Die Treuepflicht im Gesellschaftsrecht
von Ulrich Wackerbarth
Gerade erst gelesen und deshalb erst jetzt besprochen: Reif und Walter haben in der JuS 2021, 630 einen Aufsatz über „Die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht“ als ein Kern-Institut des Gesellschaftsrechts geschrieben, um insbesondere deren Examensrelevanz darzustellen und Hilfestellung bei der Examensvorbereitung zu geben. Ein lobenswerter Ansatz, wie mir scheint, zumal ich selbst das Gesellschaftsrecht in meiner eigenen Examensvorbereitung „auf Lücke“ gelernt habe. Prompt wurde ich im Staatsexamen mit einer gesellschaftsrechtlichen Klausur bestraft, die ich mangels näherer Kenntnisse eben der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht nur so gerade bestanden habe.
Mit Recht betonen Reif/Walter die Schwierigkeiten, die die Treuepflicht angesichts ihrer mangelnden Positivierung und ihrer Abstraktheit bei Examenskandidaten verursacht und arbeiten auf anerkennenswert knappen 5 Seiten die wesentlichen Dinge ab, die es zur Treuepflicht zu sagen gibt. Dabei bezeichnen sie die Treuepflicht zutreffend als richterrechtliche Generalklausel, die das Handeln der Gesellschafter an die Mitgesellschafter und den gemeinsamen Zweck zurückbindet. Ich erlaube mir im Folgenden drei kleinere Kritikpunkte an den Ausführungen, die sich in erster Linie als Ergänzung verstehen.
Nicht ganz glücklich bin ich mit ihrer dogmatischen Einordnung. Zwar stellen Reif/Walter die insoweit in Betracht kommenden Möglichkeiten dar (und die jeweilige Kritik daran). Ihr eigener Vorschlag (§ 241 Abs. 2 BGB) führt aber ins Nirvana. Zum einen handelt es sich bei dem durch die Schuldrechtsreform eingefügten § 241 Abs. 2 um eine der missglücktesten Vorschriften überhaupt. Warum steht dort, das Schuldverhältnis „kann“ jeden Partner zur Rücksichtnahme etc. verpflichten, wenn doch klar ist, dass es solche Rücksichtnahme in jedem Schuldverhältnis gibt, nur ihre Intensität unterschiedlich ist? Im Übrigen importiert § 241 Abs. 2 BGB letztlich nur das allgemeine Schädigungsverbot der §§ 823 ff. BGB in ein Schuldverhältnis, um § 831 BGB auszuschalten und § 278 BGB zur Anwendung zu bringen. In dieser Norm ein zentrales Institut des Gesellschaftsrechts zu verorten, erscheint mir mehr als unangebracht und der Verweis von Reif/Walter auf den — Reichweite und Folgen „offen“ lassenden — Wortlaut des § 241 Abs. 2 BGB (S. 631) lässt seinerseits alles offen und hilft daher nicht weiter.
Mir selbst ist die dogmatische Herleitung im Ergebnis freilich weniger wichtig. Festzuhalten ist vor allem, dass die Treuepflicht letztlich aus dem privatautonom gewollten Organisationsvertrag der Gesellschaftsgründer hervorgeht und über die allgemeinen Rücksichtnahmepflichten aus Gesetz (§§ 226, 823 ff. BGB) und Austauschvertrag (§ 242 BGB) deutlich hinausgeht. Wenn man „das Gesellschaftsrecht“ in einem einzigen Satz (für alle Gesellschaftsformen) zusammenfassen will, dann beinhaltet es genau die folgende Anordnung: Die Gesellschafter sollen zusammen den gemeinsamen Zweck verfolgen und nicht gegeneinander arbeiten. Scheinbar banal und pauschal, aber leider angesichts der Praxis keine überflüssige Mahnung. Diese Pflicht ist im Gesetz am ehesten in § 705 BGB erkennbar.
Ein zweiter Punkt betrifft die Darstellung des Verhältnisses der Treuepflicht zur Privatautonomie (S. 632): Hier hätte es sich angeboten, die Frage der Abdingbarkeit der Treuepflicht wenigstens kurz zur Sprache zu bringen. Denn so wenig wie der Schuldner die Haftung für vorsätzliches Verhalten im Vorhinein abbedingen kann, ist es möglich, im Gesellschaftsvertrag die Treuepflicht vorab auszuschalten. Wohl aber kann man sie modifizieren bzw. klären, was (nicht) als Verletzung der Treuepflicht gilt.
Dier letzte notwendige Ergänzung ist die fehlende Darstellung des Zusammenhangs zwischen Treuepflicht und Stimmverboten bei Gesellschaften, in denen Beschlüsse mit Stimmenmehrheit gefasst werden (S. 634 f.). Aus der Rücksichtnahme- und Förderpflicht des Gesellschafters folgt nämlich unausweichlich, dass er nicht mitstimmen darf, wenn es um die Frage geht, ob die Gesellschaft gegen ihn einen Rechtsstreit einleitet (niemand darf Richter in eigener Sache sein), und auch dann nicht, wenn es um Rechtsgeschäfte zwischen der Gesellschaft und einem Gesellschafter geht. Wenn Gesellschafterbeschlüsse mit einfacher Mehrheit zu fassen sind und ein Mehrheitsgesellschafter beschließen will, dass ihm aus der Gesellschaftskasse Geld ausgezahlt wird, dann müssen die Minderheitsgesellschafter dazu „Nein“ sagen können. Daraus folgt das Stimmverbot bei Geschäften zwischen Gesellschaft und Gesellschafter. Dieses ist seinerseits Ausfluss der Treupflicht und für das Funktionieren jeder Gesellschaft zentral, solange nicht das Einstimmigkeitsprinzip gilt. Insbesondere nach dem Wegfall des scharf verstandenen Bestimmtheitsgrundsatzes im Personengesellschaftsrechts könnten die Stimmverbote als zusätzliche formelle Grenze für Mehrheitsbeschlüsse künftig eine größere Rolle spielen.