation des VI. Senats aus 2017 einmal näher anzuschauen, bevor die Begründung der aktuellen Entscheidung veröffentlicht ist.

Ausgangspunkt: Die Genugtuungsfunktion der Entschädigung

Es wird immer gefährlich, wenn der BGH mit Natur und Wesen (oder heute, etwas moderner: Funktion und Zweck) eines praeter legem geschaffenen Rechtsinstituts argumentiert. Dabei will ich gar nicht den Ausgangspunkt der BGH-Rechtsprechung zum Entschädigungsanspruch bei Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts (APR) in Zweifel ziehen (obschon man das mit guten Gründen kann): Dass die Genugtuungsfunktion der Entschädigung und der höchstpersönliche Charakter der Verletzungshandlung im Vordergrund stehen – geschenkt. Daraus hat der BGH die fehlende Vererblichkeit und Übertragbarkeit des APR-Entschädigungsanspruchs abgeleitet. Hierzu hat er den (in 1990 abgeschafften) § 847 Abs. 1 S. 2 BGB a.F. herangezogen (BGH v. 29.4.2014 Rn. 11 mit Nachweisen). Der bestimmte:

„Der Anspruch [sc. auf Schmerzensgeld] ist nicht übertragbar und geht nicht auf die Erben über, es sei denn, daß er durch Vertrag anerkannt oder daß er rechtshängig geworden ist.“

Diese Wertung hat der BGH auf den Entschädigungsanspruch aus Verletzung des APR übertragen. Eine Genugtuung gegenüber dem in seinem APR Verletzten kann nach seinem Tod nicht mehr erfolgen. Dementsprechend gibt es keinen Anspruch, wenn das postmortale Persönlichkeitsrecht verletzt wird (BGH NJW 2006, 605) – selbst das mache ich noch mit, wenngleich mir die daraus resultierende fehlende Abschreckung für derartige Taten nicht gefällt. Aber dass es dem Verletzten nichts nützt, Klage auf die Entschädigung zu erheben, sondern er auch noch das gesamte Verfahren bis zur Rechtskraft überleben muss, damit dieser Genugtuungsanspruch zu seinem vererbbaren Vermögen gehört – das ist schlicht nicht hinnehmbar.

Doppelzüngige Argumentation mit § 847 Abs. 1 S. 2 BGB a.F.

Der VI. Senat des BGH redet mit zwei Zungen, wenn er auf § 847 Abs. 1 S. 2 BGB a.F. zu sprechen kommt. Seit dessen Abschaffung im Jahr 1990 sind (allgemeine) Schmerzensgeldansprüche, nunmehr in § 253 Abs. 2 BGB geregelt, bekanntlich vererblich, weshalb gleiches in der Literatur auch für den Genugtuungsanspruch bei Persönlichkeitsrechtsverletzung gefordert wird (Nachweise in BGH v. 2014 Rn. 6). Diese Argumentation macht der BGH jedoch (nachvollziehbar) nicht mit, weil der Gesetzgeber bei der Abschaffung des § 847 Abs. 1 S. 2 BGB a.F. Ansprüche aus dem APR nicht vor Augen hatte (BGH v. 2014 Rn. 14 f.). Aber ganz sicher hat der Gesetzgeber mit der Abschaffung des § 847 I 2 BGB dann auch nicht sagen wollen, dass bei Ansprüchen aus dem APR nunmehr noch schärfere Maßstäbe für die Vererblichkeit gelten sollen, als sie der BGH ehemals aus dieser Norm hat ableiten können. Anders der VI. Senat (2017 Rn. 17):

„Der Rechtshängigkeit kann zwar auch eine rechts(ver)stärkende Wirkung zukommen …. Soweit man § 847 Absatz 1 S. 2 BGB aF und § 1300 Absatz 2 BGB eine solche Wirkung entnahm, ist diese aber bereits durch deren Streichung gegenstandslos geworden.“

Doch die fehlende Vererblichkeit und Übertragbarkeit des APR-Entschädigungsanspruchs hat der VI. Senat ja gerade aus § 847 Abs. 1 S. 2 BGB a.F. abgeleitet, siehe noch einmal ausdrücklich BGH 2014 Rn. 11 mit Nachweisen. So kann man natürlich auch argumentieren: Aus der Abschaffung einer Norm folgt nichts, außer, wenn es mir gerade in den Kram passt.

