Corporate BLawG

Cessit ratio, cessit ius ispsum
oder: Vom Wert des Kartenlegens

23. September 2019

von Ulrich Wackerbarth

Witschen beschäftigt sich in der NJW 2019, 2805 unter dem Titel „Zivilrechtliche Fragen übersinnlicher Dienstleistungen“ im Wesentlichen mit dem Kartenlege-Urteil des BGH aus dem Jahr 2011. Zu diesem Urteil ist das meiste eigentlich schon gesagt worden, Witschen meint aber offensichtlich, noch Neues hinzufügen zu können.

Am Anfang kann ich dem Beitrag folgen, insbesondere gefällt mir, wie Witschen zwischen der Zusage der Durchführung eines bestimmten Rituals (Kartenlegen/Handauflegen etc) und der Zusage eines magischen bzw. übersinnlichen Erfolgs (Heilung, Voraussage der Lottozahlen) unterscheidet, so freilich vor ihm schon Schermaier, JZ 2011, 633, 636 und manche Gerichte. Schuldrechtlich möglich ist allein das Erstgenannte. Was die Kartenlegerin im Fall des BGH zusagte, namentlich eine magische Wirkung, hält Witschen daher mit dem BGH zutreffend für unmöglich.

Der BGH hatte im Jahr 2011 gleichwohl eine Zahlungspflicht des Auftraggebers der Kartenlegerin bejaht, weil mit dem Vertrag konkludent § 326 Abs. 1 BGB (Entfall der Zahlungspflicht bei Unmöglichkeit der Leistung) abbedungen worden sei. Dagegen haben viele zu Recht eingewendet, dass im damaligen Fall keine ausdrückliche Bezugnahme auf § 326 BGB erfolgt war und eine solch zentrale Norm des Schuldrechts nicht mit einem (gedanklichen) Federstrich abbedungen werden kann (vgl. etwa Timme, MDR 2011, 398). Im Übrigen sei es widersprüchlich, wenn jemand eine Leistung einkaufe, obschon er wisse, dass sie nicht erbracht werden kann.

Witschen wirft den Kritikern vor, das sei „zu rational gedacht“. Wenn Auftraggeber und Kartenlegerin gutgläubig seien, müsse das Recht den angestrebten Austausch möglichst weitgehend nachvollziehen. Indessen: „Zu rational“ kann ein Jurist nicht denken. Und die Bedingungen für Witschens Argumentation, insbesondere die Gutgläubigkeit beider Seiten, kann im konkreten Rechtsstreit niemand überprüfen. Woher will Witschen (oder ein Richter) wissen, dass die Kartenlegerin gutgläubig war und den Auftraggeber nicht nur ausnehmen wollte? Dieser hatte schon fast 30.000 € an sie gezahlt – wie soll er ggf. nachweisen, dass die Kartenlegerin genau wusste, dass ihr Tun keinen Erfolg haben kann? Nein, an der beiderseitigen Gutgläubigkeit kann man eine mögliche Abbedingung des § 326 BGB zugunsten der Kartenlegerin nicht festmachen.

Die Wertung des § 814 BGB dürfte die Sachlage viel besser treffen: weil sich dem Auftraggeber aufdrängen musste, dass die Leistungen der Kartenlegerin nichts wert waren, erhält er das freiwillig bereits Gezahlte nicht zurück (es sei denn, zusätzlich liegt Sittenwidrigkeit vor). Und die Kartenlegerin kann den Auftraggeber umgekehrt nicht auf Zahlung des vereinbarten Honorars verklagen, weil eben § 326 Abs. 1 BGB entgegen der Auffassung des BGH gerade nicht konkludent abbedungen war. An der entscheidenden Stelle setzt sich der BGH nicht mit der Frage auseinander, unter welche Kautelen eine solche Abbedingung gestellt ist.

Das ficht Witschen indessen nicht an: er glaubt, noch ein Argument im Köcher zu haben: Selbst wenn man vom Wegfall der Gegenleistung nach § 326 Abs. 1 BGB ausginge, so könnten die Parteien nach dem bürgerlichen Recht ja unzweifelhaft eine Schenkung statt des vorliegenden Dienstvertrags vereinbaren (aaO., 2808). Damit entgeht Witschen leider genau das entscheidende Detail: Wenn die Parteien eine Schenkung vereinbaren wollen, bedürfen Sie dazu der Mithilfe eines Notars. Und dann ist auch der Auftraggeber der Kartenlegerin genügend gewarnt – ihm wird dann nämlich bildhaft vor Augen geführt, dass die „Leistung“ der Kartenlegerin im Auge der rationalen Juristen eben nichts wert ist und er ihr vielmehr nur eine Geldschenkung verspricht. Wer dennoch zahlen will, mag das gern tun. Es besteht aber kein Anlass, ohne Einhaltung einer Form den Zahlungsanspruch von Scharlatanen juristisch aufrechtzuerhalten.

Freilich kann Witschen mir zurufen: „Zu rational gedacht!“. Dagegen ist dann ebensowenig ein Kraut gewachsen wie gegen die fake news-Vorwürfe von Donald Trump in seinen Tweets. Ganz offensichtlich leben wir in einer Zeit, in der intersubjektiv überprüfbare Tatsachen und Argumente immer weiter an Bedeutung verlieren. Occultum vivat! Ich glaube, ich gehe morgen zum Kartenlegen…

 

Volkswirtschaft = alles über dem Jahresgewinn der Deutschen Bank?

8. September 2019

von Ulrich Wackerbarth

Raeschke-Kessler stellt in seinem Beitrag „Ein Lehrstück über den Lästigkeitswert: Der Vergleich Kirch/Deutsche Bank“ in der aktuellen NJW 2019, 2678, Überlegungen zum angeblich dysfunktionalen deutschen Prozessrecht an. Dieses eigne sich kaum dazu, Klagen zu verhindern, bei denen es eher darum geht, mit ihrer Lästigkeit Geld zu verdienen, als um die Sache selbst. Zentrales Thema ist die Frage, ob deutsche Gerichte wirtschaftsrechtlichen Großverfahren gewachsen sind bzw. seine Auffassung, sie seien es offenbar nicht. Als Beispiel für seine Analyse wählt Raeschke-Kessler ein weithin bekanntes Verfahren, nämlich eine Zahlungsklage über ca. 2 Mrd. € des 2011 verstorbenen Medienunternehmers Leo Kirch, das er nach dem Zusammenbruch seines Imperiums 2002 gegen die Dt. Bank führte und das (erst) im Jahr 2014 mit einem Vergleich über 925 Mio. € zugunsten seiner Erben endete.

Darstellung und Argumentation im Beitrag leiden an vielen Schwächen und werden hier zum Anlass genommen, einige Grundbegriffe zu erläutern, deren Verständnis für die Argumentation in „wirtschaftsrechtlichen Großverfahren“ m.E. unerlässlich ist.

1. Äpfel und Birnen

Schon in der Einführung wird dem Vergleichsbetrag von 925 Mio. € einfach der Gewinn der Dt. Bank aus dem Jahr 2018 (rd. 341 Mio. €) gegenübergestellt. Offenbar galt es zu zeigen, dass sich die Bank diesen Vergleich eigentlich gar nicht leisten konnte. Warum nun gerade das Jahr 2018 gewählt ist, wird nicht angegeben. Genauso hätten die Jahresverluste der Bank aus den Jahren 2016 oder 2017 genannt werden können. Im Jahr 2014 jedenfalls (und warum sollte es auf ein anderes Jahr ankommen?) wies der Geschäftsbericht der Bank an derselben Stelle noch einen Jahresüberschuss in Höhe von 1,69 Mrd. € aus. Der hier in Rede stehende Vergleich hat die Dt. Bank jedenfalls nicht in die Insolvenz getrieben.

2. Preis und Wert

Weiter geht es mit Überlegungen zum Unternehmenswert der von Kirch gehaltenen Pro7 Sat 1 Media AG. Über die AG wurde in 2002 ein Insolvenzverfahren eröffnet, für das eine öffentliche Äußerung von Rolf Breuer (damaliger Vorstand der Dt. Bank) am 3.2.2002 jedenfalls mitverantwortlich gemacht wurde. Er hatte in einem Interview nahegelegt, Kirch sei nicht mehr kreditwürdig, woraufhin alle weiteren Sanierungsgespräche scheiterten. In seiner anschließenden Klage gegen Breuer und die Dt. Bank machte Kirch geltend, durch die Insolvenz habe er seine Aktien an der Pro7 Sat 1 Media AG verloren und die seien 28,739 € je Aktie wert gewesen. Der Insolvenzverwalter hatte später die AG für lediglich umgerechnet 7,50 €/Aktie verkaufen können. Raeschke-Kessler meint nun, da nach Gerichtsfeststellungen die AG schon am 2.2.2002 (dem Tag vor dem Interview) faktisch zahlungsunfähig war, habe der „Preis“ der Aktie an diesem Tag „sehr viel näher an 7,50 € als an 28,739 € gelegen.“ (aaO. 2679).

Dem ist zu widersprechen. Zunächst einmal hat der „Preis“ der Aktie am 2.2.2002, einem Samstag, vermutlich am nächsten beim Frankfurter Börsen-Schlusskurs vom Vortag gelegen, nämlich bei 4,753 € für jede Aktie, wovon im Beitrag nicht die Rede ist. Möglicherweise meint der Autor aber auch gar nicht den Preis der Aktie am 2.2.2002 sondern den Marktwert des Unternehmens, umgerechnet auf eine Aktie. Dann handelt es sich nur um einen sprachlichen Missgriff. Aber auch dann verstehe ich nicht, woher die Wert-Vermutungen stammen. Mir scheinen sie aus der Luft gegriffen zu sein. Bloße Zahlungsunfähigkeit (Illiquidität) besagt nicht notwendig etwas über den Unternehmenswert. Dessen Ermittlung verlangt komplexe Untersuchungen. Und das im Beitrag zitierte Urteil des OLG München meint (unter D. 2. e) viii) der Gründe) insoweit, bereits vorhandene Vergleichsangebote zeigten, dass die 28,739 € ihrerseits nicht so fern lagen. Der Beitrag spricht demgegenüber von einer mindestens um 961 Mio. überhöhten Klage – und bleibt Beweise, ja schon plausible Anhaltspunkte für diese Behauptung schuldig.

In Wikipedia findet sich zur Kirch Insolvenz die Feststellung: „Insgesamt wurden nach 13 Auszahlungen knapp 2 Milliarden Euro an die Gläubiger zurückgezahlt, was einer ungewöhnlich hohen Quote von rund 40 % der ungesicherten Forderungen entspricht“. Bei solchen Zahlen erscheint die Behauptung einer überhöhten Klage von Kirch gegen die Dt. Bank ihrerseits unplausibel.

3. Risikofreie Streitwertüberhöhung?

Obschon also keineswegs feststeht, dass der „Wert der Zahlungsklage“ „überhöht“ war, so versucht der Beitrag anschließend zu zeigen, dass eine solche Überhöhung für den Kläger Kirch praktisch risikofrei war, aber ihrerseits eine erhebliche Lästigkeit für die Dt. Bank entfaltet hatte . Denn ab 30 Mio. € steige das das Kostenrisiko nicht weiter, weil § 39 GKG, § 33 FamGKG, § 22 RVG es auf einen Streitwert von höchstens 30 Mio. € begrenzen (aaO., 2679). Das mag ja sein. Dass deshalb praktisch ab diesem Streitwert risikofrei überhöhte Klagen erfolgen könnten, stimmt indessen keineswegs. Verlangt man das Doppelte von dem, was geschuldet ist, verliert man die Klage zu 50%: Folglich trägt man 50% der Kosten, die Überhöhung ist keineswegs „ohne jedes eigene Risiko“. Ich bin kein Prozessrechtler, aber dies sollte jedermann einleuchten.

