Volkswirtschaft = alles über dem Jahresgewinn der Deutschen Bank?

von Ulrich Wackerbarth

Raeschke-Kessler stellt in seinem Beitrag „Ein Lehrstück über den Lästigkeitswert: Der Vergleich Kirch/Deutsche Bank“ in der aktuellen NJW 2019, 2678, Überlegungen zum angeblich dysfunktionalen deutschen Prozessrecht an. Dieses eigne sich kaum dazu, Klagen zu verhindern, bei denen es eher darum geht, mit ihrer Lästigkeit Geld zu verdienen, als um die Sache selbst. Zentrales Thema ist die Frage, ob deutsche Gerichte wirtschaftsrechtlichen Großverfahren gewachsen sind bzw. seine Auffassung, sie seien es offenbar nicht. Als Beispiel für seine Analyse wählt Raeschke-Kessler ein weithin bekanntes Verfahren, nämlich eine Zahlungsklage über ca. 2 Mrd. € des 2011 verstorbenen Medienunternehmers Leo Kirch, das er nach dem Zusammenbruch seines Imperiums 2002 gegen die Dt. Bank führte und das (erst) im Jahr 2014 mit einem Vergleich über 925 Mio. € zugunsten seiner Erben endete.

Darstellung und Argumentation im Beitrag leiden an vielen Schwächen und werden hier zum Anlass genommen, einige Grundbegriffe zu erläutern, deren Verständnis für die Argumentation in „wirtschaftsrechtlichen Großverfahren“ m.E. unerlässlich ist.

1. Äpfel und Birnen

Schon in der Einführung wird dem Vergleichsbetrag von 925 Mio. € einfach der Gewinn der Dt. Bank aus dem Jahr 2018 (rd. 341 Mio. €) gegenübergestellt. Offenbar galt es zu zeigen, dass sich die Bank diesen Vergleich eigentlich gar nicht leisten konnte. Warum nun gerade das Jahr 2018 gewählt ist, wird nicht angegeben. Genauso hätten die Jahresverluste der Bank aus den Jahren 2016 oder 2017 genannt werden können. Im Jahr 2014 jedenfalls (und warum sollte es auf ein anderes Jahr ankommen?) wies der Geschäftsbericht der Bank an derselben Stelle noch einen Jahresüberschuss in Höhe von 1,69 Mrd. € aus. Der hier in Rede stehende Vergleich hat die Dt. Bank jedenfalls nicht in die Insolvenz getrieben.

2. Preis und Wert

Weiter geht es mit Überlegungen zum Unternehmenswert der von Kirch gehaltenen Pro7 Sat 1 Media AG. Über die AG wurde in 2002 ein Insolvenzverfahren eröffnet, für das eine öffentliche Äußerung von Rolf Breuer (damaliger Vorstand der Dt. Bank) am 3.2.2002 jedenfalls mitverantwortlich gemacht wurde. Er hatte in einem Interview nahegelegt, Kirch sei nicht mehr kreditwürdig, woraufhin alle weiteren Sanierungsgespräche scheiterten. In seiner anschließenden Klage gegen Breuer und die Dt. Bank machte Kirch geltend, durch die Insolvenz habe er seine Aktien an der Pro7 Sat 1 Media AG verloren und die seien 28,739 € je Aktie wert gewesen. Der Insolvenzverwalter hatte später die AG für lediglich umgerechnet 7,50 €/Aktie verkaufen können. Raeschke-Kessler meint nun, da nach Gerichtsfeststellungen die AG schon am 2.2.2002 (dem Tag vor dem Interview) faktisch zahlungsunfähig war, habe der „Preis“ der Aktie an diesem Tag „sehr viel näher an 7,50 € als an 28,739 € gelegen.“ (aaO. 2679).

