Wer sind die Geisterfahrer?
von Ulrich Wackerbarth
Ein Autofahrer hört aus dem Radio: „Ein Geisterfahrer auf der A7!“ — Sagt der Fahrer: „Einer? Wieso einer? Hunderte!“
Dieser abgedroschene Witz ging mir durch Kopf, während ich den Beitrag „Grenzenlose Haftung“ von Hommelhoff und Schneider in der FAZ vom 15.12.2021, Nr. 292, S. 16 über das Urteil des EuGH in der Rechtssache Sumal vom 6.10.2021 (C-882/19) las. In dieser Entscheidung hat der EuGH den im Kartellrecht zentralen Begriff des Unternehmens genauer definiert. Darüber echauffieren sich Hommelhoff/Schneider nun, als ginge mit dem Urteil das Abendland unter. Schauen wir uns die Entscheidung mal etwas genauer an.
1. Das Unternehmen im Kartellrecht als wirtschaftliche Einheit
Schon seit jeher ist das Unternehmen im Kartellrecht etwas anderes als ein Rechtsträger. Der EuGH versteht darunter eine „wirtschaftliche Einheit“. Während aus mehreren Rechtsträgern bestehende Konzerne nach deutschem Gesellschaftsrecht mehrere Unternehmen (Unternehmensgruppe) sind, werden sie in der Wirtschaft praktisch durchweg als „Unternehmung“ und damit als Einheit angesehen. Im besonders wirtschaftsnahen Kartellrecht gilt insoweit schon seit längerem ein sich von den einzelnen rechtlichen Einheiten lösender wirtschaftlicher Unternehmensbegriff, eben die „wirtschaftliche Einheit“.
Das hat schon länger dazu geführt, dass eine Muttergesellschaft und zumindest ihre 100%ige Tochter als einheitliches Unternehmen angesehen wurden mit der Folge, dass bei einem Kartellverstoß durch die Tochter neben der Tochter zusätzlich auch die Mutter auf Schadensersatz in Anspruch genommen werden konnte. Mit einem gesellschaftsrechtlichen Haftungs-Durchgriff hatte das letztlich nicht viel zu tun, das Ergebnis war möglicherweise ähnlich, aber es lag in solchen Fällen keiner der anerkannten Durchgriffshaftungstatbestände vor und die Mutter wurde nicht wegen ihrer schlechten Behandlung der Tochter zur Haftung herangezogen, sondern weil das Recht ihr persönlich zurechnete, was die Tochter an Kartellrechtsverstoß begangen hatte – das war ein genuin kartellrechtlicher Haftungstatbestand und weder mit Vermögensvermischung, Mißbrauch der Tochter oder existenzvernichtendem Eingriff gleichzusetzen.
2. Durchgriffshaftung der Tochter?
Nun hatte der EuGH den umgekehrten Fall zu entscheiden: Der Kartellverstoß der Mutter stand fest, konnte man diesen der Tochter zurechnen? Der EuGH bejaht die Frage und stellt den Grundsatz auf, dass alle Rechtsträger einer wirtschaftlichen Einheit für einen Kartellrechtsverstoß eines anderen Rechtsträgers gesamtschuldnerisch haften, gleich ob sie an dem konkreten Verstoß beteiligt waren oder nicht. Damit wird – gesellschaftsrechtlich betrachtet – einer Tochtergesellschaft jedenfalls in bestimmten Fällen das Verhalten ihrer (Haupt-)Gesellschafterin zugerechnet, das gab es bisher in dieser Form nicht.
Das Urteil des EuGH hat in der Tat Folgen. Es ermöglicht nämlich Klagen auf Schadensersatz im jeweiligen Heimatland der durch ein kartellrechtswidriges Verhalten geschädigten Wettbewerber, wenn der Delinquent dort bzw. europaweit über Tochtergesellschaften tätig ist. Damit verlieren die nationalen Gerichte die Oberhand über „ihre“ Unternehmen und die vereinheitlichende Wirkung der Rechtsprechung des EuGH wird um so wichtiger.