4. Die Vorteile der Geheimhaltung – ausgerechnet im Streit Kirch/Dt. Bank?

Mit zur Lästigkeit der Kirch-Klage gehörte die Öffentlichkeit des ganzen Verfahrens. Die Dt. Bank wurde insoweit „an den Pranger gestellt“. Die Berichterstattung über den Fall in den Medien dürfte vielleicht auch die Vergleichsbereitschaft der Dt. Bank am Ende erhöht haben (aaO. 2681). Insoweit will ich überhaupt nicht widersprechen. Raeschke-Kessler preist insoweit die Vorteile eines Schiedsverfahrens, das einen Pranger der Dt. Bank wirksam verhindert hätte. Wenn es denn eine Schiedsklausel gegeben hätte, hätte das Verfahren nach § 43 DIS-SchiedsO 1998 vertraulich bleiben müssen, die Parteien wären zur Verschwiegenheit verpflichtet. So etwas müsse künftig auch bei großen Wirtschaftsprozessen der ordentlichen Gerichtsbarkeit gelten bzw. möglich werden. Das Gericht müsse auf Antrag einer Partei bei Nachweis eines berechtigten Interesses in jedem Stadium des Verfahrens dessen Vertraulichkeit anordnen können, bei Verstoß müsse direkt ein Schadensersatz mit abgeurteilt werden können.

Über diesen rechtspolitischen Vorschlag kann man geteilter Meinung sein. Ausgerechnet das Kirch-Verfahren als dringendes Beispiel für eine solche Rechtsänderung heranzuziehen, erscheint mir indessen unangebracht. Es war doch gerade eine öffentliche Äußerung, ein Interview mit Rolf Breuer, das letztlich nur wegen seiner öffentlichen Wirkung das Vertrauen in die Sanierungsfähigkeit der Kirch-Gruppe zerstört und damit deren Insolvenz ausgelöst hatte. Dass die Dt. Bank, die gerade wegen dieser Medienwirkung verklagt wurde, anschließend vor Gericht die erforderliche Vertraulichkeit des Verfahrens soll geltend machen können, steht dazu in unvereinbarem Gegensatz.

5. Was ist das überhaupt — ein „Lästigkeitswert“?

Wie man als Aktionär Geld allein mit der Lästigkeit einer Klage verdienen kann, haben in der Vergangenheit die sog. Berufskläger vorgemacht. Sie profitierten insbesondere davon, dass ihre Anfechtungsklagen lange Zeit die Eintragung wichtiger Hauptversammlungsbeschlüsse in das Handelsregister und damit Kapitalmaßnahmen oder Fusionen verhindern konnten. Eine Anfechtungsklage bedeutete Zeitverzug und war deshalb für die AG lästig, auch und gerade dann, wenn sie unbegründet war. Diese Lästigkeit haben sich die Kläger vergüten lassen und die Klagen nur gegen Bezahlung zurückgenommen. Solche Einnahmemöglichkeit haben verschiedene Reformen im Aktienrecht jedoch mittlerweile ausgeschaltet. Was im hier kritisierten Beitrag vorgetragen wird, hat m.E. mit einem so verstandenen Lästigkeitswert von unrechtmäßigen Klagen nichts mehr zu tun.

Wenn etwa die statistisch geringen Erfolgsaussichten einer Nichtzulassungsbeschwerde gegen ein Berufungsurteil als „natürlicher Lästigkeitswert“ zulasten der Dt. Bank in den Vergleichsverhandlungen angeführt werden (aaO. 2684), so hat das keinen Bezug zu einer unbegründeten Klage. Vielmehr ist hier ja schon ein stattgebendes Urteil des OLG in der Welt. Dass es sich vor einem stattgebenden Urteil für die Beklagtenseite nicht mehr ganz so komfortabel verhandelt, ist selbstverständlich, aber keine Folge einer lästigen, unbegründeten Klage, sondern der Berufungsentscheidung.

Auch eine mögliche Voreingenommenheit der Richter am OLG hätte den Lästigkeitswert der Klage für die Dt. Bank erhöht (aaO. 2683). Das erscheint mir ebenfalls nicht nachvollziehbar. Erstens werden im Beitrag Indizien für eine Voreingenommenheit der Oberlandesrichter sowohl gegenüber der Beklagen- als auch gegenüber der Klägerseite geschildert. Was soll daraus folgen? Und zweitens gibt der Beitrag selbst zu, er kenne keine Abhilfe gegen derartige Voreingenommenheit. Wenn das so ist, dann kann auch nicht schlechtes Prozessrecht für solche Probleme verantwortlich gemacht werden.

Schließlich soll die Tatsache, dass die Erben offenbar einem Dritten einen Teilbetrag des Vergleichs versprochen hatten, nach dem Beitrag den Lästigkeitswert (von was?) erhöhen (aaO. 2683 f.). Mir leuchtet auch das nicht ein – warum sollte sich der Vorstand der Bank auf eine höhere Vergleichssumme einlassen, nur weil die Klägerseite Dritten etwas versprochen hat?

6. Betriebswirtschaft und Volkswirtschaft

Am Schluss aber setzt der Beitrag dem Ganzen noch die Krone auf: Addiere man in Gedanken die im einzelnen dargestellten Lästigkeitswerte [die freilich nirgends beziffert werden], so ergebe sich eine Zahl, die den Gewinn der Dt. Bank im Jahr 2018 (die bereits erwähnten 341 Mio. €) deutlich übersteigen dürfte. Daher habe der Vergleich Kirch/Dt. Bank „nicht nur eine betriebswirtschaftliche, sondern sogar eine volkswirtschaftlich bedeutsame Dimension erreicht“ (aaO. 2684).

Das freut nun wieder den Verfasser dieses Beitrags. Schaut man in Wikipedia nach der Definition von Volkswirtschaft, so erhält man so langweilige Definitionen wie „Gesamtheit aller einem Wirtschaftsraum zugeordneten Wirtschaftssubjekte“ oder „Fragen nach dem Bruttoinlandsprodukt, dem Volkseinkommen, der Einkommensverteilung, der Preisentwicklung, dem Beschäftigungsgrad“. Demgegenüber meint wiederum Betriebswirtschaft die Abläufe in einzelnen Unternehmen bzw. Organisationen und deren Beziehungen untereinander. Dank Raeschke-Kessler weiß ich nun: Alles deutlich über 341 Mio. € ist Volkswirtschaft. So einfach kann es sein…

Hier beißt sich die Katze in den Schwanz oder: warum der Rechtsverlust nach § 59 WpÜG nicht schützt

10. August 2019

von Ulrich Wackerbarth

Habersack hat in der aktuellen NZG 2019, 881 unter dem Titel „Angemessene Gegenleistung (§ 31 WpÜG) versus angemessene Abfindung (§§305, 327?b AktG) nach „BKN“ und „Postbank““ dafür plädiert, Vorerwerbe bei der Beurteilung des Unternehmenswertes im Spruchverfahren nicht zu berücksichtigen. Diese spielten nur bei der Ermittlung des Angebotspreises im Übernahmerecht eine Rolle und darauf habe der Gesetzgeber sie auch bewusst beschränkt (aaO 883 f.). Die Ausführungen Habersacks sind indessen teilweise zirkulär und insgesamt abzulehnen. Ganz im Gegenteil bietet nichts eine so gute Beurteilung des Unternehmenswertes wie der Preis, den ein konkreter Käufer gerade bereit war, für Aktien des Unternehmens zu bezahlen. Es spricht daher nichts dagegen, Vorerwerbe auch maßgeblich bei der Ermittlung des Unternehmenswertes im Spruchverfahren zu berücksichtigen.

1. Missachtung der Angebotspflicht durch den Bieter

Das Problem lässt sich am besten anhand eines einfachen Sachverhalts erläutern.

Nehmen wir an, A hat von B ein Paket von 30% der Aktien der börsennotierten X-AG zum Preis von 100 €/Aktie gekauft, obwohl deren Börsenpreis nur 90 € ist. Dann schreiben ihm §§ 35, 31 WpÜG vor, auch allen übrigen Aktionären der X-AG ein Angebot zum Kauf aller ihrer Aktien zu 100 € zu machen.

Dies geschieht aber nicht, A gibt stattdessen nur irgendwann ein „freiwilliges“ Kaufangebot zu 90 € ab. Das nehmen einige Aktionäre an, andere aber nicht (weil es ihnen zu gering ist). Die Aktien der nicht annehmenden Aktionäre besorgt sich A anschließend, indem er einen Unternehmensvertrag mit der X-AG abschließt bzw. mit seinen Stimmen einen Squeezout durchsetzt, mit dem die noch in der X-AG verbliebenen Aktionäre beseitigt werden.

Über die richtige Abfindung nach einem solchen Unternehmensvertrag oder einem Squeezeout wird anschließend in einem Spruchverfahren gestritten. Hier macht A nun geltend, das Unternehmen sei nicht mehr als der Börsenpreis (90€/Aktie) wert. Die Aktionäre hingegen berufen sich darauf, dass A ja nie das vom WpÜG vorgeschriebene Pflichtangebot zu 100 € abgegeben hat, und wollen mindestens diese 100 €.

Das LG Köln hat nun in einer solchen Fallgestaltung (konkret: der Postbank-Übernahme) gemeint, unmittelbar anwendbar seien die Preisvorschriften des WpÜG für das Spruchverfahren nach einem Unternehmensvertrag zwar nicht. Aber würde man den Vorerwerb zu 100 € vollends außen vor lassen, entstehe für diejenigen, die das Angebot zu 90 € nicht angenommen haben, eine Schutzlücke. Denn nach dem WpÜG haben nur die annehmenden Aktionäre das Recht, später den Unterschiedsbetrag (10 €) vom Bieter zu verlangen. (LG Köln Beschlüsse v. 17.7.2017 und v. 13.3.2018 82 O 77/12, siehe dazu hier)

2. § 59 WpÜG gibt Steine statt Brot

Habersack meint nun, für eine solche Argumentation bestehe kein Anlass. Eine Schutzlücke sei zu verneinen. Die Aktionäre, die das Angebot nicht angenommen haben, könnten gegen den Zustimmungsbeschluss zum Unternehmensvertrag oder Squeezeout Anfechtungsklage erheben. Der Bieter sei nämlich bei der Abstimmung über Unternehmensvertrag oder Squeezeout mit seinen Stimmen gem. § 59 WpÜG ausgeschlossen, da er ja seiner Angebotspflicht nicht nachgekommen sei. Daher müsse eine Anfechtungsklage erfolgreich sein. Das schütze die Aktionäre genügend.

In meiner ablehnenden Stellungnahme zur BKN -Entscheidung (hier unter 2.c) hatte ich bereits darauf hingewiesen, dass der Rechtsverlust nach § 59 WpÜG den Aktionären Steine statt Brot gibt. Die Argumentation Habersacks bestätigt dies nun: Zum einen müsste dann jeder einzelne Aktionär Klage erheben, wenn er Schadensersatz haben will – denn nur dem Kläger hilft im Falle eines Freigabebeschlusses § 246 IV AktG. Das aber läuft der Ökonomisierungswirkung des Spruchverfahrens zuwider, das ja erga omnes wirkt. Oder anders gesagt: Das Spruchverfahren ist der richtige Ort, über die Frage des richtigen Preises zu diskutieren, nicht hingegen die Anfechtungsklage.

3. Ende des Rechtsverlustes bei nachfolgendem Angebot

Zum anderen aber – und hier beißt sich die Katze sehr schmerzhaft in den Schwanz —  will Habersack dem Aktionär gerade dann, wenn es darauf ankommt, sein Anfechtungsrecht wieder wegnehmen: Hat nämlich der Bieter wie im Postbank-Fall statt des Pflichtangebots zu 100 € irgendwann ein „freiwilliges“ Übernahmeangebot zu 90 € abgegeben, so entfällt der Rechtsverlust nach § 59 WpÜG (und damit die Anfechtungsmöglichkeit für die verbliebenen Aktionäre).

Habersacks Auffassung schützt also gerade nicht: Wenn der Bieter einen Vorerwerb über 30% der Aktien zu 100 € getätigt hat und nun eigentlich ein Pflichtangebot abgeben müsste, so kann er dieses effektiv vermeiden. Er gibt stattdessen ein Angebot zu 90 € ab, das ein verständiger Aktionär nicht annimmt (denn dieser weiß ja, dass mindestens 100 € zu bieten wären). Anschließend aber ist der Rechtsverlust des Bieters aus dem unterlassenen Pflichtangebot Geschichte: Folgt nun ein Squeezeout oder Beherrschungsvertrag, ist der Aktionär dem schutzlos ausgeliefert.

4. Der Zweck des WpÜG

Habersack hat dies selbst erkannt. Am Ende seines Beitrags schreibt er.

