Bundesregierung verschärft Finanzkrise
von Ulrich Wackerbarth
1. Die Maßnahme
Im Maßnahmenpaket der Bundesregierung zur Finanzkrise ist ein Mittel enthalten, an dem sich die deutsche Wirtschaft verschlucken könnte. Die Rede ist von der Änderung der Formulierung des Überschuldungstatbestands in § 19 Abs. 2 InsO. Dieser lautet nun:
„Überschuldung liegt vor, wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt, es sei denn, die Fortführung des Unternehmens ist nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich.“
Das Gesetz kehrt damit – zunächst wohl nur für zwei Jahre – zu der Definition der Überschuldung zurück, die bereits in der Konkursordnung enthalten war.
2. Die Kritik
Hölzle kritisiert in der aktuellen ZIP 2008, 2003f. den „evolutorischen Rückschritt“. Seine Diagnose stimmt, doch die von ihm vorgeschlagene Therapie, nämlich die vollständige Abschaffung des Überschuldungstatbestands zugunsten eines Umbaus des Eröffnungsgrundes der „drohenden“ Zahlungsunfähigkeit (§ 18 InsO), löst das Problem keineswegs und erhöht auch nicht die Justitiabilität des Zeitpunkts, in dem Gesellschaften mit Haftungsbeschränkung den Antrag auf Durchführung eines Insolvenzverfahrens zu stellen haben.
Zu Recht weist Hölzle darauf hin, dass die bisherige Fassung des Tatbestands des § 19 Abs. 2 in der Praxis bereits zu einer „erheblichen Räsonierung der Geschäftsleiter juristischer Personen geführt [hatte], da die Subsumtion des § 19 Abs. 2 InsO nunmehr a.F. gegenüber dem modifizierten zweistufigen Überschuldungsbegriff kleinmaschiger und deshalb nicht nur fassbarer sondern auch justitiabler war.“
3. Gesetzlicher Unsinn
Und warum sollten wir das Erreichte aufgeben? Es muss doch eigentlich auch dem letzten Erdenbürger einleuchten, dass in dem Moment, in dem das Kapital der Investoren verbraucht ist, und sie dementsprechend nur noch mit dem von den Gläubigern zur Verfügung gestellten Kredit wirtschaften, sprunghaft ihre Bereitschaft steigt, auch unvernünftige unternehmerische Risiken in Kauf zu nehmen, um in einer Art Casino-Aktion noch zu retten, was zu retten ist. Genau in diesem Moment beginnt die Gefahr, dass eine sorgfaltswidrige Kapitalvernichtung im Wege einer Spekulation auf Kosten der Gläubiger tatsächlich stattfindet. Und deshalb muss dann auch der Antrag gestellt werden. Die Bundesregierung glaubt stattdessen, sie könne sich auf die Prognose verlassen, dass das Unternehmen ertragsfähig sei und bald wieder Gewinne erwirtschaften wird. M.E. ist das lachhaft. Die Bundesregierung räumt den Unternehmen damit genau die Freiheiten ein, die doch nach überwiegender Auffassung zur Finanzkrise geführt haben.
Der jetzt wieder aus der Mottenkiste hervorgeholte alte Überschuldungstatbestand hatte in seiner Auslegung durch den II. Senat des BGH seine Funktionalität vollständig verloren. Denn auch bei rechnerischer Überschuldung reichte letztlich eine „Prognose“, dass sich das Unternehmen wieder erholen werde, und schon brauchte kein Antrag gestellt zu werden. Statt die Antragspflicht noch weiter zu verschärfen und damit die Unternehmen dazu anzuhalten, für eine bessere Ausstattung mit Eigenkapital zu sorgen, meint die Bundesregierung, man könne es für zwei Jahre hinnehmen, dass die Unternehmen jetzt erst wieder dann den Insolvenzantrag stellen, wenn es wirklich schon zu spät ist. Bei der zu erwartenden Kreditklemme wird das viele Werte vernichten. Diese Rückkehr zum alten Überschuldungstatbestand verschärft die Finanzkrise!
