Arme Richter in der ach so komplizierten Wirtschaftswelt
von Ulrich Wackerbarth
Strohn, seines Zeichens Bundesrichter am II. Zivilsenat des BGH, schwadroniert in der aktuellen ZHR 2014, 115 ff. unter dem Titel „Der Richter als Allround-Genie?“ über die „Rechtsfortbildung durch Anwendung nicht juristischer Fachbegriffe“. Das ist nun ein spannendes Thema, sind doch gerade Wirtschafts- und Rechtswissenschaften vielfach verwoben und gibt es nicht erst seit der ökonomischen Analyse des Rechts auch die Notwendigkeit einer normativen Analyse betriebswirtschaftlicher Realitäten. Wer sich über außerjuristische Fachbegriffe auslässt, sollte freilich seinerseits begriffliche Schärfe walten lassen.
1. Außerjuristische Fachbegriffe?
Was Strohn unter „nicht juristischen Fachbegriffen“ versteht, entpuppt sich hingegen als bestenfalls weit hergeholt. Schon die ersten Beispiele (aaO 116) lassen für die weitere Lektüre nichts Gutes ahnen: Wieso ist „Regeln der Technik“ ein außerjuristischer Fachbegriff? Was ist daran Fachbegriff und aus welchem Fachgebiet stammt er?
Strohn meint weiter, die Regeln der Business Judgment Rule seien voller außerjuristischer Fachbegriffe (und zwar aus dem „Wirtschaftsleben“, ein mir ganz unbekanntes Fachgebiet), Fachbegriffe etwa wie „vernünftigerweise annehmen dürfen“ und „angemessene Information“. Ist Strohn sich hier sicher, dass er nicht den juristischen terminus technicus „unbestimmter Rechtsbegriff“ mit „außerjuristischem Fachbegriff“ verwechselt?
Auch das nächste Beispiel überzeugt nicht: Der „more economic approach“ ist kein außerjuristischer Fachbegriff, unter den ein Jurist Sachverhalte subsumieren müsste. Das räumt Strohn auch sofort ein, wenn er davon spricht, dass damit eher eine wirtschaftspolitische (genauer: wettbewerbspolitische) Zielsetzung gemeint ist (aaO 117). Der neue „approach“ habe aber Eingang in den neuen § 36 GWB gefunden, indem dort nunmehr auch von einer erheblichen Wettbewerbsbehinderung gesprochen werde. Nun mag insbesondere der Begriff „Wettbewerb“ tatsächlich ein Fachbegriff sein, den sich jedenfalls Juristen und Volkswirtschaftler (nicht: Betriebswirtschaftler, aaO 117) teilen. Aber der Begriff ist nun schon seit jeher Teil des Kartellrechts, was hat er mit dem „more economic approach“ zu tun?
Wenig ein leuchtet mir auch die Behauptung, der Gesetzgeber setze mit den zitierten Rechtsbegriffen noch kein „unmittelbar anwendbares Recht“ (aaO 118). Das habe ich im Studium anders gelernt: Auch unbestimmte Rechtsbegriffe sind unmittelbar anwendbar, der Richter muss sie auslegen. Zustimmen will ich Strohn aber darin, dass sie dem Richter viel Spielraum bei der Auslegung lassen, wobei ich selbst mich mittlerweile frage, welche Rechtsbegriffe eigentlich nicht „unbestimmt“ sind. Letztlich gibt es bei der Subsumtion unter jedes Tatbestandsmerkmal stets Randunschärfen und damit Gestaltungsmöglichkeiten für den Richter.
