Es gibt keinen russischen Präsidenten mehr!
von Ulrich Wackerbarth
Vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise kann ich nicht schweigen, ich habe das Gefühl, meiner Wut und Ohnmacht mit Worten Ausdruck verleihen zu müssen. Als Jurist bin ich darauf geeicht, Probleme lösen zu wollen – und wenn es nicht de lege lata geht, dann eben rechtspolitisch. (Nur) insofern sind Juristen auch Politiker. In der aktuellen Situation denken viele darüber nach, wie man sich selbst verhalten soll, aber auch, wie sich unsere westlichen Politiker verhalten sollen und schließlich denken manche vielleicht darüber nach, wie man mit einem Despoten und Mörder mit Atomwaffen sprechen und umgehen soll.
Annalena Baerbock hat gestern oder vorgestern gesagt, es sei eine ihrer bittersten politischen Erfahrungen, kaltblütig angelogen zu werden (von Lawrow und Konsorten), während die Vorbereitungen für den verbrecherischen Angriffskrieg liefen, der von langer Hand geplant war und den die westliche Diplomatie nicht hat verhindern können. Jetzt also, während ich dies schreibe, finden der Kampf um Kiew und damit ein sinnloses Blutvergießen statt, dessen Ende kaum abzusehen ist.
Dieser Krieg ist anders als andere Auseinandersetzungen und Waffen weltweit weder durch Religion oder Hass zwischen Völkern oder Volksgruppen, ja nicht einmal durch unterschiedliche Ideologien oder den Clash of Cultures veranlasst (oder wird dadurch befeuert), sondern allein durch das Sicherheitsbedürfnis, den Größenwahn und die Angst vor demokratischen Reformbewegungen eines einzelnen alten weißen Narzissten.
Umso sinnloser aber ist deshalb das gegenseitige Töten und Abschlachten zwischen den Angehörigen zweier „Brudervölker“. Die ukrainischen Männer bringen ihre Frauen und Kinder in Sicherheit, möglichst in den Westen und gehen dann zurück, um gegen eine Übermacht russischer Soldaten in einen aussichtslosen Kampf zu ziehen. „Wo sollen wir denn sonst hin?“ ist die Frage, die sie zu Recht stellen und die manche meiner Freunde und mich zu der Überlegung bringt: Müssen wir nicht eingreifen und nicht nur Waffen, sondern auch Soldaten zu Hilfe schicken, so wie es die Alliierten im zweiten Weltkrieg getan haben, um die von uns besetzten Gebiete zurückzuerobern und dem Schrecken ein Ende zu setzen? Und sofort anschließend frage ich mich, ob ich selbst bereit bin, mich oder meinen Sohn in die Ukraine zu schicken, um für Menschen zu kämpfen und zu sterben, die ich nicht kenne. Nein, bin ich nicht. Wäre ich es denn wenigstens, würde dasselbe mit Deutschland geschehen? Nein, ich habe mir bereits 1987 während des Wehrdienstes geschworen, niemals mit einer Waffe auf mir völlig unbekannte fremde Personen zu schießen, schon gerade wenn diese – wie in diesem Falle – es nicht besser wissen und nur Befehle befolgen.
Sollen wir gar (um alle Optionen gedanklich durchzuspielen) an schwerere Geschütze denken, die Ukraine stante pede in die NATO aufnehmen und Russland mit einem Atomschlag drohen, falls seine Soldaten nicht binnen 24 Stunden das fremde Land verlassen? Der russische Machthaber hat diese Option selbst indirekt angesprochen, als er bei Einmischung Konsequenzen androhte „wie nie zuvor in der Geschichte“, übrigens ganz im Stil des anderen zeitgenössischen Größenwahnsinnigen („Fire, fury and power the likes of wich the world has never seen“). Sollen wir also unseren Besitz, unser Leben und das unserer Kinder riskieren oder opfern, weil unser Nachbar überfallen wird? Ich bin unentschieden. Wenn der Mörder tatsächlich einen Atomschlag durchführt, falls er selbst offen damit bedroht wird, ist es vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis es auch ohne diese Drohung dazu kommt. Nur einen omnimodo facturus schrecken weder Drohungen noch Sanktionen. Andererseits ist das nur eine Vermutung, und die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Wie groß das Risiko tatsächlich ist, wissen wir nicht, der anzunehmende Schaden bei seiner Verwirklichung schreckt uns aber verlässlich von derartigen Drohungen ab.