„Verzichten die Aktionäre dagegen auf die Annahme des Angebots, haben sie die Folgen dieser Entscheidung auch dann zu tragen, wenn sie das Angebot, wäre es von vornherein zu dem iSv § 31 WpÜG angemessenen Preis abgegeben worden, angenommen hätten.“

Das hält Habersack für „völlig sachgerecht“. Dem verständigen Leser springt die fehlende Sachgerechtigkeit indessen sofort ins Auge. Der Sinn des WpÜG war und ist es, den Aktionären eine freie und informierte Entscheidung über das Angebot zu ermöglichen. Habersacks Auffassung zwingt sie dagegen, jedes auch noch so schlechte Angebot anzunehmen.

Related Party Transactions forever – von der Verhinderung einer Richtlinie

25. Mai 2019

von Ulrich Wackerbarth

Related Parties, das sind nahestehende Personen, insbesondere kontrollierende Aktionäre wie z.B. Konzernmuttergesellschaften. Diese können den Vorstand einer Aktiengesellschaft dazu bewegen, ihnen durch sog. Related Party Transactions (kurz RPT) Geld zuzuschustern. Solche Rechtsgeschäfte zu kontrollieren und dadurch verdeckte Vermögensverlagerungen an Related Parties zu verhindern, das ist u.a. Ziel der Aktionärsrechterichtlinie II, an deren Umsetzung der Gesetzgeber zur Zeit arbeitet.

Lieder und Wernert ziehen in der aktuellen ZIP 2019, 989 unter dem Titel „Related Party Transactions: Ein Update zum Regierungsentwurf des ARUG II“ eine positive Bilanz zu den jüngeren Veränderungen bei der Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie II im laufenden Gesetzgebungsverfahren. Eine nunmehr geplante „behutsame und unbürokratische Umsetzung der Vorgaben der ARRL“ vermeide „Überregulierung und Doppelungen“ und trage „dem hohen Schutzniveau des geltenden Rechts“ Rechnung.

Nachdem ich mir den Entwurf etwas näher angeschaut habe, kann ich ihr positives Fazit nicht teilen. Alles ist praktikabler geworden und vereinfacht, das stimmt. Aber den eigentlichen Zweck der Richtlinie verfehlt die derzeit ins Auge gefasste Regelung wie deutsches Aktienrecht seit jeher. Das von den Autoren zu Recht „lückenhaft“ genannte Konzernrecht verhindert keine verdeckten Vermögensverlagerungen, weshalb die Aktionärsrechterichtlinie II eine Chance bot, das in der Welt hinterherhinkende deutsche Aktienrecht deutlich zu verbessern. Und was für ein Aufwand dafür betrieben wurde und noch wird. Doch der Berg kreiste und gebar eine Maus. Schon zwei kurze Gesichtspunkte machen klar, dass das neue Recht nichts Entscheidendes bewegen wird.

The winner takes it all

Der mit 51% kontrollierende Aktionär wählt nicht etwa etwas mehr als die Hälfte der Aufsichtsratsmitglieder. Er kann mit seiner Mehrheit – jedenfalls abseits der Mitbestimmung — vielmehr allein darüber entschieden, wer Aufsichtsratsmitglied wird. Alle Aufsichtsratsmitglieder sind daher von ihm gewählt. Nun gilt aber wie stets im Leben: „Wes Brot ich eß‘, des Lied ich sing‘“: Wer glaubt ernsthaft, dass auch nur eines dieser von ihm bestimmten Mitglieder tatsächlich eine „unabhängige Entscheidung“ über ein Rechtsgeschäft gerade mit dem Aktionär fällen wird, dem das Mitglied sein Amt verdankt? Wer wird seinem Brötchengeber die Stirn bieten und sagen, eine beabsichtigte Transaktion sei unfair und benachteilige die AG?

Trotzdem sieht das Gesetz gerade keinen pauschalen Ausschluss aller vom kontrollierenden Aktionär bestimmten Aufsichtsratsmitglieder von dem Genehmigungsprozess vor. Ausgeschlossen ist nur, bei wem „die Besorgnis eines  Interessenkonfliktes aufgrund ihrer Beziehungen zu der nahestehenden Person“ besteht.

Und nach Lieder/Wernert gilt dafür:

„Eine solche Konfliktlage kann sich aus Beziehungen geschäftlicher, finanzieller oder persönlicher Art ergeben. Der Aufsichtsrat als Gesamtgremium kann die für einen Interessenkonflikt sprechenden Kriterien präzisieren und in diesem Kontext die EU-Empfehlungen zur Unabhängigkeit von Aufsichtsratsmitgliedern und zur Unabhängigkeit des Abschlussprüfers als Orientierungspunkte heranziehen.“

Es gibt also eine Einzelfallbetrachtung, für die auch noch der Gesamtaufsichtsrat zuständig ist. Aber wer wird zugeben, dass irgendein anderes Mitglied in diesem Sinne befangen ist, wenn doch alle befangen sind? Schon das legt nahe, dass es hier nicht wirklich um die erforderliche Kontrolle des herrschenden Aktionärs geht.  Geplant ist ein reines Feigenblatt, das den Schmuh verdeckt, der in deutschen Konzernen seit 100 Jahren und länger an der Tagesordnung ist.

Wieviel sind 2,5% vom Anlage- und Umlaufvermögen?

Selbst wenn es eine unabhängige Kontrolle der RPT gäbe, sie griffe erst dann ein, wenn der herrschende Aktionär den Bilanzgewinn an der Minderheit vorbei bereits in die eigene Tasche gewirtschaftet hat. Kontrolliert werden nämlich nur wesentliche Geschäfte und diese sind nach § 111b Abs. 1 AktG-E solche, die im Geschäftsjahr (kumuliert) 2,5% der Summe aus Anlage- und Umlaufvermögen übersteigen. Dass dies nicht viel hilft, zeigt folgende Überlegung: 2,5 % vom Anlage und Umlaufvermögen wären etwa (völlig willkürlich herausgegriffenes Beispiel) bei der Bayer AG (ca 83 Mrd. Euro Aktiva im Jahr 2018 x 0,025=) 2,075 Mrd Euro. Bayer hat im Jahr 2018 einen Bilanzgewinn von 2,6 Mrd. Euro erzielt. Also hätte Bayer im Geschäftsjahr 2018 einer nahestehenden Person 4/5 ihres Jahresgewinns rundheraus schenken (oder, um das Feigenblatt zu wahren, für wertlose Beratertätigkeit bezahlen) können, ohne dass es zu einer Kontrolle nach dem neuen Gesetz gekommen wäre. Wieviel Verhinderung von unberechtigten Ausschüttungen liegt in einer solchen Regelung? Und weiter: In großen Konzernen kann die Muttergesellschaft Vermögenstransfers statt an sich selbst auch an andere 100%ige Töchter veranlassen: dann kann sie den Freibetrag gleich mehrfach ausnutzen, weil im Gesetz keine Zurechnungsregeln stehen. Dann ist der Schutz gleich Null.

Nein: solange nicht die Minderheit jemanden bestimmen kann, der für sie die notwendige Zustimmung zu RPT geben kann und solange dieser gewählte Vertreter nicht selbst entscheiden kann, welche Geschäfte relevant sind und welche nicht, und solange dieses Kontrollsystem nicht für sämtliche konzerninternen Transaktionen gilt, wird es nicht zu einer Kontrolle von RPT kommen, die diesen Namen auch verdient. Bei dem Gesetzesentwurf der großen Koalition geht es nicht um die Umsetzung einer Europäischen Richtlinie, sondern um deren Verhinderung im deutschen Recht.

Auf dem Holzweg: Bearbeitungsgebühren sind keine Zinsen

27. November 2018

von Ulrich Wackerbarth

Von „Holzwegen und rhetorischen Tricks“ berichten Bitter und Linardatos in der aktuellen  ZIP 2018, 2249 unter dem vielsagenden Titel „Erdachte Leitbilder im Darlehensrecht“. Bisher hatte ich immer gedacht, nur Wirtschaftswissenschaftler reden gerne aneinander vorbei. Die Kontroverse zwischen Bitter/Linardatos und dem XI. Senat des BGH über die Zulässigkeit von Bearbeitungsgebühren für Darlehen in AGB ist aber ein Musterbeispiel dafür, wie auch Juristen sich gegenseitig nicht zuhören (oder nicht zuhören wollen?).

1. Die erste Entscheidung und das Mißverständis von Bitter/Linardatos

Der XI. Senat hatte im März 2018 Bearbeitungsgebühren in AGB auch für den Fall untersagt, dass dem Darlehensnehmer zwei Alternativen (eine mit und eine ohne Bearbeitungsentgelt) zur Wahl gestellt werden. Er geht (im Übrigen schon seit 2014) davon aus, dass nach dem gesetzlichen Leitbild in § 488 Abs. 1 BGB jedenfalls in AGB nur Zinsen und keine Einmalentgelte verlangt werden können.

Daraufhin hatten Bitter/Linardatos in der ZIP 2018, 1203 dem XI. Senat Inkonsistenz, einen richterlichen Zwang zur Ineffizienz und andere unschöne Dinge vorgeworfen. Besonders gestört hat sie das Zitat der Entscheidung des III. Senats aus 1978 (das Zitat ist allerdings nur in der früheren Entscheidung aus 2014 zu finden), der damals eine Zinsdefinition von Canaris aufgriff. In der Entscheidung des III. Senats und bei Canaris stünde nämlich insgesamt das Gegenteil von dem, was der XI. Senat für richtig halte.

Der III. Senat hatte mit dem Verweis auf Canaris zwischen laufzeitabhängigen Entgelten (Zins) und laufzeitunabhängigen Entgelten (Bearbeitungsgebühr) unterschieden und beide als mögliche Entgeltbestandteile betrachtet. Hier nun erfolgt das erste Mißverständnis von Bitter/Linardatos: Der XI. Senat berief sich (in 2014, Rn. 43) nur für die Definition des Zinses auf die Entscheidung aus 1978, nicht aber bei der Beurteilung der AGB-rechtlichen Zulässigkeit des Bearbeitungsentgelts. Insoweit war das Zitat jedenfalls zutreffend.

2. Die zweite Entscheidung und die mißverständliche Formulierung des XI. Senats

Nur wenige Monate später reagiert der XI. Senat. In seiner neuen Entscheidung aus Oktober 2018 zitiert der XI. Senat nun Bitter/Linardatos und weist deren Kritik als „unzutreffend“ zurück, weil er die Entscheidung des III. Senats von 1978 ja richtig zitiert hatte. Das war zwar nachvollziehbar, was die verfehlte formale Kritik am BGH anging (siehe soeben). Zugleich aber übergeht der XI. Senat die vom Autorenteam geäußerte Kritik am richterlichen „Zwang zur Ineffizienz“, der inkonsistenten Empfehlung einer Mischkalkulation und dem Verstoß gegen den Geist der Entscheidung des III. Senats.

3. Das nächste Mißverständnis von Bitter/Linardatos

Bitter/Linardatos nehmen das in ihrer neuerlichen Äußerung nun als rhetorischen Trick wahr („der Gegenseite wird eine Position unterstellt, die sie gar nicht vertreten hat, um diese sodann als fehlerhaft zu widerlegen“, aaO. ZIP 2018, 2250):

„Der XI. Zivilsenat unterstellt uns, wir hätten laufzeitunabhängige Entgelte als Zins eingeordnet,…“

Wenn man die oben wiedergegebene Passage in der zweiten Entscheidung des XI. Senats liest,

„…laufzeitunabhängige Entgelte keine Zinsen im Sinne des bürgerlichen Rechts darstellen (so auch schon BGH, Urteil vom 9. November 1978 – III ZR 21/77, WM 1979, 225, 227 f., unzutreffend deshalb Bitter/Linardatos, ZIP 2018, 1203).“

so stimmt das gerade nicht: Der XI. Senat entnahm vielmehr dem ursprünglichen Aufsatz den Vorwurf, er habe den III. Senat falsch zitiert, nur diesen Vorwurf bemängelt er an der fraglichen Stelle als unzutreffend.