Im Übrigen ist die „neue alte“ Formulierung in sich widersprüchlich: Ob „die Fortführung des Unternehmens wahrscheinlich“ ist oder nicht, hängt zunächst einmal davon ab, ob ein Insolvenzverfahren eingeleitet wird oder nicht: Liest man die Vorschrift so, ist sie selbstbezüglich: „Ein Insolvenzverfahren wird durchgeführt, es sei denn es wird keines durchgeführt“. Aber auch wenn man dagegen hält, über die Fortführung werde gerade (und nur) innerhalb des Insolvenzverfahrens entschieden, bleibt die jetzt Gesetz gewordene Formulierung widersprüchlich: Denn dann lautet sie: Das Verfahren, in dem über die Fortführung entschieden wird, ist erst dann zu beantragen, wenn die Entscheidung bereits getroffen ist (nämlich verneint wird). Beide Varianten sind also Unsinn!
4. Wider die Stigmatisierung der Insolvenz
Richtiges Mittel, um den Unternehmen bei den denkbaren Folgen der Finanzkrise zu helfen, ist jedenfalls nicht die Rückkehr zum alten Überschuldungsbegriff, mit der man sie nur weiter abwirtschaften lässt, bis es wirklich zu spät ist.
Vielmehr muss man das Insolvenzverfahren so ausgestalten, dass es von den Unternehmen möglichst frühzeitig und am besten freiwillig in Anspruch genommen wird, weil sie darin eine echte Chance für eine Sanierung und für professionelle Hilfe sehen, mit der nicht Werte zerschlagen, sondern gerettet werden.
Das trifft freilich auf Schwierigkeiten. In der deutschen Gesellschaft herrscht immer noch die Vorstellung, dass ein Insolvenzverfahren ausschließlich Werte vernichtet und unbedingt zu vermeiden ist. Dabei gibt es gerade in der Insolvenzordnung auch die Möglichkeit zur Besserung mit dem Insolvenzplanverfahren. Zu den vorwiegend historischen Gründen für diese teilweise irrationale Stigmatisierung des Insolvenzverfahrens siehe etwa Paulus ZGR 2005, 309ff. Deshalb ist es aus psychologischen Gründen ratsam, dem Verfahren sein Stigma zu nehmen, was z.B. für eine besondere Bezeichnung des Sanierungsverfahrens spricht, etwa Reorganisationsverfahren. Jedenfalls darf es nicht mit dem Wort Insolvenz in Verbindung gebracht werden. Wer meint, die reine Bezeichnung sei nur Schall und Rauch, verkennt, wie viel Irrationalität bei der ganzen Angelegenheit mit im Spiel ist. Ob man ein eigenes Sanierungsgesetz benötigt, ist dagegen fraglich, vgl. Uhlenbruck, NZI 2008, 201ff.
In der Sache existieren in der insolvenzrechtlichen Literatur jedenfalls so viele Vorschläge, dass der Gesetzgeber sie relativ einfach zu einem Maßnahmenpaket hätte schnüren können – wenn er denn ernsthaft Prävention gegen die absehbaren Folgen der Finanzkrise leisten wollte (vgl. dazu etwa Uhlenbruck, NZI 2008, 201ff.; Jaffé/ Friedrich, ZIP 2008, 1849ff.; MünchKommInso/Eidenmüller § 271 Rn. 74 – 76 iVm. vor § 217ff. Rn. 6.).
5. Zuckerbrot und Peitsche
M.E. ergäbe sich bei einer sinnvollen Reform folgendes Bild für Kapitalgesellschaften: Das Insolvenzverfahren muss auf der einen Seite Eingriffe in Gesellschafterrechte ermöglichen, die Gesellschafter dürfen das Rettungsverfahren nicht torpedieren können. Derartige Eingriffe halten allerdings die Gesellschafter eher davon ab, den Insolvenzantrag zu stellen bzw. durch ihren Geschäftsführer stellen zu lassen. Und der Geschäftsführer wird sich selbst bei Strafdrohung nur selten gegen die Wünsche der Gesellschafter wenden oder ist sogar selbst Gesellschafter. Deshalb muss das Insolvenzrecht auf der anderen Seite den Gesellschaftern einen Anreiz bieten, wenigstens zum Teil von einer Sanierung, an der sie mitwirken, auch profitieren zu können.