Also ist die Konsequenz, militärisch tatenlos zuzusehen, wie das Elend seinen Lauf nimmt; wir geben die Ukraine hin, opfern die ukrainischen Männer und die russischen Soldaten, die keine Wahl haben; wir lassen Präsident Wolodymyr Selenskyj – einen mutigen ehemaligen TV-Moderator, der seiner Staatspflicht mit mehr Würde nachkommt als die ihn letztlich im Stich lassenden westlichen Politiker – absehbar umgebracht werden, da er es abgelehnt hat, sich wie ein feiger Autokrat ins Exil abzusetzen. Es bleiben die „Sanktionen“, bei denen ich mich angesichts verschiedener Berichte und Bewertungen in den Medien frage, ob sie – wenigstens auf Dauer – irgendetwas bewegen können. Heute erfahre ich, dass nur noch Deutschland und Ungarn gegen die Einbeziehung von SWIFT in den Sanktionskatalog sind. Das Für und Wider des Abschneidens Russlands aus diesem System ist ein Thema für sich. Aber geht es hier noch um inhaltliche Argumente? Seien wir glücklich, dass wir dieses Mal mit zu den Allliierten gehören: gemeinsames Handeln ist ein Wert an sich, klein-klein-deutsche Bedenkenträgerei sollte schnell zurückgestellt werden.
Würdeloser Alleinverursacher und -schuldiger dieser Katastrophe ist ein ehemaliger KGB-Chef, Plagiator und Geschichtsklitterer, der selbst nicht kämpft und nur feige seine Häscher schickt, der sich von noch schlimmeren Mördern und Schlächtern in der Geschichte nur durch wenig unterscheidet. Mit ihm zu reden, hat keinen Sinn, wie die vergangenen Jahre und Tage zeigen. Ich verstehe nicht, warum er noch Adressat hilfloser Appelle ist, während er Fakten schafft. Alle sind sich einig, dass er seit Jahren schamlos lügt; er ordnet den Tod Tausender vorsätzlich an. Wir werden es erinnern, wenn sich der Rauch gelegt hat (und falls wir dann selbst noch leben). Rückgabe der Ukraine an die Ukrainer, Wiederaufbau und Reparationen werden teuer. Zahlen sollten alle die, die sich nicht gegen den Despoten wenden, sondern sich feige in der zweiten Reihe oder hinter ihm verstecken.
Gestern haben wir mit der Familie am Tisch gesessen und diskutiert, was man (wir, Politiker, das russische Volk, wer auch immer) tun könnte, um diesen Massenmord durch einen Einzelnen zu beenden. Ich schlage vor, den Bluthund künftig zu schneiden, seinen Namen nicht mehr zu nennen und nur noch andere Russen anzusprechen und mit ihnen zu reden. Ein Familienmitglied wirft mir vor, damit nur noch mehr Öl ins Feuer zu gießen, weil man durch absichtsvolles Ignorieren Narzissten erst recht provoziere. Man soll sich auf Empathie mit den Opfern konzentrieren. Ich sehe das ein und sage nur (wie ich es auch jetzt meine), dass es mir vor allem darum geht, andere als ihn anzusprechen, die zwar nicht seine Macht haben, die man aber stärken sollte in der Hoffnung auf einen Tyrannenmord oder wenigstens einen Putsch. Denn ernstzunehmende Institutionen gibt es in Russland momentan nicht, es gibt nur noch den Despoten. Ein „Präsident“ sitzt schon der Wortherkunft nach einem entscheidenden Gremium vor. Das tut kein Tyrann, ihm gelten Gremien nichts. Und in diesem Sinne gibt es keinen russischen Präsidenten mehr.