Unredlichkeit bei den Zitaten

Der VI. Senat usurpiert zudem in Rn. 18 des Urteils aus 2017 Stellungnahmen in der Literatur, die seine Rechtsprechung ablehnen: So ist etwa Spickhoff LMK 2014, 359158 für die volle Vererblichkeit der Entschädigung, wird aber vom BGH ausschließlich für seine Auffassung in dem nichtssagenden Detail zitiert, die Genugtuung sei weder mit Einreichung noch mit Zustellung der Klage erreicht; ähnliches gilt für den Aufsatz von Stender-Vorwachs, NJW 2014, 2831, 2833 sowie die Anmerkung von Geiger jurisPR-FamR 22/2014, Anm. 1 [unter C]. Sie alle halten den Anspruch ohnehin für vererblich. Wenn meine Studierenden so selektiv zitierten (nämlich dem Geist der Quellen zuwider), würfe ich Ihnen ein Fehlzitat, mindestens aber wissenschaftliche Unredlichkeit vor.

Das Scheinargument „rechtliche Anerkennung durch Rechtskraft“

Eine Grenze will der VI. Senat dann aber doch nicht erst bei der Erfüllung des Anspruchs ziehen (nach dem Motto: Der Verletzte hat einen Anspruch, wenn der Verletzer ihn erfüllt). Offenbar geriet ihm der Anspruch dann doch zu nahe an eine bloße Naturalobligation: In Rn. 18 seines Urteils aus 2017 legt er dar, die Genugtuung trete

„mit der rechtskräftigen Zuerkennung eines Anspruchs auf Geldentschädigung ein. Denn mit der Rechtskraft und nicht – wie die Revision meint – mit der Zustellung der Klage, mit der allenfalls eine Aussicht auf Genugtuung entsteht, wird eine gesicherte Position erlangt.“

Warum gerade die Rechtskraft die relevante „Zuerkennung“ des Anspruchs bedeute, die damit die Genugtuungsfunktion erfülle, kann der Senat nicht erklären. Preuß weist in LMK 2017, 395735 mit Recht darauf hin, dass

„dem Verletzten, der Genugtuung verlangt, insoweit bereits die schlichte Tatsache [genügte], dass die Rechtsordnung ihm wegen der Persönlichkeitsrechtsverletzung einen Entschädigungsanspruch gewährt, den er, sollte der Verletzer nicht freiwillig leisten, gerichtlich durchsetzen kann. Die Wirkung würde sogar verstärkt, wenn der Verletzte Gewissheit hätte, dass ein solcher Anspruch seinen Tod überdauerte.“

M.a.W.: Der gewählte Zeitpunkt für die rechtlich relevante Zuerkennung ist vom BGH vollkommen willkürlich gewählt.

Verstoß gegen die Waffengleichheit

Mit dem Argument, dass seine Auffassung zu prozessualen Verzögerungstaktiken einlädt, setzt sich der VI. Senat erst gar nicht auseinander. Vermutlich würde er auch einfach darauf verweisen, dass man einer missbräuchlichen Verzögerung ja – wenn sie denn festzustellen ist (nie!) — mit Mitteln des Rechts zu Leibe rücken könnte. Mir geht es aber gar nicht nur um die zynische Taktik des Verletzers, das Verfahren so lange zu hintertreiben, bis sich sein Problem „auf natürliche Art und Weise“ erledigt (wie ich schon einmal Arbeitgeber-Anwälte im Rahmen eines Betriebsrentenverfahrens habe reden hören).

Nein, es geht schon darum, dass Gerichtsverfahren selbst auch ohne Verzögerungstaktiken eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen. Dass es in Deutschland dauert, Recht zu bekommen, nicht zuletzt weil die Justiz unterfinanziert ist, ist bekannt und unvermeidbar. Aber dass im Falle solcher Genugtuungsklagen dabei eine Ausschlussfrist zu Lasten nur einer der beiden Seiten läuft, nämlich des Gläubigers, das stört die Waffengleichheit immens und ist nach meinem Dafürhalten Zeugnis fehlender Fairness.

 

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