Dem ist zu widersprechen. Zunächst einmal hat der „Preis“ der Aktie am 2.2.2002, einem Samstag, vermutlich am nächsten beim Frankfurter Börsen-Schlusskurs vom Vortag gelegen, nämlich bei 4,753 € für jede Aktie, wovon im Beitrag nicht die Rede ist. Möglicherweise meint der Autor aber auch gar nicht den Preis der Aktie am 2.2.2002 sondern den Marktwert des Unternehmens, umgerechnet auf eine Aktie. Dann handelt es sich nur um einen sprachlichen Missgriff. Aber auch dann verstehe ich nicht, woher die Wert-Vermutungen stammen. Mir scheinen sie aus der Luft gegriffen zu sein. Bloße Zahlungsunfähigkeit (Illiquidität) besagt nicht notwendig etwas über den Unternehmenswert. Dessen Ermittlung verlangt komplexe Untersuchungen. Und das im Beitrag zitierte Urteil des OLG München meint (unter D. 2. e) viii) der Gründe) insoweit, bereits vorhandene Vergleichsangebote zeigten, dass die 28,739 € ihrerseits nicht so fern lagen. Der Beitrag spricht demgegenüber von einer mindestens um 961 Mio. überhöhten Klage – und bleibt Beweise, ja schon plausible Anhaltspunkte für diese Behauptung schuldig.

In Wikipedia findet sich zur Kirch Insolvenz die Feststellung: „Insgesamt wurden nach 13 Auszahlungen knapp 2 Milliarden Euro an die Gläubiger zurückgezahlt, was einer ungewöhnlich hohen Quote von rund 40 % der ungesicherten Forderungen entspricht“. Bei solchen Zahlen erscheint die Behauptung einer überhöhten Klage von Kirch gegen die Dt. Bank ihrerseits unplausibel.

3. Risikofreie Streitwertüberhöhung?

Obschon also keineswegs feststeht, dass der „Wert der Zahlungsklage“ „überhöht“ war, so versucht der Beitrag anschließend zu zeigen, dass eine solche Überhöhung für den Kläger Kirch praktisch risikofrei war, aber ihrerseits eine erhebliche Lästigkeit für die Dt. Bank entfaltet hatte . Denn ab 30 Mio. € steige das das Kostenrisiko nicht weiter, weil § 39 GKG, § 33 FamGKG, § 22 RVG es auf einen Streitwert von höchstens 30 Mio. € begrenzen (aaO., 2679). Das mag ja sein. Dass deshalb praktisch ab diesem Streitwert risikofrei überhöhte Klagen erfolgen könnten, stimmt indessen keineswegs. Verlangt man das Doppelte von dem, was geschuldet ist, verliert man die Klage zu 50%: Folglich trägt man 50% der Kosten, die Überhöhung ist keineswegs „ohne jedes eigene Risiko“. Ich bin kein Prozessrechtler, aber dies sollte jedermann einleuchten.

4. Die Vorteile der Geheimhaltung – ausgerechnet im Streit Kirch/Dt. Bank?

Mit zur Lästigkeit der Kirch-Klage gehörte die Öffentlichkeit des ganzen Verfahrens. Die Dt. Bank wurde insoweit „an den Pranger gestellt“. Die Berichterstattung über den Fall in den Medien dürfte vielleicht auch die Vergleichsbereitschaft der Dt. Bank am Ende erhöht haben (aaO. 2681). Insoweit will ich überhaupt nicht widersprechen. Raeschke-Kessler preist insoweit die Vorteile eines Schiedsverfahrens, das einen Pranger der Dt. Bank wirksam verhindert hätte. Wenn es denn eine Schiedsklausel gegeben hätte, hätte das Verfahren nach § 43 DIS-SchiedsO 1998 vertraulich bleiben müssen, die Parteien wären zur Verschwiegenheit verpflichtet. So etwas müsse künftig auch bei großen Wirtschaftsprozessen der ordentlichen Gerichtsbarkeit gelten bzw. möglich werden. Das Gericht müsse auf Antrag einer Partei bei Nachweis eines berechtigten Interesses in jedem Stadium des Verfahrens dessen Vertraulichkeit anordnen können, bei Verstoß müsse direkt ein Schadensersatz mit abgeurteilt werden können.

Über diesen rechtspolitischen Vorschlag kann man geteilter Meinung sein. Ausgerechnet das Kirch-Verfahren als dringendes Beispiel für eine solche Rechtsänderung heranzuziehen, erscheint mir indessen unangebracht. Es war doch gerade eine öffentliche Äußerung, ein Interview mit Rolf Breuer, das letztlich nur wegen seiner öffentlichen Wirkung das Vertrauen in die Sanierungsfähigkeit der Kirch-Gruppe zerstört und damit deren Insolvenz ausgelöst hatte. Dass die Dt. Bank, die gerade wegen dieser Medienwirkung verklagt wurde, anschließend vor Gericht die erforderliche Vertraulichkeit des Verfahrens soll geltend machen können, steht dazu in unvereinbarem Gegensatz.

