Diagnose: schlechtes Recht
von Ulrich Wackerbarth
Das Symptom: immer weniger Aktionäre
Die Diagnose: schlechtes Aktienrecht
„Therapie“ (der Bundesregierung): noch schlechteres Aktienrecht!
1. Symptom
In der FAZ vom 27. Februar auf Seite 17 ist es zu lesen: Es gibt nun 700.000 Aktionäre weniger als im 1. Halbjahr 2012. Nachdem es letztes Jahr so aussah, als würden wieder mehr Deutsche ihr Geld unmittelbar in Aktien anlegen, ist dieses Jahr erneut ein starker Rückgang zu verzeichnen. Von unseren 80 Mio. Einwohnern halten nur noch knapp 4,2 Mio. unmittelbar Aktien. Zu Hochzeiten 2001 waren es mal 6,2 Mio.
Werden wenigstens Aktienfonds gekauft? Nein, seit 2001 gibt es einen langfristigen Rückgang von 10 Mio. auf nunmehr nur noch 6 Mio. Inhaber von Fondsanteilen und das in einer Zeit, in der Tagesgeld und Geldmarktfonds nichts einbringen und allen empfohlen wird, wenigstens einen Teil des Geldes in Sachwerten anzulegen.
Die Zahl der Anleger, die Aktien oder Aktienfonds oder beides halten, also derer, die irgendwie in Aktien investiert haben, ist von 13 Mio. im Jahr 2001 auf 8,8 Mio. zurückgegangen (siehe hier). Es besteht kein Zweifel: Die Deutschen kaufen keine Aktien. Wir sind international Schlusslicht (siehe hier).
2. Diagnose
Woran liegt es? Verantwortlich ist m.E. zu einem guten Teil das schlechte Aktienrecht, das wir in Deutschland leider haben, und zwar einschließlich seiner Auslegung durch eine Vielzahl misslungener Urteile.
— es gibt kein der Aktionärsklage (derivative suit) vergleichbares Instrument, mit dem Managerfehlverhalten entgegengewirkt werden könnte, dafür aber die sinnfreie Managerentlastung durch Expertenrat
— es fehlen Klageanreize: es gibt keine Erfolgshonorare für Anwälte und absurde Kostenregeln, die Klagen von Aktionären verhindern
— auch existiert keine class action wie in den USA, das KapMuG ist bestenfalls ein schlechter Scherz
— dafür aber ermöglicht das deutsche AktG die Anfechtung von HV-Beschlüssen und ihren Mißbrauch durch strike suits von Berufsklägern
— das Aktienrecht kennt kein effizienten Schutz vor Mißbrauch durch Groß- bzw. Mehrheitsaktionäre. Namentlich gibt es ein dysfunktionales Konzernrecht, das nur die Mehrheit schützt, obwohl es eigentlich zum Schutz der außenstehenden Aktionäre eingerichtet wurde (lässt sich exempflizieren an argumentationsfreien und falschen Entscheidungen zu Lasten von benachteiligten Aktionären wie z.B. der Strabag-Entscheidung des BGH (Ablehnung von Beweiserleichterung für außenstehenden Aktionär), der Entscheidung zu Ausgleichsansprüchen und Squeezeout, der RWE-Entscheidung und der Entscheidung zu Vorstandsdoppelmandaten im Konzern, die letztgenannte von mir u.a. kritisiert in Der Konzern 2010, 261, 265 f.)
— die Rechtsprechung hat ferner den gesetzlich vorgesehenen Schutz vor mißbräuchlichen Übernahmen praktisch abgeschafft. Beispiele sind die Verfahren Deutsche Bank/Postbank, in der den Kleinanlegern ihr Anteil am Paketzuschlag vom OLG Köln vorenthalten wird (siehe hier) und die WMF-Entscheidung des BGH (ein abgestimmtes Verhalten kann praktisch nicht ermittelt werden, weil den außenstehenden Aktionären keine effektiven Mittel zur Prüfung in die Hand gegeben werden, mit teils abenteuerlichen Behauptungen, von mir kritisiert in ZIP 2007, 2340 ff.).
— dafür aber gibt es die absurde und realtitätsfremde Fiktion der Unabhängigkeit von Aufsichtsratsmarionetten durch die höchstrichterliche Rechtsprechung (siehe hier)
Die Liste ließe sich beliebig verlängern, sie steht indessen unter einem Leitmotiv: Das Deutsche Aktienrecht ermöglicht den Missbrauch und das Ausnehmen von Kleinanlegern durch Insider. Kleinanleger tragen in Deutschland nicht nur das unternehmerische Risiko, wenn sie sich über Aktien an Unternehmen beteiligen. Sie müssen leider darüber hinaus noch das Risiko auf sich nehmen, unfair behandelt zu werden, und zwar von ihren Managern, von Großaktionären, von der Rechtsprechung. Mich wundert, dass es überhaupt noch Aktionäre gibt! Dabei wären mehr Aktionäre gut für unsere Volkswirtschaft, für die Finanzierung von Unternehmen, gut auch gegen Schulden- und Eurokrise. Aber das sehen diejenigen natürlich nicht, die vor allem Angst vor klagewütigen Berufsklägern haben und glauben, sie könnten unserer Wirtschaft helfen, indem sie statt Anlegerschutz möglichst weitgehenden Unternehmens- und Managerschutz gewährleisten.
