Si tacuisses… oder: Ungereimtes in einem höchstrichterlichen Aufsatz
von Ulrich Wackerbarth
Gehrlein, seines Zeichens Mitglied des IX. (Insolvenzrechts-)Senats, nimmt in der aktuellen NZI 2016, 561, Stellung zu der Frage, ob im Falle einer Insolvenz einer GmbH „Ansprüche gegen Gesellschafter bei überteuerter Nutzungsüberlassung an insolvente Gesellschaft“ bestehen. Das Recht der kapitalersetzenden Nutzungsüberlassung ist ja bekanntlich durch das MoMiG völlig neu gestaltet worden, um nicht zu sagen abgeschafft worden. Geblieben ist das Recht des Insolvenzverwalters, für die Dauer eines Jahres den vorher überlassenen Gegenstand gegen ein Durchschnittsentgelt weiter zu nutzen (§ 135 III InsO). Hier stellen sich vor allem zwei Fragen: Wie berechnet man das Durchschnittsentgelt und was geschieht, wenn die Nutzungsüberlassung schon (lange) vor der Eröffnung beendet und der Gegenstand zurückgegeben war?
1. Formalia
Gehrlein wiederholt zunächst noch einmal das Konzept, auf dem die gesetzliche Regelung nach der Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 16/9737 S. 59) beruht. „Wiederholt“ ist in diesem Falle durchaus wörtlich zu verstehen, denn obschon Gehrlein den Eindruck erweckt, er gebe dieses Konzept mit eigenen Worten wieder, handelt es sich bei III. 1. und 2. seines Aufsatzes um ein wörtliches Zitat der genannten Gesetzesbegründung, wobei Gehrlein offenbar vergessen hat, diese Ausführungen in Anführungsstriche zu setzen. In dieses Bild passt es, dass man in dem Beitrag zweimal den Gliederungspunkt III. und auch zweimal IV. und andere formale Ungenauigkeiten (etwa falsche Seitenangaben bei Zitaten) findet.
2. Treuepflicht als Grundlage des Nutzungsrechts?
Wie dem auch sei: Der Gesetzgeber meint, die Treuepflicht des Gesellschafters gebiete es ihm, in der Insolvenz die für die Fortführung benötigten Gegenstände der Gesellschaft weiter zu überlassen. Mit der gesellschafterlichen Treuepflicht kann freilich nicht argumentiert werden, wenn es um die Frage der insolvenzrechtlichen Behandlung von Nutzungsverhältnissen geht. Denn jedenfalls den Alleingesellschafter trifft gegenüber seiner Gesellschaft keine Treuepflicht, sehr wohl aber gilt § 135 Abs. 3 InsO auch für ihn. Gerade Gehrlein als früheres Mitglied des II. Senats sollte diese ständige Rechtsprechung des Gesellschaftsrechts-Senats (keine Treuepflicht des Alleingesellschafters) kennen, das hätte ihm mindestens Anlass für weitere Überlegungen bieten müssen.
3. Unanfechtbar gezahltes überhöhtes Nutzungsentgelt – ein unglaubhaftes Szenario
Gehrlein fragt weiter, wie man das Durchschnittsentgelt berechnet, wenn ein überhöhtes Entgelt zwischen GmbH und Gesellschafter vereinbart ist. Kann es dazu führen, dass der Insolvenzverwalter das überhöhte Entgelt weiterzahlen müsste? Zu Recht weist Gehrlein darauf hin, dass nur unanfechtbare Zahlungen der GmbH in die Berechnung des Durchschnittsentgelts eingehen. Einige Anfechtungstatbestände der InsO helfen deshalb, den Durchschnitt zu senken.
Dann aber baut Gehrlein ein widersprüchliches Szenario auf: Erst legt er dar (aaO S. 563 unter IV.) dass es insbesondere bei einem nicht (!) an der Geschäftsführung beteiligten Gesellschafter vorkomme, dass keiner der Insolvenzanfechtungstatbestände greife, zumal bei einem solchen Gesellschafter die subjektiven Voraussetzungen der Anfechtungstatbestände der §§ 130, 131 InsO fehlten. Unmittelbar anschließend meint Gehrlein, dass insbesondere Gesellschaftern einer personalistischen GmbH bei Drittgeschäften überhöhte Vergütungen gewährt würden, da sie dort vielfach „zugleich das Amt des Geschäftsführers bekleiden“ oder mit dem Geschäftsführer in enger Fühlung stehen.