4. Die ineffiziente Quersubention

So kommt es dann am Ende, dass weder über den Kern der Kritik, noch über entscheidende Aspekte der Argumentation des XI. Senats gesprochen wird. Dem Quersubventionsargument von Bitter/Linardatos kann nämlich zum einen entgegengehalten werden, dass in jedem Versicherungsvertrag die Quersubvention geradezu Vertragsgegenstand ist. Dort geht es um Verteilung von Risiken, hier ebenfalls, nämlich um die Risiken für den Darlehensgeber aus vorzeitiger Rückzahlung des Darlehens.

Und die von Bitter/Linardatos in ZIP 2018, 1203 als inkonsistent kritisierte Abweichung von der Rechtsprechung zu den Kontoauszügen, wo der Senat eine Mischkalkulation ausdrücklich verboten hatte, war durch die dortige Gesetzeslage erzwungen. Das verschweigen Bitter/Linardatos leider. Anders hingegen der XI. Senat, wenn er in seiner diesbezüglichen Entscheidung in Rn. 25 ausdrücklich auf § 675d Abs. 3 S. 2 BGB a.F. (jetzt § 675d Abs. 4 S. 2) verweist.

5. Das angebliche Anliegen des III. Senats

Aber auch was den Geist der Entscheidung des III. Senats angeht, liegen Bitter/Linardatos letztlich falsch: Der III. Senat hat 1978 nicht etwa Bearbeitungsgebühren für zulässig erklärt. Vielmehr hat er lediglich festgestellt, dass bei der Beurteilung der Sittenwidrigkeit eines Darlehens nicht allein auf den Zins abgestellt werden darf, sondern sämtliche Zahlungspflichten des Darlehensnehmers miteinzubeziehen sind: In der Entscheidung des III. Senats wurde das fragliche Darlehen im Ergebnis für sittenwidrig gehalten – und deshalb steht dort gerade nicht, was Bitter/Linardatos gerne hätten, nämlich die Zulässigkeit von Einmalentgelten, und schon gar nicht steht da das „exakte Gegenteil dessen, was uns der XI. Senat … weismachen will“. Wenn die Autoren also dem XI. Senat in ihrem aktuellen Aufsatz vorwerfen, er „verdrehe Canaris´ Anliegen“, so richtet sich der Vorwurf der Verdrehung vielmehr gegen sie selbst.

6. „Erdachtes Leitbild“ oder nicht?

Es bleibt das Argument, der BGH habe das Leitbild des § 488 BGB, nach dem angeblich die Darlehensgegenleistung typischerweise nur der Zins ist, frei erfunden (ZIP 2018, 2252). Die Gesetzesbegründung ist insoweit tatsächlich unergiebig. Dass der Zins als laufzeitabhängiges Entgelt zum Darlehen gehört, wollen wahrscheinlich nicht einmal Bitter/Linardatos bestreiten. Ob man ein „typischerweise nur“ zum Gesetzeswortlaut addieren soll oder nicht, ob man also in der bloßen Tatsache, dass das Gesetz als Entgelt nur den Zins erwähnt, einen wesentlichen Grundgedanken des Gesetzes erkennt oder nicht, dürfte letztlich Geschmackssache sein: Grundgedanke des Gesetzes und Ausdruck von Gerechtigkeit sind letztlich stets, was der zuständige Richter dafür hält. Dafür trägt allerdings in erster Linie der Gesetzgeber die Verantwortung, weil er es war, der § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB formuliert und die Entscheidung damit in die Hände des XI. Senats gelegt hat. Insofern beklagen Bitter/Linardatos unter III. ihres neuen Beitrags letztlich nur, was bei der Inhaltskontrolle von AGB ohnehin schon alle wissen: Das dispositive Recht ist so leicht nicht durch AGB abzuändern, da ist im Zweifel § 307 BGB vor. Eine spezifische Kritik an der neuen Entscheidung enthält das aber nicht.

7. Umgehung des § 502 BGB bei Zulässigkeit von Bearbeitungsgebühren

Wie der XI. Senat bereits 2014 (Rn. 79 ff.) erläutert hatte (was Bitter/Linardatos unterschlagen), ist das Verbot von Bearbeitungsgebühren in Verbraucherverträgen geradezu geboten, um nicht § 502 BGB leerlaufen zu lassen. Bei Verbraucherdarlehen kann nach neuem Recht jederzeit eine Darlehensrückzahlung erfolgen, dabei ist die zu leistende Vorfälligkeitsentschädigung gem. § 502 Abs. 3 Nr. 1 BGB auf 1% des zu früh bezahlten Betrages (!) begrenzt. Dem Darlehensgeber können so u.U. erhebliche Beträge entgehen, auf die er nach dem Vertrag bereits einen Anspruch hätte.

Beispiel: Darlehen in Höhe von 10.000 € für 4 Jahre bei 3 % Zinsen und endfälliger Rückzahlung bedeutet für die Bank geplante Einnahmen von 1200 € (nebst Darlehensrückzahlung). Wird dieses Darlehen nun nach 1 Jahr zurückgezahlt (was § 500 Abs. 2 S. 1 BGB erlaubt), schuldet der Darlehensnehmer § 502 Abs. 3 Nr. 1 BGB höchstens 1% des zurückgezahlten Betrags, d.h. lediglich 100 € (neben den 300 € Zinsen für das erste Jahr). Der Bank entgehen also 800 Euro, die sie aufgrund der festen Laufzeit des Vertrages eigentlich schon sicher hatte. Dass sie die 10.000 € wieder hat, ermöglicht ihr nicht notwendig, damit ähnliche Beträge zu erwirtschaften.

Würde der Bank nun gestattet, statt der 3% Zinsen einfach einen Zinssatz von 2,5 % in den Vertrag zu schreiben, daneben aber 200 € nicht rückzahlbare Bearbeitungsgebühr zu nehmen, sähe die Rechnung für sie im Fall vorzeitiger Rückzahlung schon viel besser aus: Geht alles gut, so erhält die Bank (4 x 2,5% von 10.000 € + 200 € =) 1200 €, also den gleichen Betrag wie im Ausgangsfall. Zahlt der Darlehensnehmer aber nach 1 Jahr vollständig zurück, so schuldet er 250 € Zinsen, daneben 200 € Bearbeitungsgebühr (nicht rückzahlbar) sowie 1% des Darlehensbetrags, d.h. noch einmal 100 Euro: Die Bank erhielte hier 550 € statt nur 400 € wie im Ausgangsfall. Dem Sinn und Zweck von § 502 Abs. 3 Nr. 1 BGB entspricht das nicht, nach § 512 BGB ist diese Gestaltung daher verboten. Man kann dem XI. Senat deshalb nicht gut vorhalten, er „trage die Vertragsfreiheit zu Grabe“ (so aber Bitter/Linardatos, ZIP 2018, 1203), wenn es am Ende doch der Gesetzgeber ist, der dieses Begräbnis anordnet (näher zum Ganzen, insb. zum Verhältnis von AGB-Kontrolle zu §§ 502, 512 BGB siehe im Übrigen zutreffend Schild, WM 2017, 1443).

8. Ungenügende argumenta ad absurdum

Weiter greifen Bitter/Linnardatos den BGH unter IV. mit Argumenten an, die dieser bereits bei seiner Grundsatzentscheidung im Jahr 2014 (Rz. 47) gehört und verworfen hatte, also ein weiteres Beispiel für ein Aneinander-Vorbei-Reden: Dass in anderen Vertragstypen einmalige Vergütungen bei Vorfeldleistungen üblich seien (Anfahrtskosten beim Werkunternehmer, Endreinigung bei Ferienwohnung), spielt nach dem XI. Senat keine Rolle, da die Beispiele weder tatsächlich noch rechtlich vergleichbar seien. Warum Bitter/Linardatos dies nun im Jahr 2018 wieder aufgreifen, ist nicht recht ersichtlich. Gerade bei der Endreinigungspauschale zeigt sich doch der Unterschied zwischen der Gebrauchsüberlassung von Gegenständen auf Zeit und einem Darlehen besonders klar: Geld muss bei der Rückgabe nun einmal nicht gereinigt werden.

Aber Bitter/Linardatos gehen noch weiter und fragen, ob Entgelt für die Anlieferung, für Porto und Verpackung – folgte man dem XI. Senat — konsequent mit dem gesetzlichen „Leitbild“ des Kaufvertrags nicht vereinbar und somit verboten wäre (ZIP 2018, 2253). Nein, lautet die Antwort, die Versandkosten sind schon in § 269 BGB ausdrücklich erwähnt und, da im Zweifel eine Holschuld vorliegt, sind die damit verbundenen Aufwendungen auch eine vergütungsfähige eigenständige Leistung des Verkäufers. Auch hier reden die Autoren an den Argumenten des XI. Senats erkennbar vorbei: Dieser lässt in AGB (!) ja durchaus auch dann einmalige Nebenentgelte zu, wenn damit eine abgrenzbare Sonderleistung des Schuldners vergütet werden soll (siehe hier Rn. 24, 48 ff.). Verpacken und Versenden gehören sicher dazu.

Allerdings würde ich selbst im Sinne der Rechtsprechung des XI. Senats und wohl entgegen Bitter/Linardatos Autohändlern verbieten, per AGB Geld für die Lieferung des Kfz zu verlangen, wenn nicht irgendwo – z.B. am Werk – eine kostenfreie Abholung möglich ist. Denn ansonsten verlangen die Verkäufer Entgelte für die Erbringung einer Leistung, die sie ohnehin bereits aufgrund des Kaufvertrags schulden – hier sollte der VIII. Senat des BGH einmal gefragt werden, ob er das Gebaren von VW und Co. angesichts der Rechtsprechung des XI. Senats so einfach erlauben will.

9. Auswege für die Banken?

Was schließlich die vom Autorengespann unter V. vorgeschlagenen Ausweichmöglichkeiten angeht, so lösen diese sich unter Berücksichtigung des soeben Dargestellten in Luft auf: Bitter/Linardatos schlagen vor, statt eines Bearbeitungsentgelts ausdrücklich im Vertrag ein (nicht rückzahlbares) „Entgelt“ für die Wahlmöglichkeit eines Vertrags mit geringeren Zinsen, mit Sondertilgungsrechten oder mit anderen Laufzeiten zu vereinbaren. Das lautet dann wie folgt:

„Der Kreditnehmer wünscht a) eine Absenkung des Zinssatzes um … %, b) die Möglichkeit, den Kreditvertrag bereits nach … Monaten/Jahren kündigen zu können, c) ein Sondertilgungsrecht im Umfang von … pro Jahr gegen Zahlung eines einmaligen Entgeltes i. H. v. … Euro (differenziert nach den Optionen a) bis c) oder als Gesamtentgelt für die Option[en]); dieses Entgelt ist bei vorzeitiger Kreditrückführung nicht (anteilig) rückzahlbar.“

Wegen der ausdrücklichen Verknüpfung zwischen dem Einmalentgelt und der den Darlehensnehmer begünstigenden Option seien dann selbst dem XI. Senat „die Hände gebunden“. Die Klausel zugunsten des Verbrauchers in einen wirksamen Teil (etwa den geringeren Zins) und einen unwirksamen (das Entgelt) zu teilen, sei als weitreichender Eingriff in die Vertragsfreiheit „selbst dem Bankrechtssenat“ nicht zuzutrauen.

Wenn sich Bitter/Linardatos da mal nicht täuschen: Entgelt für „geringere Zinsen“ ist ein Widerspruch in sich und kann keinesfalls dazu führen, dass das gezahlte „Entgelt“ kontrollfrei oder mit dem Zinsnachlass unteilbar verknüpft bleibt. Werden geringere Zinsen vereinbart, so hat ein Vertragspartner Verhandlungserfolg gehabt, dieser Erfolg ist keine vergütungsfähige Sonderleistung des anderen Teils. Erkennt man, dass Verhandlungserfolg keine abgrenzbare „Sonderleistung“ ist, bleibt die nackte Zahlungspflicht – und diese ist nichts anderes als ein Bearbeitungsentgelt und damit unwirksam, ohne dass der XI. Senat hier irgendwelche Klimmzüge vornehmen müsste. Gleiches gilt für das vorgeschlagene Entgelt für eine frühere Kündigungsmöglichkeit oder das Sondertilgungsrecht, auch diese Vertragsvarianten stellen keine Leistung, sondern ein Zugeständnis dar, das nicht gesondert durch Einmalentgelt vergütet werden kann.