Um diese widersprüchlichen Regelungsansätze zu vereinen, ist m.E. je nach dem Zeitpunkt der Antragstellung sich unterscheidende Verfahren notwendig. Erste Stufe: Wenn die Gesellschaft früh genug den Antrag stellt, dann sollten die Gesellschafter von vielerlei Vorteilen profitieren: Die Vorteile der §§ 80ff. Inso (automatic stay), dazu Paulus, ZGR 2005, 319 gibt es ohnehin; aber die Möglichkeit der Eigenverwaltung oder die von Uhlenbruck NZI 2008, 204f. vorgeschlagenen Einschränkungen der Gläubigerautonomie könnten etwa auf solche Verfahren begrenzt werden, die die Gesellschaft früh genug, d.h. etwa bereits bei einer Überschuldung zu Liquidationswerten ausgelöst hatte. Solche Verfahren wären dann Reorganisationsverfahren.
Zweite Stufe: Stellt die Gesellschaft den Antrag jedoch zu spät (zu einem Zeitpunkt nach endgültiger und zweifelsfreier Verwirtschaftung des Eigenkapitals, also z.B. bei Überschuldung nach Handelsbilanz bzw. zu Fortführungswerten), so sollte man ihnen dagegen bestimmte Rechte wegnehmen. Dabei geht es vor allem um Eingriffe in das bislang den Gesellschaftern auch in der Insolvenz zustehende Recht, einen Fortführungsbeschluss zu fassen. Solche Eingriffe in dieser Konstellation keinesfalls verfassungsrechtlich bedenklich: Wenn das Eigenkapital unter jedem Gesichtspunkt verwirtschaftet ist, gehört die Gesellschaft nicht mehr den Gesellschaftern, sondern allein den Gläubigern. Ein Fortführungsbeschluss kann deshalb nicht ernsthaft noch Sache der Gesellschafter sein. Allein die Gläubiger haben deshalb das Recht, einen Fortführungsbeschluss zu fassen, eine entsprechende Einschränkung des § 60 Abs. 1 Nr. 4 GmbHG bzw. § 274 Abs. 2 Nr. 1 AktG ist nicht nur unproblematisch, sondern geradezu geboten vgl. auch ausführlich MüKoInsO/Eidenmüller § 271 Rn. 74 – 76 iVm. vor § 217ff. Rn. 6. Auch ein debt-equity swap sollte dann gegen den Willen der Gesellschafter möglich sein, das Insolvenzgericht muss ferner einzelne Gesellschafter mindestens aus wichtigem Grund ausschließen können (vgl. noch einmal Uhlenbruck, NZI 2008, 201ff.). All dies ist bereits so oft gefordert worden, dass ein entsprechendes Gesetz ebenso flugs auf den Weg hätte gebracht werden können, wie der Handstreich des Gesetzgebers zu § 19 Abs. 2 InsO.
6. Keine Alternative
Hölzle geht dagegen den genau umgekehrten Weg: Er will § 18 InsO (drohende Zahlungsunfähigkeit) von einem Antragsrecht zu einer Antragspflicht umbauen und versperrt damit m.E. letztlich genau das, was es zu unterstützen gilt, nämlich eine von den Gesellschaftern gewünschte Reorganisation. Im Übrigen gibt es in seinem Vorschlag keine besonderen insolvenzrechtlichen Kautelen für Gesellschaften mit Haftungsbeschränkung mehr. Denn § 18 InsO gilt für alle Schuldner, nicht nur für haftungsbeschränkte. Eine Sonderbehandlung von Gesellschaften mit Haftungsbeschränkung im Insolvenzrecht ist als Gegengewicht zur Haftungsbeschränkung aber geboten.