Was stimmt denn nun? Gerade bei demjenigen, der vielleicht unanfechtbar überhöhte Zahlungen kassieren könnte, fehlt es doch nach Gehrleins eigener Aussage regelmäßig an der Nähe zur Geschäftsführung, die es ihm erst ermöglicht, überhöhte Zahlungen durchzusetzen.
4. Unklar: Worum geht es in diesem Beitrag überhaupt?
Es gibt weitere Widersprüchlichkeiten — das eigentliche Thema des Beitrags (oder was ich dafür hielt) handelt Gehrlein nämlich unmittelbar anschließend mit nur einem Satz ab (aaO S. 563 unter IV.):
„Derartige verdeckte Gewinnausschüttungen mindern den aus § 135 III 2 InsO folgenden Entgeltanspruch.“
Und ich dachte, die Berechnung des Durchschnittsentgelts sei gerade der zu problematisierende Gegenstand der Untersuchung. Doch scheint Gehrlein die überhöhten Zahlungen hier selbstverständlich und begründungsfrei für bei dieser Berechnung nicht berücksichtigungsfähig zu halten. Ihm geht es nun um etwas ganz anderes, nämlich wie man vom Gesellschafter die schon vor der Insolvenz bezahlte überhöhte Vergütung zurückerhalten kann. Das kommt im nächsten Satz zum Ausdruck:
„Schwieriger gestaltet sich die Feststellung, ob in der Gestaltung des Nutzungsentgelts eine verdeckte Gewinnausschüttung zu erkennen ist und ob daraus ein Erstattungsanspruch gegen den Gesellschafter folgt.“
Mit der Beschreibung des Untersuchungsgegenstandes des Aufsatzes in der Einleitung auf S. 561
„Der nachfolgende Beitrag befasst sich […] mit der Frage, ob der Gesellschafter die vereinbarte Vergütung nach Maßgabe des § 135 III 2 InsO auch beanspruchen kann, wenn sie überteuert ist und nicht den Marktverhältnissen entspricht.“
ist das nicht vereinbar. Denn da geht es gerade um die Frage, was der Verwalter zahlen muss. Aber das Verwirrspiel ist noch nicht vorbei. Nach langwierigen Erörterungen zur GmbH-rechtlichen Zulässigkeit verdeckter Gewinnausschüttungen aus freiem Vermögen und deren Folgen (soweit das Stammkapital nicht betroffen ist und die anderen Gesellschafter nicht widersprechen, kann der Gesellschafter das Entgelt behalten) kommt Gehrlein unter IV.3. (S. 564 f.) doch wieder darauf zurück, ob man diese gesellschaftsrechtliche Zulässigkeit nun auch für die Durchschnittsberechnung des § 135 III 2 InsO akzeptieren müsse.
5. Ungereimtes zur Schenkungsanfechtung
Lässt man diese Volten beiseite, dann haben wir es jetzt also mit einer überteuerten Nutzungsüberlassung zu tun, die allerdings gesellschaftsrechtlich unter Umständen zulässig ist. Die verdeckte Ausschüttung durch überhöhte Nutzungsentgelte hält Gehrlein nun für (Teil-)Schenkungen (in Höhe der Abweichung vom Marktpreis) und daher für gem. § 134 InsO anfechtbar, gleichviel, ob die Zuwendung gesellschaftsrechtlich erlaubt war oder nicht (S. 565). Denkt man näher darüber nach, sind auch die Ausführungen an dieser Stelle nicht konsequent. Gehrlein behauptet einfach, die in der überteuerten Nutzungsüberlassung liegende verdeckte Gewinnausschüttung sei gesellschaftsrechtlich rechtsgrundlos (da kein Gewinnverwendungsbeschluss vorliegt) und damit unentgeltlich. Aber warum sollte insolvenzrechtlich etwas rückgängig gemacht werden, was gesellschaftsrechtlich eine zulässige Gewinnentnahme darstellt? Nur aus formalen Gründen? So etwas liegt gerade dem wertenden Insolvenzanfechtungsrecht fern. M.E. kommt die Schenkungsanfechtung nur in Betracht, wenn die Gesellschaft materiell im Zeitpunkt der Zuwendung schon insolvenzreif war: (Nur) dann darf die gesellschaftsrechtliche Zulässigkeit keine Rolle spielen, weil sie auf die Handelsbilanz abstellt und nicht auf Liquidationswerte.