10. Fazit

Der XI. Senat wird den einmal eingeschlagenen Weg fortsetzen, auch wenn er nach Meinung von Bitter und Linardatos auf dem Holzweg ist. Doch können ihre Gegenargumente nicht überzeugen. Für Verbraucherkredite ist dem XI. Senat auch zuzustimmen. Aber vielleicht ist das letzte Wort zumindest bei Darlehen an Unternehmen noch nicht gesprochen. Man wird sehen.

Wertlos, aber teuer oder: Die Weltverbesserer vom WDR

22. November 2018

von Ulrich Wackerbarth
Heute morgen, 8.45 h auf dem Weg zur FernUniversität. WDR 2 Morgenmagazin mit Jan Malte Andresen. Thema: Mehrere Jobs und wie schlimm das alles ist.

Über diesen Beitrag habe ich mich genügend geärgert, um meinerseits diesen Blog-Beitrag zu schreiben. Wie einseitig kann eine Berichterstattung noch ausfallen? Die Arzthelferin mit 1400 Euro netto, die ihr Leben nicht finanzieren kann, benötigt einen zweiten Job. Das ist nicht schön. Aber nicht nur die Tatsache, neben einem 40-Stunden Job noch mehr arbeiten zu müssen, belastet sie. Vor allem schwierig ist die Organisation, man steht ständig zwischen zwei Arbeitgebern. Kann man nachvollziehen. Dann kommt die Psychologin: Das alles ist nicht nur körperlich anstrengend, sondern es bedeutet vor allem auch eine erhebliche Belastung für die Psyche. Streß halt.

Und jetzt die Lösung: Vollzeitarbeitsplätze und mehr Geld. Und das ist alles. Mehr kommt nicht. Nun haben wir es den bösen Arbeitgebern aber mal ordentlich gezeigt. Unter denen gibt es nämlich ausschließlich Ausbeuter. Keiner von denen ist ein Mensch und hat Verständnis für andere. Keiner sieht sich durch Wettbewerbsdruck daran gehindert, höhere Löhne zu bezahlen, und jeder könnte ständig gut bezahlte Vollzeitstellen schaffen, tut es aber aus reiner Bosheit nicht. Es gibt auch keinen demographischen Wandel, der unweigerlich für „isländische Zustände“ sorgen wird. Zahnarzt, Feuerwehrmann und Profi-Fußballer zugleich sein? Gott bewahre… Es kann ja nicht sein, dass es irgendwann nicht mehr genügend Arbeitskräfte gibt und wir dann vieles selbst erledigen müssten („Die Axt im Haus usw. …“).

Solche einseitigen Beiträge werden von meiner Haushaltsabgabe bezahlt, abgesegnet von einem Bundesverfassungsgericht, das hier leider keinen Sinn für das richtige Maß gehabt hat. Keiner, der in dem Beitrag nach „Vollzeitarbeitsplätzen und mehr Geld“ ruft, hat jemals selbst ein Unternehmen gegründet oder auch nur einen einzigen Arbeitsplatz geschaffen. Irgendjemand sagt, bei dem Thema komme Wut in ihm hoch. Das kann ich bestätigen, freilich richtet sich die meine in eine gänzlich andere Richtung.

Nemo tenetur delicta ad hoc publicare?

25. Oktober 2018

von Ulrich Wackerbarth
Gehling überlegt in der aktuellen ZIP 2018, 2008 ff. unter dem Titel „Selbstbelastung und Selbstbelastungsfreiheit“, inwieweit sich börsennotierte Unternehmen auf den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit („nemo tenetur se ipsum accusare“) berufen können und ob dieser Grundsatz der Ad-hoc Publizität bei schlechten Nachrichten entgegenstehen kann. Beides bejaht Gehling mit scheinbar sorgfältiger Begründung. Zwar nicht nach deutschem Verfassungsrecht, wohl aber nach Art. 6 EMRK können sich auch juristische Personen auf die Selbstbelastungsfreiheit berufen (Gehling, aaO. 2010). Sie stehe einer Verpflichtung aus Art. 17 MMVO insoweit entgegen, als aus einer Veröffentlichung die Gefahr von Ermittlungen gegen die Emittentin wegen des Verdachts einer Verletzung von § 130 OWiG folgte (aaO. 2013 f.). Seine Ausführungen sind interessant, gehen aber im Ergebnis deutlich zu weit. Würde man Gehling folgen, so bedeutete das die faktische Abschaffung der Ad-hoc Publizität für schlechte Nachrichten, jedenfalls in allen Fällen, in denen Fehler des Unternehmens (und sei es nur theoretisch) mit einem Bußgeld geahndet werden könnten. Oder anders gesagt: Explodiert eine Fabrik, so dass Umsatzeinbußen oder eine Haftung der Emittentin zu befürchten sind, muss das ad hoc veröffentlicht werden. War eine Verletzung von Aufsichtspflichten dafür ursächlich, kann die Veröffentlichung unter Berufung auf Art. 6 EMRK unterlassen werden. Das kann nicht sein!

1. Besonderheiten der juristischen Person

Dass die Selbstbelastungsfreiheit für juristische Personen nicht in gleicher Weise gelten kann wie für natürliche, kann man sich schon an der Herkunft des nemo-tenetur-Grundsatzes klar machen. Dieser resultiert nämlich aus dem Folterverbot (dazu Zerbes ZStW 129 (2017), 1035, 1037 f.). Eine juristische Person kann aber nicht gefoltert werden und empfindet keine Schmerzen, bedarf daher auch nicht des gleichen Schutzes wie eine natürliche Person durch die Selbstbelastungsfreiheit.

Gegen die unbesehene Übertragung des nemo-tenetur Grundsatzes haben sich daher neben der schon genannten Zerbes (ausführlich auf S. 1050 f.) auch Fink in Wistra 2014, 257 ff. und Dannecker, ZStW 127,  (2015), 370 ff. ausgesprochen, weitgehend wie Gehling freilich Assmann in: Assmann/Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl. 2019, Art. 17 VO (EU) Nr. 596/2014 Rn. 76ff. Anders als Gehling in Fn. 10 glauben machen will, sind insbes. Zerbes und Dannecker eben nicht für eine „allgemeine Übertragbarkeit“ auf juristische Personen, sondern plädieren für eine differenzierte Sichtweise. Auch Dannecker gibt insoweit zu, dass neben den – übertragbaren – prozessualen Regeln auch materielle Gründe für die Selbstbelastungsfreiheit bestehen, die eben nicht einfach auf juristische Personen übertragen werden können. Wie eine Einschränkung zu erfolgen hat, ist freilich unklar und weiterer Forschung überlassen: Zerbes aaO. will insoweit einen „Druck zur Kooperation“ zulassen; Dannecker beschränkt in einem zweiten Aufsatz (ZStW 127 (2015), 991 ff.) sehr weitgehend die Selbstbelastungsfreiheit von Unternehmen. Er sieht kein Problem in einer Herausgabepflicht schon existenter Dokumente und will lediglich die Verteidigungsfähigkeit der juristischen Person aufrechterhalten, so dass das Leitungsorgan nicht zugleich als Zeuge gegen die Juristischen Person auftreten darf. Freilich bedeutete das – konsequent fortgedacht – auch aus Danneckers Sicht möglicherweise, dass von einem Emittenten nicht im Wege der Ad hoc-Publizität verlangt werden könnte, eigene Ordnungswidrigkeiten zu offenbaren.

2. Vereinbarkeit von Selbstbelastungsfreiheit und Ad hoc Publizität

Zutreffend ist: Die Behörden müssen zwar begangene Ordnungswidrigkeiten beweisen, und Organmitglieder einer juristischen Person müssen ihr eigenes Fehlverhalten nicht (selbst) veröffentlichen oder daran mitwirken. Vorstandsmitglieder oder ggf. der Aufsichtsrat müssen aber für eine Veröffentlichung sorgen, wenn sie von Fehlverhalten von Mitarbeitern oder auch von anderen Organmitgliedern erfahren, gerade wenn und weil solches Fehlverhalten (auch) zu einer Verfolgung der Gesellschaft durch Ordnungsbehörden führen kann (siehe auch mein Beitrag zum VW-Dieselskandal hier). Schließlich handelt es sich um eine Publikumsgesellschaft, die von vornherein auf höchstmögliche Transparenz angelegt ist, gerade im Interesse der Anleger. Erfüllen die übrigen Organmitglieder oder der Aufsichtsrat ihre Pflichten nicht, besteht auch eine Haftung der Gesellschaft ihren Anlegern gegenüber aus § 97 f. WpHG. Dass eine ad hoc – Publizität ggf. erst staatsanwaltliche Ermittlungen auslöst, ist unwahrscheinlich, indessen notfalls hinzunehmen. Schließlich verlangt Art. 17 MMVO von der Emittentin nicht anzugeben, wer im Vorstand welche Pflichtverletzungen begangen hat. Eine Warnung der Anleger kann auch erfolgen, ohne Details einer begangenen Ordnungswidrigkeit preiszugeben.

3. Verhinderung eines Organkartells

Nur so kann im Übrigen vermieden werden, dass die Mitglieder der Organe sich gegenseitig decken:  Gehling zieht zu Unrecht gerade den gegenteiligen Schluss und meint, wenn man dem folgte, würde sich „ein Geheimhaltungsinteresse des Emittenten umso eher durch[setzen], je mehr Mitglieder des für die Abwägungsentscheidung des Emittenten zuständigen Organs an dem strafrechtlich relevanten Verhalten beteiligt sind oder jedenfalls unter Verdacht stehen“ (aaO. S. 2009).

Diese Schlussfolgerung berücksichtigt zum einen nicht die Überwachungsfunktion des Aufsichtsrates: Begeht der Vorstand insgesamt, d.h. unter Beteiligung aller seiner Mitglieder, eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit, so muss der Aufsichtsrat für die nötige Publizität sorgen, indem er diesen Vorstand sofort abberuft und für Ersatz sorgt. Man könnte insoweit sogar – gerade wegen der Selbstbelastungsfreiheit aller Vorstandsmitglieder – daran denken, den Aufsichtsrat ausnahmsweise analog § 112 AktG die Gesellschaft vertreten zu lassen.

Zum anderen berücksichtigt sie nicht psychologische Aspekte: Offene Diskussionen über geplante Ordnungswidrigkeiten werden die Organmitglieder kaum führen, da ja jeder verpflichtet ist, die anderen davon abzuhalten. Schließlich begehen alle, die mitmachen, eine Pflichtverletzung im Sinne des §§ 93 und/oder 116 AktG. Insofern sollte denen, die nicht mitmachen wollen, stets ein gangbarer Weg eröffnet werden, selbst haftungsfrei aus der Angelegenheit herauszukommen. Die Spielregeln müssen so sein, dass es auch ohne Mitwirkung der Delinquenten zu einer Ad-hoc Meldung kommt (Stichwort: Stimmverbot der Delinquenten im Vorstand, jedenfalls aber Recht der Unbeteiligten zur Information des Aufsichtsrates). Damit sind Zentrifugalkräfte vorhanden, die ein mögliches Kartell der Organmitglieder verhindern oder auseinanderdrängen. Gehlings Modell ist hingegen dazu geeignet, potentielle whistleblower an die Leine zu nehmen. Dem sollte man nicht folgen.

Sie haben Ihre Vertragspflichten erfüllt – und damit Ihre Rechte verwirkt!

26. Juli 2018

von Ulrich Wackerbarth

Unter dem etwas sperrigen Titel: „Der Verwirkungseinwand beim Widerruf von Verbraucherdarlehens-verträgen: Tatbestand einer unzulässigen Rechtsausübung oder teleologische Reduktion?“ rollt Feldhusen in BKR 2018, 284 die Frage auf, ob und unter welchen Umständen Verbraucher ihr Widerrufsrecht verwirken können, obschon sie darüber nicht bzw. nicht ordnungsgemäß belehrt wurden.