2. Die richterliche Lösung eines unklares Problems
Bisher helfen dem Richter bei der Auslegung außerjuristischer Fachbegriffe zum einen Sachverständige, die freilich, das merkt auch Strohn (aaO 119 f.), zur Auslegung der von ihm als Fachbegriffe missverstandenen unbestimmten Rechtsbegriffe nichts beizutragen haben. Wie genau amici curiae (aaO 120 f.) auf die Auslegung solcher Begriffe Einfluss nehmen, wird nicht klar, aber Strohn findet deren Beiträge zur „entscheidenden Materie“ offenbar ganz gut. Dann endlich wird es juristisch: Strohn erklärt (aaO 121 ff.), was Richter in der Praxis tun. Allerdings hat man das als Jurastudent schon im ersten Semester gelernt: Der unbestimmte Rechtsbegriff wird „aufgeschlüsselt“, d.h. definiert und konkretisiert, im Ergebnis durch mehrere andere Begriffe beschrieben, unter die dann eine Subsumtion einfacher ist. Dass dem Richter auch hier Gestaltungsspielraum bleibt, ist klar.
Weniger klar und wenig schön ist es allerdings, wenn Strohn nun (aaO 123) darauf verweist, dass am Ende dem Richter nichts anderes bleibe, als aus dem „Inbegriff seiner Erfahrung“ und „psychologischen Vorfestlegungen“ zu entscheiden und dabei Arbeiterkinder als Richter andere Akzente setzen als solche, deren Vater Geschäftsführer war. Ich habe immer gedacht, dass derartige psychologische Erkenntnisse Kritik und Anreiz zur Verbesserung sind. Strohn hingegen sieht sie als Faktum an; mir wäre das zu wenig.
3. Ver(schlimm)besserungsvorschläge
Nicht ganz zufrieden mit derartiger „Irrationalität“ sucht auch Strohn nach Wegen, das ökonomische Fingerspitzengefühl der Richter zu stärken. Ich selbst wäre sofort versucht, die aktuellen Richter auf eigene Bemühungen um besseres ökonomisches Fachwissen, gar ein Selbst-Studium zu verweisen.
Die Vorschläge von Strohn vermeiden solche Eigenanstrengungen aber vorbildlich. Man kann sich ja den ökonomischen Sachverstand durch ehrenamtliche Richter (aaO 124) oder amici curiae (aaO 126) in das Gericht holen [und so seine Verantwortung an andere abgeben, Anm. d. Verf.]. Kostengünstig und „ohne zusätzliche Arbeit“ [für die Richter, Anm. d. Verf.] ist auch die Möglichkeit der Spezialisierung, d.h. die in Handelssachen einmal eingearbeiteten Richter nicht mehr rotieren zu lassen (aaO 127). Richtig, mir nach den vorangegangenen Ausführungen freilich unverständlich, findet es Strohn (aaO 128) dagegen, wenn es bei richterlicher Fortbildung überwiegend um juristische Themen geht. Denn erst wenn der Richter sein eigenes Fachgebiet beherrscht, kann er sich außerjuristischen Themen zuwenden [in der Praxis also nie, Anm. d. Verf.].
Effizient wäre es vielleicht, nur noch Juristen mit einem Doppelstudium (Volkswirtschaft, nicht Betriebswirtschaft) und Praxiserfahrung in der Wirtschaft zu Richtern des Gesellschaftsrechtssenats des BGH zu machen. Eine in diese Richtung gehende Praxis in England (aaO 128) hält Strohn freilich nicht für den „Königsweg“. Seine Argumentation ist dabei für die Praxis richterlicher Entscheidungsfindung im II. Senat beispielhaft, indem sie nämlich an der Sache einfach meilenweit vorbeigeht: Ein „Studium der Altertumswissenschaft“ [über das nach Strohn Lord Wilberforce in England verfügte, Anm. d. Verf.] führe nicht notwendig zu einem Gespür für ökonomische und soziale Problemlagen. Und die Tätigkeit als Barrister ermögliche auch kaum echte Praxiseinblicke. Kein Wort zum Vorsprung in der Lebenserfahrung oder dazu, dass man ja eben auch ein Studium der Volkswirtschaftslehre oder eine bestimmte Praxistätigkeit für eine Tätigkeit als Richter im Gesellschaftssenat verlangen könnte.
