Watschen für alle und eine Geschichtsklitterung durch den II. Senat
von Ulrich Wackerbarth
Kostenlose Ohrfeigen hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil vom 11. Juli 2012 zum Delisting von Aktiengesellschaften verteilt.
1. Ablehnung bisheriger Erklärungsansätze
Alle kriegen ihr Fett weg. Da sind zunächst die Kleinaktionäre, die meinten, das Grundgesetz schütze auch ihre Aussicht, die Aktie auf einem regulierten Markt verkaufen zu können. Nein, so das Gericht, die rechtliche Verkehrsfähigkeit der Aktie werde durch den Rückzug von der Börse nicht beeinträchtigt und die durch den Handel im regulierten Markt möglicherweise gesteigerte Verkehrsfähigkeit der Aktie ist kein Bestandteil des verfassungsrechtlich geschützten Anteilseigentums (Rz. 56).
Damit erteilt das Verfassungsgericht zugleich der zentralen Begründung eine Absage, mit der der II. Senat im Jahr 2002 erstmals die Notwendigkeit eines Abfindungsangebots an die Aktionäre bei einem Delisting festgestellt hatte. Der BGH muss sich künftig also etwas anderes zur Begründung seiner höchstrichterlichen Rechtsfortbildung einfallen lassen.
Eine weitere Ohrfeige gilt dem Großaktionär, in dessen Interesse in aller Regel ein Delisting durchgeführt wird. Wenn die Rechtsprechung von ihm verlangt, als Voraussetzung für ein Delisting ein Pflichtangebot an die übrigen Aktionäre abzugeben und dieses im Spruchverfahren überprüfen zu lassen, so verstößt das ebenfalls nicht gegen seine Grundrechte oder gegen die Verfassung (Rz. 77 ff.).
Mit anderen Worten: Weder folgt aus der Verfassung die Unzulässigkeit der Rechtsfortbildung im sog. Macrotron-Urteil des BGH noch kann dem GG eine Rechtfertigung dieser Rechtsprechung entnommen werden.
Schließlich verbietet das BVerfG auch noch den Fachgerichten, mit der Verfassung die Frage der Zulässigkeit des Downlisting zu beantworten. Diese wollten nämlich die Andersbehandlung des Downlisting gegenüber dem regulären Delisting damit rechtfertigen, dass zwar beim regulären Delisting ein Eingriff in Art. 14 GG vorliege, nicht aber bei einem bloßen Segmentwechsel in den Freiverkehr. Das BVerfG entzieht dieser Argumentation den Boden, indem es betont, schon das reguläre Delisting greife nicht in das Eigentumsgrundrecht der Aktionäre ein.
Damit lehnt es das BVerfG rundheraus ab, sich und/oder die Verfassung für Gerichte oder beteiligte Parteien in Fragen des Delisting instrumentalisieren zu lassen. Aus dem Grundgesetz folgt nichts für das Delisting — die Gerichte müssen ihre Rechtsprechung einfachgesetzlich begründen. All dem ist beizupflichten.
2. Begründung für HV-Beschluss, Pflichtangebot und Spruchverfahren
Und darin ist auch die eigentliche Bedeutung des Beschlusses zu sehen. In zwei Bereichen muss neu nachgedacht werden. Erstens geht es um die Begründung von Hauptversammlungszuständigkeit, Pflichtangebot und Spruchverfahren bei einem regulären Delisting. Das BVerfG scheint insoweit der sog. Anspruchslösung zuzuneigen, die eine echte Pflicht zum Angebot aus einer Gesamtanalogie zu verschiedenen Vorschriften des Aktien- und Umwandlungsrechts heraus annimmt, da es die entsprechende Annahme des KG billigt (Rz. 72 ff. des Urteils).
Dem Macrotron-Urteil liegt dagegen tendenziell die sog. Bedingungslösung zugrunde, nach der es zwar keine echte Angebotspflicht gibt, ein Hauptversammlungsbeschluss ohne gleichzeitig abgegebenes Angebot jedoch per se anfechtbar ist, also eine bloße Angebotsobliegenheit besteht. Dort heißt es nämlich:
„Ein adäquater Schutz der Minderheitsaktionäre kann nur dadurch erreicht werden, dass ihnen mit dem Beschlussantrag ein Pflichtangebot … vorgelegt wird.“
Der II. Senat ist damit aufgefordert, neu nachzudenken. Denn endgültig entschieden haben sich die Verfassungsrichter in dieser gesellschaftsrechtlichen Frage nicht: Sie betonen, dass man diese Problematik „fachrechtlich verschieden beurteilen“ kann (Rz. 81).
3. Downlisting
Wie auch hier festgestellt wird, ist dem Urteil ferner eine (einfachrechtliche) Antwort auf die zweite, praktisch bedeutsamere Frage nach der Behandlung des Downlisting nicht zu entnehmen. In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, wie sich der II. Senat in einer schriftlichen Stellungnahme zu den Delisting-Verfassungsbeschwerden geäußert hat (Rz. 34 des BVerfG-Urteils). Er interpretiert dort nämlich seine Macrotron-Entscheidung von 2002 und erklärt, was angeblich ihr Leitgedanke war. Das Urteil betreffe gerade nicht den Wechsel vom regulierten Markt in den Freiverkehr, weil es nur darum gehe, ob dem Aktionär durch das Delisting „der Platz genommen werde, auf dem er auf dem er seine Aktie an beliebige Interessenten nach den Regeln von Angebot und Nachfrage veräußern könne“. Anders gesagt: Behält er irgendeinen Platz, so sei das ausreichend für seinen Schutz.
Diese Darstellung ist eine verfälschende Deutung des Macrotron-Urteils. Dort heißt es nämlich ausdrücklich:
„Für die Minderheits- und Kleinaktionäre, deren Engagement bei einer Aktiengesellschaft allein in der Wahrnehmung von Anlageinteressen besteht, bringt der Wegfall des Markts hingegen wirtschaftlich gravierende Nachteile mit sich, die auch nicht durch die Einbeziehung der Aktien in den Freihandel ausgeglichen werden können.“
Auch hatte der BGH den einschlägigen Börsenordnungen im Macrotron-Urteil nicht gerade ein gutes Zeugnis ausgestellt. Der durch sie gewährte Anlegerschutz entspreche
„nicht den an einen Minderheitenschutz im Aktienrecht zu stellenden Anforderungen“.
Warum nun auf einmal ein rein privatrechtlich geregelter Markt (ohne § 161 AktG, ohne Übernahmerecht nach dem WpÜG und ohne Stimmrechtsmitteilungen nach dem WpHG) für den Anlegerschutz genügen soll, bleibt unerfindlich. Die jetzige Geschichtsklitterung dürfte freilich als Ankündigung einer Kehrtwende in der Frage des Downlisting zu verstehen sein. Sachliche Argumente dafür gibt es nicht, siehe dazu ausführlicher hier.
Am 12. Juli 2012 um 15:07 Uhr
Wesentlich besser wäre es wohl, der Gesetzgeber würde für solche Situation ein passendes Gesetz erlassen
Am 5. Oktober 2012 um 17:43 Uhr
[…] geraumer Zeit sind die ersten ausführlichen Stellungnahmen zum Delisting-Urteil des BVerfG erschienen. Hier ein paar kritische […]