6. Anfechtung gem. § 132 InsO nach Gesellschafterkündigung?
Das Beste aber kommt noch: Gehrlein wendet sich nun der zweiten eingangs genannten Frage zu: Gesellschafter und GmbH könnten versuchen, die Rechtsfolgen des § 135 III InsO auszuschalten, indem sie das Nutzungsverhältnis vorzeitig beenden und den überlassenen Gegenstand an den Gesellschafter zurückgeben. Diese zweite Konstellation dürfte praktisch deutlich relevanter sein. Denn sie liegt gerade dann nahe, wenn die Nutzungsüberlassung an die GmbH zu billig anstatt zu teuer erfolgte. Gehrlein fragt, ob durch vorzeitige Beendigung das Nutzungsrecht des Insolvenzverwalters gem. § 135 III InsO praktisch ausgeschaltet werden kann. Bei einer Beteiligung seitens der GmbH scheint die Beendigung – da im Zweifel vorsätzlich – zwar unproblematisch zur Anfechtung durch den Insolvenzverwalter (z.B. nach § 133 und § 134 InsO) zu führen und insoweit wieder rückgängig gemacht werden zu können.
Aber was geschieht, wenn die Beendigung allein auf einer Kündigung des Gesellschafters beruht? Dann fehlt es nämlich an der erforderlichen Rechtshandlung des Schuldners. Allerdings, so Gehrlein, könne nun § 132 InsO helfen (S. 566). Wie das, frage ich mich? § 132 InsO setzt doch ebenso wie § 133 und § 134 InsO eine Rechtshandlung des Schuldners (im Falle des § 132 InsO eben ein Rechtsgeschäft) voraus. Die Lösung des Problems kann also nicht in § 132 InsO liegen und man fragt sich, wie einem Mitglied des IX. Senats ein derartiges Missverständnis unterlaufen kann.
7. Anfechten oder nicht anfechten, das ist hier die Frage
Gehrlein geht aber noch weiter und kommt erneut auf die Treuepflicht zu sprechen. Diese könne es geradezu gebieten, dass der Gesellschafter auf eine Kündigung nebst Verlangen der Herausgabe des Gegenstands verzichtet. Tue er dies doch, so müsse er, falls die Kündigung (analog § 135 I Nr. 2 InsO) innerhalb eines Jahres vor der Insolvenz erfolgt sei, das Nutzungsrecht wiedereinräumen (aaO S. 566).
Dagegen spricht selbstverständlich auch hier erstens, dass der Alleingesellschafter der GmbH keine Treue schuldet (siehe schon oben 2). Aber selbst wenn man davon absähe: der Gesetzgeber hat doch zweitens in § 30 Abs. 1 S. 3 GmbHG mit dem MoMiG sehr deutlich gemacht, dass gerade Gesellschafterleistungen stets zurückgezahlt werden dürfen und es kein Rückzahlungsverbot mehr geben soll. Diese Wertung darf nicht mit einer angeblichen Treuepflicht konterkariert werden.
Und schließlich: Wenn der Gesellschafter das Nutzungsrecht wiedereinräumen müsste, so wäre diese Rechtsfolge letztlich identisch mit einer Anfechtung der Beendigung nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO, eine Rechtsfolge, die nach der Auffassung Gehrleins wegen der eindeutigen Entscheidung des Gesetzgebers doch gerade nicht in Frage kommt (aaO. 565 unter IV 1 b):
„Bei vorzeitiger Rückgabe des Gegenstandes ist für eine Anfechtung nach § 135 Abs. 1 InsO kein Raum, weil die tatbestandlichen Voraussetzungen der Vorschrift nicht erfüllt sind. Die Nutzungsüberlassung kann nicht als eine einem Darlehen entsprechende Rechtshandlung gewertet werden. Denn der Gesetzgeber hat ausdrücklich klargestellt, dass eine Nutzungsüberlassung nicht einer Darlehensgewährung gleichsteht […]. Insoweit ist § 135 Abs. 3 InsO ebenfalls nicht einschlägig, weil er kein Anfechtungsrecht vorsieht […].“
Fazit: Insgesamt enthält der Beitrag so viele Ungereimtheiten, dass man sich wünschte, er wäre nicht von Gehrlein verfasst worden.