Kein Wunder, dass dies bei deutschen Konzernrechts-Dogmatikern nicht auf Gegenliebe trifft. Hommelhoff/Schneider sprechen davon, dass der EuGH damit „die Axt an den Konzern“ lege und Unternehmen „das bedeutendste Instrument aus der Hand“ nehme, „um im europäischen Binnenmarkt die grenzüberschreitende Ausübung der Niederlassungsfreiheit adäquat zu organisieren“. Begründen oder konkretisieren können die Autoren diesen Pauschalangriff aber nicht. Mit der Haftungstrennung zwischen Mutter und Tochter hätte ja zunächst einmal nur der umgekehrte Fall (Haftung der Obergesellschaft trotz Haftungsbeschränkung in der Tochter) zu tun. Und warum Unternehmen jetzt, nach dieser gar schlimmen Entscheidung, keine ausländischen Töchter mehr gründen werden, leuchtet mir schon gar nicht ein. Dass ein Unternehmen Sanktionen für ahndbares Fehlverhalten im Ausland nicht mehr durch Gründung von Auslandstöchtern verhindern kann, führt doch nicht zu ernsthaften Bedenken hinsichtlich der Gründung solcher Töchter. Dafür sind steuerliche und Haftungsgründe ausschlaggebend, die durch das von Hommelhoff/Schneider angegriffene Urteil nicht berührt werden (freilich aber durch die bereits erwähnte Haftung der Mutter für Kartellverstöße der Töchter).
3. Keine allgemeine Aufgabe des Trennungsprinzips
Wenn Hommelhoff/Schneider meinen:
„Für die Verbindlichkeiten der Tochtergesellschaften darf die Muttergesellschaften nicht ohne weiteres haften und umgekehrt.“
dann ist das gesellschaftsrechtlich sicher richtig. Das Urteil „Sumal“ ändert daran aber auch nichts für die vielfältigen Haftungsfälle außerhalb von Kartellverstößen. Denn auf diese beschränkt sich die Rechtsprechung des EuGH und sie hat eben wegen der Wirtschafts- und Wettbewerbsnähe des Kartellrechts einiges für sich. Insbesondere sorgt sie für eine bessere Durchsetzung des Kartellrechts, da die auf dem konkreten Kartellverstoß beruhende Vertriebsmaßnahme unmittelbar in dem Mitgliedsstaat verfolgt werden kann, in dem sie stattfindet. Auf unsichere grenzüberschreitende Klagen muss sich dann kein Kartell-Opfer einlassen. Solange das kartellrechtlich begründet werden kann, handelt es sich im Übrigen nicht um einen gesellschaftsrechtlichen Durchgriff – weder von unten nach oben, noch umgekehrt.
4. Fragen über Fragen
Deutlich zu weit gehen Hommelhoff/Schneider mit folgender Aussage:
„Die Konzernrechtspraxis und -wissenschaft macht die kartellrechtliche Spruchpraxis des EuGH mit dem Samal-Urteil endgültig ratlos.“
In der Kartellrechtswissenschaft (!) ist das Urteil von vielen erwartet worden und wird von manchen begrüßt. Man lese nur die abgewogene Stellungnahme von Barennes/Braeken/Versteeg. Auch in Deutschland gibt es bereits eine Reihe von Stellungnahmen, die die Entscheidung des EuGH vorwegnehmen und gutheißen (Kersting, ZHR 182 (2018), 8 ff.; Ackermann, ZWeR 2010, 329 ff.; Kreße, GPR 2019, 240 ff.; zu allgemein Weck, NZG 2016, 1375 f.; s.a. das obiter dictum im Urteil des LG Dortmund v. 8.7.2020 Rn. 47). Aber auch die Gesellschaftsrechtler sollte das Urteil nicht vor unüberwindbare Hürden stellen. Mir jedenfalls fallen sofort Antworten auf die rhetorischen Fragen von Hommelhoff/Schneider ein:
Haftet auch die Tochtergesellschaft mit Minderheitsgesellschaftern neben der Muttergesellschaft?
Die Antwort ist leicht, es kommt darauf an. Sind es echte Minderheitsgesellschafter und nicht lediglich Strohmänner, dann nein, eine Zurechnung von Verhalten nur eines Gesellschafters an eine mehrgliedrige Gesellschaft sollte in diesem Fall nicht möglich sein, weil die Minderheit sonst ohne Grund bestraft würde (ähnlich Mörsdorf, ZIP 2020, 489, 495 f., der das freilich auf alle Töchter erweitert, ohne dabei die erwähnte internationale Dimension miteinzurechnen). Aber das wird vielleicht künftig eine umstrittene Frage sein, bei der es die künftige Rechtsprechung des EuGH genau zu beobachten gilt.
Wie soll sich die Tochtergesellschaft vor den Folgen kartellrechtswidrigen Verhaltens der Muttergesellschaft schützen?