Am 24. Oktober 2008 um 18:39 Uhr
Da kann ich Herrn Wackerbarth nur zustimmen –>[„Es muss doch eigentlich auch dem letzten Erdenbürger einleuchten, dass in dem Moment, in dem das Kapital der Investoren verbraucht ist, und sie dementsprechend nur noch mit dem von den Gläubigern zur Verfügung gestellten Kredit wirtschaften, sprunghaft ihre Bereitschaft steigt, auch unvernünftige unternehmerische Risiken in Kauf zu nehmen, um in einer Art Casino-Aktion noch zu retten, was zu retten ist. Genau in diesem Moment beginnt die Gefahr, dass eine sorgfaltswidrige Kapitalvernichtung im Wege einer Spekulation auf Kosten der Gläubiger tatsächlich stattfindet. Und deshalb muss dann auch der Antrag gestellt werden. Die Bundesregierung glaubt stattdessen, sie könne sich auf die Prognose verlassen, dass das Unternehmen ertragsfähig sei und bald wieder Gewinne erwirtschaften wird. M.E. ist das lachhaft. Die Bundesregierung räumt den Unternehmen damit genau die Freiheiten ein, die doch nach überwiegender Auffassung zur Finanzkrise geführt haben.“]
Ergänzend ist festzuhalten, dass im kleinen Rahmen (aber auch Kleinvieh macht Mist) bei der idR kapitallosen UG genau dasselbe passieren wird, nämliches riskantes Wirtschaften auf Kosten der Gläubiger (insbesondere der Steuerbehörden und Sozialversicherungsträger). Das kann und konnte man schon längere Zeit bei den hier in der BRD tätigen Limiteds beobachte. Die Bundesregierung wollte aber nicht sehen…
Peter Ries
Am 25. Oktober 2008 um 12:42 Uhr
Die Gefahren, von denen Sie sprechen, sind real und werden durch die Rückkehr zum „modifizierten zweistufigen Überschuldungsbegriff“ i.S. der späteren Rechtsprechung des BGH sicher erhöht. Sie resultieren aber nicht eigentlich aus der größeren Relevanz der Fortführungsprognose (im Vergleich zum „älteren zweistufigen Überschuldungsbegriff“, wie wir ihn der Sache nach auch in § 19 II InsO bisheriger Fassung wiederfinden), sondern aus Mängeln bei deren Handhabung, insbesondere deren unzulässiger Subjektivierung.
Die jetzige Rückkehr zum „modifizierten zweistufigen Überschuldungsbegriff“ wirkt sich ja nur dann praktisch aus, wenn die Fortführungsprognose zwar positiv ist, sich aber auch bei Bilanzierung nach Fortführungswerten eine Unterdeckung ergibt. Bei sachgerechter Handhabung des Kriteriums der positiven Fortführungsprognose (solide mittelfristige Ertrags- und Finanzplanung) sind diese Fälle aber selten. Wird diese Stellschraube dagegen falsch bedient, ist mit der dann folgenden Bilanzierung nach Fortführungswerten die Sache doch normalerweise ohnehin gelaufen.
Wenn man nicht (wie bekanntlich neuerdings wieder vorgeschlagen wird …) generell eine Bilanzierung nach Liquidationswerten verlangen will, stellen die Prognosekriterien deshalb ohnehin das Kardinalproblem dar. Indem wir durch die Gesetzesänderung noch mehr als bisher gezwungen werden, uns damit zu befassen, hat sie aus meiner Sicht durchaus ihr Gutes.
Am 13. Juli 2012 um 11:34 Uhr
[…] Für dreist halte ich die Einschätzung der Autoren, die volkswirtschaftlichen Vorteile der Änderung des Überschuldungstatbestands in Zeiten der Finanzkrise dürften die Nachteile klar überwiegen (aaO S. 1207). Wie immer man zum Überschuldungstatbestand steht, man kann aufgrund einer bloßen Expertenbefragung nicht etwas wissenschaftlich Haltbares über volkwirtschaftliche Vor- oder Nachteile aussagen. Und geradezu widersprüchlich ist es, einerseits die geringe Bedeutung des § 19 InsO in der Praxis zu betonen und andererseits von “volkswirtschaftlichen Vorteilen” einer Änderung dieses — ja nicht praktizierten — Tatbestands zu sprechen. Meine eigene Einschätzung der volkwirtschaftlichen Auswirkungen der Änderung des Überschuldungstatbestands im Rahmen der Finanzkrise sieht jedenfalls anders aus (hier). […]