I. Widerruf bereits abgewickelter Verträge?

Manche Verbraucher waren auf die Idee gekommen, bereits abgewickelte Immobiliendarlehensverträge zu widerrufen, auch nachdem diese schon beendet waren, etwa um eine gezahlte Vorfälligkeitsentschädigung zurückzubekommen. Dies schien möglich, da sie – was nicht selten vorkam – über ihr gesetzliches Widerrufsrecht nicht ausreichend belehrt worden waren. Dem wollten einige Oberlandesgerichte u.a. mit einer Vermutung begegnen, dass das (unverjährbare) Widerrufsrecht verwirkt sei, sobald eine gewisse Zeit nach der Beendigung verstrichen war, z.B. 6 Monate. Der BGH hat sich zunächst gegen jede gesetzesgleiche Vermutungsregel gewehrt (BGH v. 11.10.16 XI ZR 482/15 Rn. 30) und will stets auf den Einzelfall schauen, wie es sich bei dem aus § 242 BGB abgeleiteten Rechtsinstitut der Verwirkung auch gehört. Allerdings ruderte der XI. Senat in der Folgezeit zurück, so dass der Verwirkungseinwand salonfähig wurde. Am besten fasst er selbst seine Entscheidungsreihe in BGH v. 23.1.18 XI ZR 298/17 (=NJW 2018, 1390) zusammen. In einer Entscheidung vom 5.6.2018 hebt der XI. Senat das ehemalige Vermutungsverbot allerdings praktisch auf, siehe dazu unten unter IV.

Feldhusen zeigt minutiös auf, warum die Argumente des XI. Senats für seine derzeitige Rechtsprechung mit den Regeln des Instituts Verwirkung im Ergebnis nicht vereinbar sind. Anders als die vielfachen Stellungnahmen von interessierter Seite, mit denen sich Feldhusen ihrerseits kritisch auseinandersetzt, ist der Aufsatz dabei wohltuend neutral gehalten und verdient uneingeschränkte Zustimmung. Zutreffend weist Feldhusen (BKR 2018, 287 f.) etwa daraufhin, dass der Widerruf im wirtschaftlichen Ergebnis keineswegs zu einem „zinsfreien Darlehen“ führt, wie Kritiker glauben machen wollen, sondern zu einer Vertragsanpassung an den Marktzins. Neben der Verwirkung geht sie auf weitere Möglichkeiten ein, dem ewigen Widerrufsrecht ein Ende zu setzen. Im Folgenden soll aber nur das Institut der Verwirkung behandelt werden.

II. Keine Kenntnis des Verbrauchers erforderlich, trotz fehlerhafter Widerrufsbelehrung?

Im Ausgangspunkt stellt sich die Frage, ob man dem Verbraucher, der sich – unzutreffend belehrt – ja im Irrtum befindet, überhaupt einen Strick drehen kann, wenn er seinen Widerruf so spät erklärt. Insoweit ist zwar richtig und wird auch von Feldhusen anerkannt, dass Kenntnis des Verbrauchers vom Widerrufsrecht keine notwendige Voraussetzung der Verwirkung ist – man kann auch ein Recht verwirken, wenn man es nicht kennt. So nimmt denn auch der BGH an, die Unkenntnis des Darlehensnehmers von seinem Widerrufsrecht ändere nichts an der Möglichkeit der Verwirkung.

Indessen darf umgekehrt der Darlehensgeber, so zu Recht Feldhusen, aaO. 289 unter E. II., nicht auf ein Unterlassen des Verbrauchers vertrauen, wenn er für diese Unkenntnis selbst mitverantwortlich ist. Das wußte schon vor über 60 Jahren der II. Senat (BGH NJW 1957, 1358), den der XI. Senat geradezu im Stil eines Winkeladvokaten für seine Behauptung heranzieht, auf die Kenntnis des Verbrauchers komme es nicht an, auch wenn der Darlehensgeber keine ordnungsgemäße Widerrufsbelehrung erteilt hat (so BGH v. 10.10.17 XI ZR 443/16 Rn. 26): In der zitierten Entscheidung aus 1957 heißt es nämlich nicht nur:

„Die Verwirkung kann auch gegen den Willen des Berechtigten eintreten, da insoweit die an Treu und Glauben ausgerichtete objektive Bewertung, nicht aber der subjektive Willensentschluß des Berechtigten entscheidend ist. In dieser Hinsicht kommt der rechtliche Unterschied zwischen der Verwirkung und einem stillschweigenden Verzicht zum Ausdruck (RGZ 134, 270).“

sondern auch (im unmittelbaren Zusammenhang):

„Wenn auch im allgemeinen der Einwand der Verwirkung nicht dadurch ausgeschlossen wird, daß dem Berechtigten der ihm zustehende Anspruch unbekannt war (RGZ 134, 41), so muß doch etwas anderes gelten, wenn dem Berechtigten gerade wegen eines unredlichen und heimlichen Verhaltens des Verpflichteten der ihm deshalb zustehende Schadensersatzanspruch unbekannt geblieben ist. Denn eine dadurch bedingte verspätete Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs kann bei objektiver Beurteilung niemals als ein Verstoß gegen Treu und Glauben betrachtet werden und kann daher auch niemals den Einwand der Verwirkung rechtfertigen.“

Auch bei unverschuldet unrichtiger Widerrufsbelehrung ist es für meine Begriffe selbstverständlich, dass der Darlehensgeber nicht vertrauen darf, wenn er davon ausgehen muss, dass der Verbraucher sein Recht nicht kennt. Mindestens setzt ein Vertrauen trotz eigenen Fehlverhaltens einen Akt voraus, der dieses Fehlverhalten wieder beseitigt, auch wenn es unverschuldet sein mag. Liegt dieses in der Täuschung des Anderen, auf dessen Verhalten man nun vertrauen will, setzt das selbstverständlich voraus, dass man den Irrtum aufklärt.

III. Keine Nachbelehrung bei beendeten Verträgen?

Gegen diesen actus contrarius als Voraussetzung für die Schutzbedürftigkeit des Unternehmers meint der BGH ein argumentatives Allheilmittel gefunden zu haben,  das Feldhusen zwar referiert, aber leider nicht näher kritisiert.

So heißt es in BGH 12.7.16 XI ZR 501/15 Rn. 41:

„Eine Nachbelehrung ist indessen nach Vertragsbeendigung sinnvoll nicht mehr möglich, weil die Willenserklärung des Verbrauchers, deren fortbestehende Widerruflichkeit in das Bewusstsein des Verbrauchers zu rücken Ziel der Nachbelehrung ist, für den Verbraucher keine in die Zukunft gerichteten wiederkehrenden belasteten Rechtsfolgen mehr zeitigt.“

Daraus soll nun folgen, dass der Unternehmer, der diese angeblich sinnlose Nachbelehrung unterlässt, trotz des Fehlers auf einmal wieder schutzwürdig wird.

Aber wo bleibt hier die Logik? Nur weil der Verbraucher angesichts einer Vertragsbeendigung künftig keine weiteren Nachteile aus einer Willenserklärung gewärtigen muss, folgt doch daraus in keiner Weise irgend etwas für die Frage, ob nun der Unternehmer auf ein Verhalten des Verbrauchers vertrauen darf! Es bleibt doch vielmehr bei der Tatsache, dass der Unternehmer angesichts seines eigenen Fehlers keinen Anlass hat zu glauben, dass der irrende Verbraucher auch dann stillhalten wird, wenn er seinen Irrtum entdeckt.

IV. Am Ende: konkrete Umstände oder bloßer Zeitablauf?

Aber selbst wenn man einmal unterstellte, die Schutzbedürftigkeit des Darlehensgebers sei bei Vertragsbeendigung wiederhergestellt (quod non), so haben die Richter i.a.R. keine Umstände in der Hand, die sie dem Verbraucher vorhalten oder zugunsten des Unternehmers ins Feld führen könnten. So geben weder die Tatsache, dass der Verbraucher den Wunsch hatte, den Vertrag zu beenden, noch (erst recht) die bloße Tatsache eines Aufhebungsvertrags dem Unternehmer irgend etwas in die Hand, auf das er sein Vertrauen im Sinne eines guten Glaubens stützen könnte. Erneut bestätigt sich in derartigem Verhalten lediglich der bestehende Irrtum des Verbrauchers, den der Unternehmer durch die falsche Widerrufsbelehrung verursacht hat. Völlig grotesk wird es, wenn der BGH diese beiden Umstände dann auch noch als „in besonderem Maße“ hervorhebt, so also ob auch ohne solche Verbrauchererklärungen, die das Ende des Vertrags herbeiführen, irgendein Vertrauensumstand für den Darlehensgeber vorhanden wäre (BGH XI ZR 298/17 Rn. 16).

Es verwundert dann kaum noch, wenn der XI Senat schlußendlich geradezu hintenherum etwas erlaubt, was er im Wege eines (offensichtlich:) bloßen Lippenbekenntnisses den OLGen zuvor verboten hat (siehe etwa BGH v. 15.5.18 XI ZR 508/16 Rn. 13), nämlich allein aus einem Zeitablauf auf Verwirkung zu schließen. In seiner Entscheidung vom 5.6.2018 XI ZR 577/16 Rn. 4 billigt der XI. Senat nunmehr die Annahme von Verwirkung, weil die Vorinstanz angeblich neben der unzulässigen Vermutungsregel auch Einzelfallumstände im Wege einer ausreichenden Abwägung zugunsten des Darlehensgebers berücksichtigt hatte. Was aber hatte das OLG außer bloßem Zeitablauf nach Vertragsbeendigung für seine umfassende Abwägung der Einzelfallumstände in der Hand? Richtig: nichts, aber auch gar nichts. Die entscheidende Passage im Urteil des OLG Schleswig lautet:

„Überdies hat sich die Beklagte auch unabhängig von der vom Senat postulierten tatsächlichen Vermutung – bei einer Betrachtung des Einzelfalls – darauf eingerichtet, dass die Kläger von ihrem Widerrufsrecht keinen Gebrauch mehr machen würden und sie durfte hierauf auch vertrauen. Der Darlehensvertrag war bereits seit (spätestens) September 2013 vollständig abgewickelt. Die Kläger haben den Widerruf erst mit Schreiben vom 28.4.2014, also (mind.) sieben Monate später, erklärt. Der Lebenssachverhalt ist abgeschlossen. Nach der Lebenserfahrung hat die Beklagte die an sie zurückgezahlte Valuta verwandt, um mit ihr zu arbeiten.“

Die angeblichen Individualumstände waren also zum einen die Tatsache, dass der Darlehensgeber behauptete, nach Vertragsbeendigung das Geld anderweitig verwendet zu haben. Das aber ist selbstverständlich und eignet sich nicht zur Klärung der Frage, ob der Darlehensgeber vertrauen durfte. Zum anderen wies das OLG als angeblichen zusätzlichen Umstand darauf hin, dass der Vertrag „seit (spätestens) September 2013 vollständig abgewickelt“ war. Was anderes ist das als Zeitablauf nach Vertragsbeendigung? Hiermit wird ein nullum zu einem Umstandsmoment hochstilisiert und so getan, als hätte der Darlehensnehmer durch die Abwicklung ein Verhalten an den Tag gelegt, aus dem der Darlehensgeber Schlüsse ziehen dürfte. In Wahrheit fehlt es solchen Fällen am Umstandsmoment – und der XI. Senat weiß das auch ganz genau.

Am Ende bleibt das Fazit: Aus dem bloßen Umstand, dass ein Verbraucher sein Widerrufsrecht ausübt, das ihm wegen falscher Widerrufsbelehrung zusteht, eine illoyale Verspätung zu konstruieren, ist ein Kunststück, das nur Juristen gelingt und leider beweist, wie gering das Gesetz vor seiner sophistischen Auslegung wiegt.

Diskriminierung im Staatsexamen? oder: „Glaube keiner Statistik, die Du nicht selbst gefälscht hast“

4. Mai 2018

von Ulrich Wackerbarth

Ende letzter Woche berichtete die FAZ über eine empirische Studie von Towfigh/Traxler/Glöckner mit dem Titel „Geschlechts- und Herkunftseffekte bei der Benotung juristischer Staatsprüfungen“, an der u.a. mein Kollege an der Fernuniversität Andreas Glöckner beteiligt war. Die Studie, die in der ZDRW 2018, 111 veröffentlicht ist, wurde mit Mitteln des Landes NRW und mit Informationen des Justizministeriums über die Einzelbenotung unterstützt. Den Wissenschaftlern waren in einer Vorgängerstudie (ZDRW 2014, 8) über Lernfortschritt bereits im Jahr 2013 bzw. 2014 Notenunterschiede „aufgefallen“, die sie nach eigenem Bekunden zu einer intensiveren Untersuchung veranlassten. Ich selbst habe von der Studie am letzten Donnerstag aus der Zeitung erfahren.