Ganz einfach: Sie muss es nicht, wenn sie eine echte Gesellschaft ist (siehe Antwort auf die erste Frage). Ist sie aber keine Gesellschaft, sondern nur ein haftungsmäßig abgeschotteter Teil eines aus zwei Rechtsträgern bestehenden einheitlichen Unternehmens, dann soll sie es gerade nicht können, das ist der begrüßenswerte Inhalt der Sumal-Entscheidung. In einem solchen Fall wird übrigens im Betriebsrentenrecht über die Zurechnung der wirtschaftlichen Lage der der Obergesellschaft an die Tochter diskutiert (sog. Berechnungsdurchgriff) — es ist also keinesfalls so, dass entsprechende Fragen dem deutschen Recht vollkommen fremd wären.
Hat sie Abwehr- und Informationsrechte?
Ja, siehe die Entscheidung Sumal selbst: Der EuGH bemüht sich, den Begriff der wirtschaftlichen Einheit einzugrenzen und die Haftung handhabbar zu machen. Er postuliert zwar eine gesamtschuldnerische Haftung der zur wirtschaftlichen Einheit gehörenden Rechtsträger des Konzerns. Diese Einheit wird aber nicht allein an der Beteiligungsstruktur festgemacht. Es bilden nicht automatisch eine Mutter und sämtliche ihrer 100%igen, eng geführten (Rn. 43) Töchter eine wirtschaftliche Einheit. Vielmehr betrachtet der EuGH die Funktion der Tochter innerhalb des Konzerns und unterscheidet Konzerne danach, ob sie Konglomerate sind oder aber Wettbewerber zu einer Unternehmensgruppe zusammenfassen (Rn. 45 -47): Bei Konglomeraten wird die Mutter nur mit den zur jeweiligen Branche gehörenden Töchtern und dann ggf. verschiedene Einheiten bilden. Im konkreten Fall ging es insoweit um eine 100%ige Vertriebsgesellschaft der Daimler AG (Mecedes Benz Truck Espana SL) und um kartellrechtswidriges Verhalten der Daimler AG beim Vertrieb von LKW. Damit war klar, dass die spanische Tochter mit zur wirtschaftlichen Einheit gehörte.
Sie wird daher in einem zivilrechtlichen Verfahren auf Schadensersatz so behandelt, als hätte sie selbst den Kartellrechtsverstoß begangen. Der EuGH begründet das ausführlich und stellt dabei klar, dass die Tochter, nachdem ein Bußgeld gegen die Mutter rechtskräftig geworden ist, den Kartellverstoß nicht mehr bestreiten kann. Ihr steht in einem Kartellschadensersatzprozess aber stets der Einwand offen, sie gehöre eben nicht zum „Unternehmen“ im beschriebenen Sinne. Solange noch kein Bußgeld verhängt ist, kann sie auch den Kartellverstoß bestreiten (Rn. 60). Umgekehrt aber folgt aus der Verhängung eines Bußgelds allein gegen die Mutter kein Argument dafür, dass nicht sanktionierte Töchter im Schadensersatzprozess nicht mit zur wirtschaftlichen Einheit gehören (Rn. 63).
Und was tun die Gläubiger, deren Befriedigungschancen die Einstandspflicht der Tochtergesellschaft verringert: Wie können sie sich informieren, um im Zweifel notwendige Maßnahmen zu treffen?
Diese Frage sollten die beiden Autoren besser als jeder andere beantworten können: es geht ihnen wie allen Gläubigern von Gesellschaften, die sich nicht auf die Zahlungsfähigkeit ihres Schuldners verlassen wollen: Entweder schreiben sie covenants in die Verträge und verschaffen sich Informationsrechte oder aber sie sind auf faire Insolvenzverfahren angewiesen – besondere Konzern-, Insolvenz- oder Gerechtigkeitsprobleme stellen sich hier nicht.
Was folgt daraus für die Bilanzierung der Tochter, was für ihre Insolvenzvorsorge?
Nach meinem Dafürhalten: nichts Besonderes. Wer bilanziert denn Kartellverstöße oder sorgt insoweit für eine eventuelle Insolvenz vor? Niemand. Und wenn die Gesellschaft tatsächlich verklagt ist, muss sie eben Rückstellungen bilden. Dafür gibt es allgemeine Regeln.
Nach alledem sollte man sich vielleicht fragen, ob nicht das durchsetzungsfeindliche deutsche Recht hier von den europäischen Richtern eher etwas lernen kann. Und dann sind wir wieder beim Titel dieses Beitrags.