Steht das BGB im Belieben deutscher Richter?

von Ulrich Wackerbarth

Unter der Überschrift: „Europarichter stellen das BGB ins Belieben deutscher Gerichte“ machen Willemsen und Sagan in der heutigen FAZ (Rubrik Recht und Steuern) Stimmung gegen das aktuelle EuGH-Urteil C555/07 vom 19.1.2010 in der Sache Kücükdeveci.

Die Arbeitgeber müssten die „Folgen der europarechtlichen Ignoranz des deutschen Gesetzgebers“ ausbaden und würden von der deutschen und europäischen Rechtsordnung im Stich gelassen, was im Hinblick auf das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit ein „beschämendes Ergebnis“ sei.

Was liegt dieser Einschätzung zugrunde? Es geht zunächst einmal (nur) um die Regelung des § 622 Abs. 2 BGB, also bei weitem nicht um das gesamte BGB, das ins Belieben der deutschen Gerichte gestellt wird.

Nach dieser Vorschrift verlängert sich die Kündigungsfrist für Arbeitnehmer je nach Dauer ihrer Beschäftigungszeit, was man wohl ohne weiteres nachvollziehen kann. Allerdings sollen nach der Regelung in § 622 Abs. 2 S. 2 BGB Beschäftigungszeiten vor dem 25. Lebensjahr des Arbeitnehmers nicht berücksichtigt werden.

Diese vom EuGH nun für diskriminierend erklärte Regel ist eine typisch deutsche Sondervorschrift, die der deutschen Detailverliebtheit und dem Wunsch entspricht, mit Ausnahmen und Rückausnahmen möglichst eine besonders hohe Gerechtigkeit  zu erzielen. Dass über derartige Regeln sehr häufig entgegen Art. 3 Abs. 1 GG Gleiches ungleich behandelt wird, fällt vielen schon nicht mehr auf. Demgegenüber denkt der EuGH sehr viel egalitärer und ist durchaus bereit, ungerechtfertigten Privilegien oder Benachteiligungen europarechtlich den Boden zu entziehen. Welchen sachliche Grund gibt es, Zeiten vor dem 25. Lebensjahr von der Beschäftigungsdauer auszunehmen? Keinen, meint der EuGH Ist die Beschäftigungszeit jüngerer Arbeitnehmer weniger wert? Nein.

Nun hat der EuGH gemeint, die Gerichte dürften die diskriminiernde Regel auch tatsächlich nicht mehr anwenden.  Willemsen und Sagan schließen daraus, dass es dann zu einer Anwendung nur der Fristen kommt, die in § 622 Abs. 2 S. 1 BGB stehen. Eine solche „isolierte“ Nichtanwendung des § 622 Abs. 2 S. 2 BGB hätte natürlich für Arbeitgeber äußerst belastende wirtschaftliche Folgen, da sehr viele Arbeitnehmer auf diese Weise längere Kündigungsfristen hätten als bislang (insoweit zutreffend Willemsen/Sagan).  Die Nichtanwendung des § 622 Abs. 2 S. 2 BGB steht aber deshalb nicht „im Belieben“ der deutschen Gerichte, vielmehr gebietet sie eine Antidiskriminierungsvorschrift europäischen Rechts, die von deutschen Gerichten nun einmal genauso zu beachten ist wie das BGB selbst.

Ob das ganze im Ergebnis wirklich zu Lasten der Arbeitgeber geht, wie Willemsen und Sagan befürchten, ist im Übrigen noch keineswegs ausgemacht. Denn der EuGH hat nicht vorgeschrieben und kann auch gar nicht vorschreiben, auf welche Weise das nationale Gericht die Diskriminierung abschafft bzw. welche Konsequenzen die Nichtanwendung der diskriminierenden Norm nach nationalem Prozess- und Verfassungsrecht hat. Die isolierte Nichtanwendung der diskriminierenden Regel und Anwendung des Restes der Vorschrift auf den Fall ist nur eine von vielen Möglichkeiten. Vor allem hat der EuGH auch nichts zum Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts nach deutschem Recht (vgl. Art. 100 GG) gesagt, sondern nur dazu, ob nationale Gerichte dem EuGH die Frage vorlegen müssen oder nicht. Die Verpflichtung des nationalen Gerichts, die diskriminierende Vorschrift nicht anzuwenden, bedeutet noch lange nicht, dass das nationale Gericht das Recht hätte, nunmehr nach deutschem Recht einfach gem. § 622 Abs. 2 S. 1 BGB unter Außerachtlassung des § 622 Abs. 2 S. 2 BGB den Rechtsstreit zu entscheiden, wovon aber viele wohl ausgehen.

Wenn, was anzunehmen ist, eine richtlinienkonforme Auslegung dieser Vorschrift nicht möglich ist, so ist vielmehr die Vorschrift des § 622 Abs. 2 BGB insgesamt dem BVerfG vorab zur Entscheidung vorzulegen, um die nationalen Kompetenzen zu wahren. Denn eine Entscheidung nach § 622 Abs. 2 BGB ohne den vom EuGH verworfenen Teil der Regelung wäre die Anwendung eines Gesetzes, über das der deutsche Gesetzgeber niemals in einem rechtsstaatlichen Verfahren (Art. 20 Abs. 3, vgl. auch Artt. 74 ff., 78 GG) entschieden hat. Unser Parlament hat eine derartige Regelung (ohne den Abs. 2 S. 2) zu keiner Zeit gewollt und niemals beschlossen. Die Anwendung eines „verkürzten § 622 Abs. 2 BGB“ wäre also die Anwendung eines klar verfassungswidrigen Gesetzes. Deshalb muss das nationale Gericht gem. Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorlegen. Tut es das nicht, muss gegen die Entscheidung jedenfalls eine Verfassungsbeschwerde möglich sein.

Das BVerfG hat dann zu entscheiden, ob und wie es den dem europarechtlichen Diskriminierungsverbot Rechnung tragen will und welche Folgen die Nichtanwendung des derzeit geschriebenen § 622 Abs. 2 S. 2 BGB hat. Und dabei kann niemand voraussagen, wie eine solche Entscheidung des BVerfGG ausfallen wird.

Anbei ein  Vorschlag für eine nichtdiskriminierende Lösung des Problems, die gerade nicht zu Lasten der Arbeitgeber (sondern zu Lasten der Arbeitnehmer) ginge und die das BVerfG z.B. vorläufig bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber erfinden könnte (was es ja auch bislang schon häufiger gemacht hat):

„Bei der Berechnung der Dauer des Bestehens des Arbeitsverhältnisses im Sinne des § 622 Abs. 2 S. 1 BGB werden bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber die ersten 7 Jahre nicht berücksichtigt.“

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