Von den vielen Punkten, in denen die Untersuchung angreifbar ist, greife ich mir hier – ganz willkürlich – einige heraus, die nur die Geschlechtseffekte betreffen.

1. Voreingenommenheit der Prüfer wegen der Vornoten?

 

Großen Wert legen die Autoren auf die von ihnen beobachtete „Diskontinuität der Notenverteilung“ rund um die entscheidenden Notenstufen, also auf die Tatsache, dass die Gesamtnote fast nie eine 8,9 (ab 9,0 ist das vollbefriedigend erreicht) oder 6,4 (ab 6,5 ist befriedigend) ist. Die Prüfungskommission lässt einen Kandidaten(***) vielmehr entweder klar scheitern oder hebt ihn auf die nächste Notenstufe; im Nichterreichen der Notenschwelle liegt also ein eigenständiges Signal. Die Autoren tun so, als sei das Willkür der Prüfungskommission (ZDRW 2018, 140).

„Dieses Signal ist indessen nicht frei von Willkür, es hängt in hohem Maße von der konkreten Zusammensetzung der Prüfungskommission ab und enthält ein starkes dezisionistisches Element:“

Zunächst: jede Beurteilung durch Prüfer enthält naturgemäß ein starkes dezisionistisches Element, jede Beurteilung hängt von der Zusammensetzung der Prüfungskommission ab. Vor allem aber: Willkür liegt schon deshalb nicht vor, weil das Vorgehen der Prüfer gesetzlich geboten ist, was die Autoren vergessen zu erwähnen. § 18 Abs. 4 JAG NRW lautet nämlich:

„Der Prüfungsausschuss kann bei der Entscheidung über das Ergebnis der staatlichen Pflichtfachprüfung von dem rechnerisch ermittelten Wert für die Gesamtnote um bis zu einem Punkt abweichen, wenn dies auf Grund des Gesamteindrucks den Leistungsstand des Prüflings besser kennzeichnet und die Abweichung auf das Bestehen keinen Einfluss hat.“

Nur damit das nicht mißverstanden wird: „kann … abweichen“ heißt nicht, die Prüfer könnten machen, was sie wollen. Vielmehr müssen sie in jedem Einzelfall ihr Ermessen ausüben und sich Gedanken darüber machen, ob die in aller Regel bessere mündliche Leistung des Kandidaten (selbst diese Tatsache ist übrigens erklärlich, da Mißverständnisse – anders als bei den Klausuren – durch Nachfrage aufgeklärt werden können) seinen Leistungsstand besser kennzeichnet. Dies und nicht eine „strategische Generosität“ erklärt die Häufung der Noten oberhalb der Schwellenwerte.

Ob man das anders machen sollte, wie Towfigh/Traxler/Glöckner wünschen, oder überhaupt kann, bleibt zweifelhaft. Denn an einem persönlichen Eindruck und einer damit stets verbundenen Subjektivität der Bewertung kommt man nie vorbei, wenn man nicht die mündlichen Prüfung ganz abschafft. In jedem Fall aber gilt: Was hat eine angebliche Voreingenommenheit gegenüber dem Kandidaten wegen seiner Vornote mit der Diskriminierung von Frauen und Ausländern zu tun? Richtig: Nichts!

 

2. Hinweise, die gegen Diskriminierung von Frauen sprechen

 

a) Kontrolle nach dem Abischnitt?

Die Autoren versuchen, eine gefundene durchschnittliche Besserstellung von Frauen zu einer Schlechterbehandlung zu machen, indem sie den Abiturnotendurchschnitt als Ausgangspunkt nehmen. Siehe ZDRW 2018, 122 f.: im universitären Teil der Ersten Prüfung schneiden Frauen marginal besser ab als Männer, nicht aber wenn man nur diejenigen mit gleichem Abiturdurchschnitt betrachtet. Nach der Abinote zu kontrollieren, erscheint jedoch nicht naheliegend. Das Abitur misst nämlich selbst keine spezifisch juristischen Fähigkeiten.

b) Prädikatswahrscheinlichkeit bei gleicher Note im ersten Examen

Für die spätere berufliche Entwicklung hat es besondere Bedeutung, ein Prädikatsexamen zu erzielen. Das betonen auch die Autoren der Studie gleich am Anfang (ZDRW 2018, 115). Für Frauen, die unter gleichen Voraussetzungen wie Männer starten (die also die gleiche Note im ersten Staatsexamen erzielt haben), ergibt sich insoweit lediglich eine um 1% geringere Wahrscheinlichkeit, ein solches „vollbefriedigend“ im zweiten Examen zu erreichen und diese geringe Abweichung ist zudem nicht signifikant (ZDRW 2018, 135 f. mit Tabelle 11 Modell 3). Im Text der Studie wird diese Tatsache freilich eher verdeckt als hervorgehoben. Lieber wird der Geschlechtsunterschied auf das Erste Examen geschoben, während es doch eher naheliegt, dass jedenfalls im zweiten Examen Frauen, die mit gleichen Voraussetzungen gestartet sind, keine Nachteile erleiden.

c) Weniger Frauen als Männer fallen nach der mündlichen Prüfung im ersten Examen durch

Wenn man im Rahmen einer empirischen Studie gezielt u.a. die Frage der Diskriminierung wegen des Geschlechts untersucht, so sollte man wenigstens auch einen Blick auf die amtlichen Statistiken werfen.

Dabei hätte z.B. auffallen können, dass in der mündlichen Prüfung im ersten Examen statistisch im Schnitt weniger Frauen als Männer so schlecht benotet werden, dass sie die Prüfung insgesamt nicht bestehen. M.a.W.: es findet statistisch betrachtet in der mündlichen Prüfung eher eine Besserstellung der weiblichen Prüflinge statt und nicht eine Schlechterbehandlung, jedenfalls was das Bestehen angeht! Fakten, die in der Untersuchung aber nicht auftauchen.

 

3. Weitere Fakten und alternative Erklärungsansätze

 

Es ist außerdem auffällig, und auch darüber erfährt man nichts in der Studie, dass in NRW mittlerweile 58% Frauen und 42 % Männer sich zur staatlichen Pflichtfachprüfung melden (2016), das ist seit Jahren relativ konstant (überprüft bis 2012). Ebenfalls seit Jahren fallen nur aufgrund der diskriminierungsunverdächtigen Klausuren 8% mehr Frauen endgültig durch die Pflichtfachprüfung (im Schnitt haben 34 % der Frauen vs. nur 26 % der Männer nach den Klausuren einen sog. Block). Beides, die hohe Zahl der weiblichen Prüflinge und die hohe Blockquote nach den Klausuren verlangt nach Erklärungen, die die Verfasser der Studie nicht anbieten.

Ganz anders haben hingegen Hinz und Röhl bereits im Jahr 2016 (JZ 2016, 874, 879) hier verschiedene Erklärungsangebote gemacht, die Towfigh, Traxler und Glöckner pauschal als „strukturelle Diskriminierung“ abtun (ZDRW 2018, 117 vor Fn. 6). Mir hingegen erscheinen die von Hinz/Röhl dargestellten Ansätze sehr wohl relevant und sie haben m.E. überhaupt nichts mit Diskriminierung zu tun:

Ein solcher Erklärungsansatz könnte etwa ein nach Geschlecht unterschiedliches Abbruchverhalten der Studenten sein. Wenn Frauen bei gleicher Leistung eine geringere Rate des Studienabbruchs als Männer hätten, wäre die Analyse der Abschlussprüfungen durch Selektivität beeinflusst. Dazu passt etwa die eben erwähnte Tatsache, dass in NRW im Ersten Examen weit mehr Frauen an den Prüfungen beteiligt sind als Männer.

Ganz ohne diskriminiert zu werden, könnten mehr Frauen als Männer in den Rechtswissenschaften das für sie passende Studium erblicken. Vielleicht entscheiden sich demzufolge angesichts der heute zweifelhaften Berufsaussichten nur noch solche Männer für das Studium, die dieses dann besonders zielstrebig verfolgen. Dann wäre es kein Wunder, wenn sie hinterher auch (durchschnittlich) besser abschneiden, vgl. zu ähnlichen Ansätzen auch Hinz/Röhl, aaO S. 879.

Hinz und Röhl haben weiter gezeigt, dass Frauen unterdurchschnittlich oft einen wirtschaftsrechtlichen Schwerpunktbereich für den universitären Teil des ersten Examens wählen (Vgl. aaO S. 878). Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass gerade im zivilrechtlichen Teil der mündlichen Prüfung besonderer Wert auf gesunden Menschenverstand und Mitdenken gelegt wird. Dort hilft ein wirtschaftliches Grundverständnis bzw. -interesse bei der Lösung der Fragen und davon profitieren vermutlich diejenigen, die hier ohnehin für sich einen Schwerpunkt gesetzt haben. Auch dies hat weder mit struktureller noch mit individueller Diskriminierung etwas zu tun.

 

4. Eine Studie mit Vorverständnis?

 

a) Handschrifterkennung durch die Korrektoren?

Nicht nachvollziehbar ist es für mich, wenn die Autoren unterstellen, dass ggf. die Handschrift für schlechtere Klausurbenotung verantwortlich ist (ZDRW 2018, 117 mit Fn. 6). Die Autoren legen nahe (ohne es freilich ausdrücklich zu behaupten), dass (manche) Korrektoren anhand der Handschrift erraten, dass die anonyme Klausur von einer Frau geschrieben wurde, um sodann (bewusst oder unbewusst) weniger Punkte zu vergeben. Mit einer solchen Annahme ist es dann aber nachgerade unvereinbar, dass die Klausuren von Frauen, die zum zweiten Staatsexamen mit gleicher Vornote aus der Ersten Prüfung wie die Männer starten, gerade nicht signifikant schlechter sind als die der zum Vergleich herangezogenen Männer (siehe ZDRW 2018, 124). Ich persönlich halte die Korrektur anonymisierter Klausuren mit Hinz und Röhl (JZ 2016, 879) für diskriminierungsunverdächtig.

 

b) Das segensreiche Wirken von Frauen in der Kommission

Sinnvoll ist es freilich, die Ergebnisse der mündlichen Prüfung nach den schriftlichen Vornoten zu kontrollieren. Da auch danach ein Unterschied in den erreichten mündlichen Noten verbleibt, spricht das zunächst einmal dafür, dass tatsächlich Frauen in der mündlichen Prüfung — statistisch betrachtet –schlechter abschneiden als Männer. Hier finden Towfigh, Traxler und Glöckner im Gegensatz zu Hinz und Röhl durchaus statistisch signifikant schlechtere Ergebnisse für Frauen, und zwar sowohl im ersten wie auch im zweiten Examen. Obwohl sie jedoch über Gründe dafür nur spekulieren können, wie sie selbst zugeben (Korrelationen, nicht Kausalitäten, ZDRW 2018, 139, s.a. 117), freuen sie sich, dass bereits eine Frau in der Kommission derartige Unterschiede zum Wegfall bringt.

„Dieser Geschlechterunterschied verschwindet jedoch, wenn mindestens eine Frau Teil der Prüfungskommission in der mündlichen Prüfung ist. Die Zusammensetzung der Kommission hat damit einen ausgleichenden Effekt auf das Erreichen der nächsten Noten-Stufe. Der Effekt ist jedoch lokal, d.h. auf die mündliche Note rund um die jeweiligen Schwellenwerte begrenzt; auf die Geschlechtsunterschiede in der durchschnittlichen Gesamtnote hat die Zusammensetzung der Kommission der mündlichen Prüfung keinen statistisch signifikanten Effekt.“

Es mag ja sein, dass die Anwesenheit einer Frau für den Wegfall des schlechteren Ergebnisses sorgt. Aber woher wollen Towfigh/Traxler/Glöckner wissen, dass hier nicht die beiden Männer in der Prüfung aus Angst, als Chauvinisten zu gelten, die ungerechtfertigte positive Diskriminierung durch die Prüferin einfach mitmachen? Dass sie einfach nicht widersprechen, wenn diese aus falsch verstandener Rücksichtnahme ihre Geschlechtsgenossin bevorzugt, und zwar genau dann, wenn es um die Wurst geht?