Neben einer Ermöglichung der Rotation in die Privatwirtschaft (aaO 129 f.) erhofft sich Strohn als „Ausblick“ noch eine Verbesserung in der juristischen Ausbildung: Etwas mehr studium generale tue not und Einblick in die Praxis durch Praktika. Fragt sich nur, welche Praxis – und ob mich ein Praktikum während des Studiums dazu befähigt, später als Richter das Rechtsschutzsystem des WpÜG zu beurteilen, frage ich mich auch.
4. Leitlinien für die Rechtsfortbildung
Gegenüber dem wenig zielführenden Sammelsurium von Strohn schlage ich hier einige einfache Regeln für rechtsfortbildende Entscheidungen vor, deren Beachtung auch den Berufsrichtern ohne Doppelstudium möglich ist.
a) Folgenorientiertes Entscheiden
Der Richter soll stets auf die Konsequenzen der ins Auge gefassten Rechtsfortbildung achten. Dazu gehört zunächst eine Rückschau: Wird eine bislang anerkannte Regel aufgehoben, gerät ein bestehendes Gefüge aus dem Lot, die Kautelarjurisprudenz wird sich fragen, ob die übrigen zum System gehörenden Regeln weiter Geltung beanspruchen oder ob auch sie zu Diskussion stehen. Jede Rechtsfortbildung trägt Rechtsunsicherheit in das System.
b) Vermeidung von Dummenrecht
Zur Folgenabschätzung (dazu auch hier unter 2 c) gehört aber auch eine Vorschau: Welche Anreize löst die Entscheidung für die Rechtsunterworfenen aus, wie werden sie auf die Entscheidung reagieren? Können sie die aufgestellte Regel durch abweichende Gestaltung vermeiden? Gilt die neue Regel dann am Ende nur für „Dumme“, die die Rechtslage nicht kennen oder nicht durch Fach- und Kautelarjuristen beraten sind? Hier braucht es etwas gesunden Menschenverstand und Erfahrung und gerade nicht das ökonomische Fachwissen, wie Strohn aber offenbar glaubt. Eine Entscheidung soll stets so ausfallen, dass ihr tragender Rechtsgedanke nicht durch abweichende Gestaltung umgangen werden kann. Die Entstehung von Dummenrecht ist zu vermeiden.
c) Ausführliche Entscheidungsbegründung (Auseinandersetzung mit den Gegenargumenten)
Der Richter soll seine Entscheidung begründen. Nur eine begründete Entscheidung schafft Rechtsfrieden und hat Aussicht auf Bestand, nur sie beinhaltet neben der gesetzten Regel auch zugleich ihre eigenen Grenzen. Dabei soll sich seine Begründung nicht an die Parteien richten: Wer gewinnt, braucht die Begründung nicht und wer verliert, will sie in aller Regel nicht verstehen. Seine Begründung soll sich vielmehr richten an andere Richter und neutrale juristische Experten.
Soweit es um eine noch nicht anerkannte Regel geht, steht sie meist nicht im leeren Raum, sondern wird bereits in der Literatur diskutiert. Die Begründung soll sich mit den vorgetragenen Argumenten auseinandersetzen. Diese Anforderungen sind geringer, als man angesichts der Massen juristischer Aufsätze und „Fachliteratur“ auf den ersten Blick denken mag. Denn keinerlei richterliche Aufmerksamkeit braucht der Richter ca. 99 % der pseudo-juristischen Aufsätze von interessierter Seite zu schenken. Wer freilich als Richter unterschiedslos Meinungen zählt und aneinanderreiht und dabei auch noch falsch zitiert, der hat vor derartigen professionellen Notwendigkeiten schon längst überfordert die Segel gestrichen.
Gegen diese einfachen Anforderungen verstößt der II. Senat übrigens regelmäßig, wie in diesem Blog mehrfach kritisiert. Viele seiner Entscheidungen sind deshalb wenig wert, nur Ausdruck willkürlicher Machtausübung, und es kommt deshalb nicht von ungefähr, wenn die Autorität deutscher Richter mit der angelsächsischer Richter wenig vergleichbar ist.
Am 30. Mai 2014 um 12:47 Uhr
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