5. Was ist das überhaupt — ein „Lästigkeitswert“?

Wie man als Aktionär Geld allein mit der Lästigkeit einer Klage verdienen kann, haben in der Vergangenheit die sog. Berufskläger vorgemacht. Sie profitierten insbesondere davon, dass ihre Anfechtungsklagen lange Zeit die Eintragung wichtiger Hauptversammlungsbeschlüsse in das Handelsregister und damit Kapitalmaßnahmen oder Fusionen verhindern konnten. Eine Anfechtungsklage bedeutete Zeitverzug und war deshalb für die AG lästig, auch und gerade dann, wenn sie unbegründet war. Diese Lästigkeit haben sich die Kläger vergüten lassen und die Klagen nur gegen Bezahlung zurückgenommen. Solche Einnahmemöglichkeit haben verschiedene Reformen im Aktienrecht jedoch mittlerweile ausgeschaltet. Was im hier kritisierten Beitrag vorgetragen wird, hat m.E. mit einem so verstandenen Lästigkeitswert von unrechtmäßigen Klagen nichts mehr zu tun.

Wenn etwa die statistisch geringen Erfolgsaussichten einer Nichtzulassungsbeschwerde gegen ein Berufungsurteil als „natürlicher Lästigkeitswert“ zulasten der Dt. Bank in den Vergleichsverhandlungen angeführt werden (aaO. 2684), so hat das keinen Bezug zu einer unbegründeten Klage. Vielmehr ist hier ja schon ein stattgebendes Urteil des OLG in der Welt. Dass es sich vor einem stattgebenden Urteil für die Beklagtenseite nicht mehr ganz so komfortabel verhandelt, ist selbstverständlich, aber keine Folge einer lästigen, unbegründeten Klage, sondern der Berufungsentscheidung.

Auch eine mögliche Voreingenommenheit der Richter am OLG hätte den Lästigkeitswert der Klage für die Dt. Bank erhöht (aaO. 2683). Das erscheint mir ebenfalls nicht nachvollziehbar. Erstens werden im Beitrag Indizien für eine Voreingenommenheit der Oberlandesrichter sowohl gegenüber der Beklagen- als auch gegenüber der Klägerseite geschildert. Was soll daraus folgen? Und zweitens gibt der Beitrag selbst zu, er kenne keine Abhilfe gegen derartige Voreingenommenheit. Wenn das so ist, dann kann auch nicht schlechtes Prozessrecht für solche Probleme verantwortlich gemacht werden.

Schließlich soll die Tatsache, dass die Erben offenbar einem Dritten einen Teilbetrag des Vergleichs versprochen hatten, nach dem Beitrag den Lästigkeitswert (von was?) erhöhen (aaO. 2683 f.). Mir leuchtet auch das nicht ein – warum sollte sich der Vorstand der Bank auf eine höhere Vergleichssumme einlassen, nur weil die Klägerseite Dritten etwas versprochen hat?

6. Betriebswirtschaft und Volkswirtschaft

Am Schluss aber setzt der Beitrag dem Ganzen noch die Krone auf: Addiere man in Gedanken die im einzelnen dargestellten Lästigkeitswerte [die freilich nirgends beziffert werden], so ergebe sich eine Zahl, die den Gewinn der Dt. Bank im Jahr 2018 (die bereits erwähnten 341 Mio. €) deutlich übersteigen dürfte. Daher habe der Vergleich Kirch/Dt. Bank „nicht nur eine betriebswirtschaftliche, sondern sogar eine volkswirtschaftlich bedeutsame Dimension erreicht“ (aaO. 2684).

Das freut nun wieder den Verfasser dieses Beitrags. Schaut man in Wikipedia nach der Definition von Volkswirtschaft, so erhält man so langweilige Definitionen wie „Gesamtheit aller einem Wirtschaftsraum zugeordneten Wirtschaftssubjekte“ oder „Fragen nach dem Bruttoinlandsprodukt, dem Volkseinkommen, der Einkommensverteilung, der Preisentwicklung, dem Beschäftigungsgrad“. Demgegenüber meint wiederum Betriebswirtschaft die Abläufe in einzelnen Unternehmen bzw. Organisationen und deren Beziehungen untereinander. Dank Raeschke-Kessler weiß ich nun: Alles deutlich über 341 Mio. € ist Volkswirtschaft. So einfach kann es sein…

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