Auf S. 118 f. sagen Towfigh/Traxler/Glöckner selbst, dass – wie eine frz. Studie ergeben hat – Prüfer manchmal

„unbewusst und wohl vor allem bei der Benotung in mündlichen Prüfungen — von ihnen wahrgenommene Nachteile auszugleichen versuchen“.

Eine solche Erklärung kommt den Verf. der Studie dann aber nicht mehr in den Sinn, wenn es darum geht, die angeblich ausgleichende Wirkung einer Frau in der Prüfungskommission zu bewerten. Diese wird einfach vorbehaltlos begrüßt (ZDRW 2018, 141).

„So sollten die positiven Auswirkungen von Prüferinnen in Prüfungskommissionen zum Anlass genommen werden, ihren Einsatz in verstärktem Maße anzustreben“

 

5. Fazit.

Ich will gar nicht ausschließen, dass es Prüfer mit Vorurteilen gegenüber Frauen oder Personen mit Migrationshintergrund gibt oder manchmal auch eine unbewusste Diskriminierung stattfindet. Aber welchen Sinn eine solche Studie hat, die Fakten verschweigt und keinerlei Erklärungsansätze liefert (außer individuelle oder strukturelle Diskriminierung), das erschließt sich mir nicht. Im Übrigen möchte ich klarstellen, dass ich die verstärkte Beteiligung von Frauen in den Prüfungskommissionen sehr begrüße, aber aus anderen Gründen als die Verfasser dieser Studie: Es kann nicht sein, dass fast 60 % der Prüflinge Frauen sind, aber noch immer die Männer überwiegend die Prüfungsarbeit machen!

 

 

 

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(Die Verwendung des generischen Maskulinums erfolgt in voller Absicht. Der verzweifelte Versuch der Gender-Umerzieher, die meinen, tatsächliche Diskriminierung durch totalitäre Sprachregulierung abschaffen zu können, kommt u.a. in der für viel Geld produzierten Broschüre: „Gender in der Lehre und Gender-Kompetenz“ der Fernuniversität zum Ausdruck. Viel Spaß beim Lesen von S. 89, wo mir als Juraprofessor verboten wird, „Hausfrauen und Bardamen“ in einen Fall einzubinden (was ich noch nie getan habe). Das ganze Elend der Broschüre wird auch auf S. 9 deutlich, wo in einer Fußnote das „Geschlecht“ definiert wird:

„Wenn wir in dieser Broschüre von Geschlecht sprechen, dann gehen wir davon aus, dass Geschlecht eine soziale Konstruktion ist. Die soziale Konstruktion von Geschlecht in unserer Gesellschaft geht davon aus, dass wir in einer zweigeschlechtlichen Gesellschaft (Heteronormativität) leben. […] Von dieser zweigeschlechtlichen/ heteronormativen Konstruktion von Geschlecht möchten wir uns bewusst abgrenzen. Wir gehen hingegen davon aus, dass Geschlechtsidentitäten vielfältig sind (vgl. Oakley, 1972 und Frey, 2003). […]“

Ja, wovon wird denn nun ausgegangen? Von einer sozialen Konstruktion oder von „vielfältigen Geschlechtsidentitäten“? Beides kann ja wohl nicht sein („hingegen“). Und ist die Annahme „vielfältiger Geschlechtsidentitäten“ nicht selbst eine soziale Konstruktion? Ich jedenfalls gehe zwar auch von vielfältigen Geschlechtsidentitäten aus. Damit würde unsere deutsche Sprache in Zukunft aber weitere Artikel neben „der“ und „die“ und neue Wortendungen erfinden müssen, um diese vielfältigen Identitäten sprachlich abzubilden. Ich bin der dezidierten Auffassung, dass unsere Sprache und insbesondere Rechtstexte nicht noch mehr durch gendergerechte Sprachungetüme verunstaltet werden dürfen. Die konsequente Verwendung des generischen Maskulinums stellt die einzig akzeptable Lösung des Gender-Mainstreaming-Problems dar.)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vermeidbarer Rechtsirrtum im Kapitalmarktrecht … ein schlechter Aprilscherz?

16. März 2018

von Ulrich Wackerbarth

Seit einigen Tagen ist die Begründung des LG Frankfurt (2-02 O 143/16) im Fall Maschmeyer gegen Clifford Chance bei juris einzusehen. Nach den Berichten in der myops über die Weigerung der Justiz, Urteile (Fall Hoeneß) herauszugeben oder auch nur über Schwärzungsregeln zu informieren (beides wirft ein ganz besonderes Licht auf unseren Rechtsstaat), hatte ich schon befürchtet, auch in diesem Fall wegen der Prominenz des Klägers nicht an die Urteilsgründe zu kommen. Doch zu arg meine Sorgen, nunmehr kann jeder nachlesen, dass die zweite Kammer des LG Frankfurt kein Kapitalmarktrecht kann.

Kurz zum (stark vereinfachten) Sachverhalt nach den Feststellungen des LG Frankfurt: Herr M. hatte am 1.4.2008 aufgrund einer Kapitalherabsetzung von MLP die erste Meldeschwelle des § 21 WpHG a.F. (3 %, jetzt § 33 WpHG) überschritten. An diesem Tag erteilte er, statt die Überschreitung zu melden, nur den Auftrag, durch Verkauf von Aktien seine Beteiligung wieder unter 3% abzusenken. Als die BAFin im Jahr 2009 von ihm weitere Informationen wegen möglicher Verstöße gegen Meldepflichten verlangte, fragte er seine Anwälte bei C.C., wie zu verfahren sei. Diese fanden zwar heraus, dass Herrn M. am 1.4.2008 eine Meldepflicht traf und er sie nicht erfüllt hatte, stellten aber keine weiteren Nachforschungen bei ihm über seine Motivation an und empfahlen auch keine Nachholung der unterlassenen Veröffentlichung. Später wurde Herr M. von MLP erfolgreich auf die Rückzahlung von erhaltenen Dividenden in Anspruch genommen. Nunmehr nahm Herr M. seine Berater von C.C. auf Schadensersatz in Regreß. Indessen erfolglos.

1. Der Rechtsirrtum des LG Frankfurt

Das LG Frankfurt meint, zwar hätten die Anwälte im Jahr 2009 ihre Pflichten verletzt, da sie Herrn M. nicht befragten, warum er die Meldungen unterlassen hatte. Schließlich wäre bei schuldlosem Handeln eine den Rechtsverlust verhindernde Nachmeldung auch 2009 noch möglich gewesen. Hört sich erst mal gut für Herrn M. an? Ja, aber dann geht es weiter: Diese Pflichtverletzung sei nicht kausal für den Rechtsverlust gewesen, weil Herr M. eben am 1.4. schuldhaft gehandelt habe, eine Nachholung der Meldung also sinnlos gewesen wäre.

Dabei unterliegt das LG Frankfurt einem entscheidenden Rechtsirrtum, wenn es ausführt, nur ein unvermeidbarer Rechtsirrtum hätte Herrn M entlasten können:

„Denn der Rechtsverlust nach § 28 Abs. 1 S. 1 WpHG [a.F., nunmehr wortgleich  § 44 WpHG] tritt nach h.M. nur ein, wenn eine Mitteilung schuldhaft unterlassen wurde. Anzulegen ist insofern der allgemeine zivilrechtliche Verschuldensmaßstab, so dass der Vorsatz insbesondere bei einem unvermeidbaren Rechtsirrtum entfällt.“

Für diese Falschwiedergabe der h.M. zitiert das LG Frankfurt auch noch Bayer, der aaO. (MüKoAktG § 28 WpHG Rn. 11 a) gerade das Gegenteil von dem sagt, was das LG Frankfurt behauptet. Im Rahmen des § 28 WpHG gilt zwar in der Tat der allgemeine zivilrechtliche Verschuldensmaßstab, aber – und hier irrt eben das LG Frankfurt – dieser lässt den Vorsatz nach h.M. auch bei einem vermeidbaren Rechtsirrtum entfallen. Und auf diesen Vorsatz kam es hier entscheidend an. Denn bei unvorsätzlichem Verhalten erhält § 28 Abs. 1 S. 2 WpHG den Dividendenanspruch rückwirkend aufrecht, wenn die Meldung nachgeholt wird. Da das LG Frankfurt diesen § 28 Abs. 1 S. 2 WpHG in der ganzen Entscheidung nicht nennt, fragt man sich zudem noch, was die Anwälte von Herrn M. im Regreßprozess so alles (nicht) vorgetragen haben.

Vor allem aber übersieht das LG Frankfurt auch höchstrichterliche Rechtsprechung, die die h.M. zu § 28 Abs. 1 S. 2 WpHG für den wortgleichen § 20 Abs. 7 S. 2 AktG bestätigt hat. Der BGH hat nämlich bereits am 5.4.2016, also deutlich vor dem Urteil des LG Frankfurt, entschieden, dass jeder Rechtsirrtum (und nicht nur der unvermeidbare) den Vorsatz entfallen lässt (BGH aaO Rn. 36). Letztlich kann das auch gar nicht anders sein: Wenn ein unvermeidbarer Rechtsirrtum vorliegt, entfällt nicht nur der Vorsatz, sondern auch jede Fahrlässigkeit, die Ausnahme vom Rechtsverlust in § 28 Abs. 1 S. 2 WpHG bei unvorsätzlichem Verhalten wäre bei Rechtsirrtum niemals anwendbar.

2. Der Beweis fehlenden Vorsatzes

Legt man die Entscheidung des BGH zugrunde, so könnte die unterlassene Meldung gleichwohl als vorsätzlich gelten, weil Herrn M. die Beweislast für unvorsätzliches Verhalten trifft, und hier ist der BGH mehr als streng. Dann hätte das LG Frankfurt im Ergebnis doch recht.
Die spannende Frage lautet also: Wie kann Herr M. beweisen, dass er tatsächlich dachte, sein Verhalten genüge den Anforderungen? Der BGH führt in der Entscheidung aus 2016 aus, allein die äußeren Abläufe (des dortigen Falles) genügten nicht für den Beweis, wenn nicht auszuschließen sei, dass eine Verletzung von Mitteilungspflichten billigend in Kauf genommen wurde (aaO. Rn. 37). Andererseits, will man den Beweis nicht zur probatio diabolica werden lassen, so müsste der vom LG Frankfurt festgestellte Sachverhalt zur Entlastung genügen:

– Herr M. hat die Schwelle nicht durch einen Erwerb aktiv überschritten, sondern passiv durch Kapitalherabsetzung von MLP
– Er ist nicht untätig geblieben, nachdem er von der Kapitalherabsetzung erfuhr, und hat etwas getan, was jedenfalls nicht unplausibel war (nämlich noch am gleichen Tag den Verkaufsauftrag für die Aktien gegeben).
– Er hatte Clifford Chance gerade deshalb kontaktiert, um sich über die Meldepflichten beraten zu lassen und später im Jahr 2008 bei Erreichen von Meldeschwellen mehrfach rechtskonforme Meldungen abgegeben. Sein vorheriges und sein späteres Verhalten zeigte also, dass er grundsätzlich seinen Meldepflichten nachkommen wollte.

Alles nur Indizien, aber in den Kopf von Menschen können Juristen nun einmal nicht hineinschauen. Wenn man also nicht rechtsbeug… äh rechtsfortbildend die Vorschrift des § 28 Abs. 1 S. 2 WpHG „erledigen“ will, dann sollten diese Indizien genügen, um einen (vermeidbaren) Rechtsirrtum anzunehmen.

3. April, April

Zu einer Klärung all dieser Fragen wird es freilich wohl nicht mehr kommen, da die jetzigen Anwälte von Herrn M. offenbar das rechtzeitige Einlegen der Berufung gegen das Urteil des LG Frankfurt versäumt haben. Angesichts dieser scheinbar klaren Pflichtverletzung bin ich gespannt, ob der Anwalt, der soeben noch verkündet hat, dass die Entscheidung des LG Frankfurt nicht haltbar sei (siehe hier a.E.), nunmehr mit gleicher Vehemenz behaupten wird, bei jener Äußerung sei er einem (selbstverständlich:) unvermeidbaren Rechtirrtum unterlegen. Herrn M. muss die ganze Angelegenheit mittlerweile jedenfalls wie ein schlechter Aprilscherz vorkommen.