3. „Therapie“
Nur zwei Seiten nach dem erwähnten Artikel findet sich in der FAZ vom selben Tage auf der Seite 19 ein Interview zu einem typischen Beispiel für die Fortentwicklung des Aktienrechts zulasten von Kleinaktionären: Die Bundesregierung plant mal wieder Einschnitte in den Anlegerschutz, nämlich durch das Abschneiden von Instanzen angeblich zur Verkürzung der Spruchverfahren, eine Ersetzungsbefugnis für eine eigentlich Bargeld schuldende AG und anderen Unsinn. Gegen solche Einschnitte spricht sich u.a. Oliver Vossius für den Deutschen Notarverein aus. Seine lesenswerte Stellungnahme bezeichnet die geplante Ersetzungsbefugnis als einen „massiven Bruch im seit fast 130 Jahren gewachsenen System von Kapitalaufbringung, Kapitalerhaltung und Kontrolle des Organhandelns“. Und die lange Dauer von Spruchverfahren liege offenbar nicht an den zu vielen Instanzen, sondern daran, dass die Gutachter zu wenig Budget für ihre Dienste bekämen. Ähnlich, z.T. drastisch, äußert sich der Gesellschaftsrechtsausschuss der BRAK.
Ganz anders fällt die Bewertung des ehemaligen Präsidenten des OLG Stuttgart, Eberhard Stilz, in besagtem Interview in der FAZ aus: „Kein Schlag gegen Kleinaktionäre“, so der Titel des Beitrags und so auch weitgehend seine Antworten. Zur Verkürzung der Spruchverfahren möchte Herr Stilz darüber hinaus noch stärker auf den Börsenkurs abstellen (also überhaupt kein Gutachten mehr in Auftrag geben). Das Problem dabei: Das SpruchG gilt auch für Abfindungen bei Unternehmensverträgen und Squeezeout. Der Börsenkurs allein schützt die Aktionäre dann nicht genug, da derartige Strukturmaßnahmen in abhängigen Gesellschaften genau dann durchgeführt werden, wenn die Aktie unterbewertet ist.
Wie der Effecten-Spiegel berichtet (hier, Nachricht vom 11.2.2013), basieren diese Vorschläge auf einer Initiative u.a. des FDP-Politikers Marco Buschmann. Dieser hat, obschon Rechtsanwalt, gerade im Bereich der Corporate Governance sich schon früher mit fehlenden (Rechts)kenntnissen hervorgetan (siehe hier). Offenbar ist es mittlerweile so, dass fehlende Kompetenz in ganz besonderem Maße dazu befähigt, Gesetzesvorschläge zu initiieren.
Die Vorgehensweise verdient überhaupt Beachtung: Die Änderungen sollten offenbar durch die Hintertür in die Aktienrechtsnovelle 2012 eingeschmuggelt werden. Nicht die Öffentlichkeit, sondern nur „interessierte Verbände“ wurden durch ein Rundschreiben des BMJ informiert (siehe auch die Kritik von Ulrich Noack). Bis heute findet sich kein offizieller Hinweis auf der Seite des BMJ oder sonstigen offiziellen Seiten auf die Änderungsvorschläge oder die öffentliche Anhörung, die offenbar am 18.2.2013 vor dem Rechtsausschuss stattgefunden hat, und auch nicht auf die vielen Stellungnahmen, die man sich noch immer mühsam im Internet zusammensuchen muss (noch eine kritische Stellungnahme von Lochner/Schöbel, eine inoffizielle Liste hier).
Was die Abschaffung des Instanzenweges angeht, glänzt der vom Vorsitzenden des DAV-Handelsrechtsausschuss ausgearbeitete Gesetzesvorschlag auch noch durch handwerkliche Inkompetenz. Würden seine Vorschläge ohne weiteres Gesetz, dann stünde nämlich in § 2 SpruchG nach wie vor, dass die Landgerichte, dort die Kammern für Handelssachen, zuständig sind, während gem. § 11 Abs. 1 SpruchG ein Senat des OLG über den Antrag entscheiden müsste. Soviel Unsinn hätte selbst ich dem DAV nicht zugetraut.
Am 13. Mai 2013 um 16:02 Uhr
Die Diskussion bleibt oberflächlich. Es müsste diskutiert werden, wem man mit leichter zugänglichen derivative suits die Macht zu was gäbe. Also: „Wem“ und „zu was“? Damit ist man dann schnell beim materiellen Recht. Wenn sich die in den letzten Jahren stärker gewordene Auffassung weiter durchsetzt, dass Gesellschaftswohl nach §§ 76, 93 AktG mit dem prädominanten Aktionärsinteresse gleichzusetzen ist, kann ich auf mehr Organhaftungsverfahren gerne verzichten. Denn sonst klagen ach-so-tolle „Aktivisten“ („Aktionärsschützer“) demnächst massenhaft z.B. gegen die AN-Vertreter in den Aufsichtsräten, die sich bestimmten asozialen „Wegrationalisierungen“ von Arbeitsplätzen in den Weg gestellt haben. Argument: Diese Wegrationalisierung (oder Standortverlagerung in ein Billiglohnland etc.) hätte den Wert des Unternehmens und die Erwerbsaussichten gesteigert, so dass ihre Nichtdurchführung einen Gesellschaftsschaden begründet. Unter dieser Prämisse schafft die prozessuale Seite (derivative suits) hier nur einen Mechanismus, um das Kräftefeld zwischen Kapital und Arbeit neu zu Gunsten des erstgenannten Faktors zu sortieren. Dann doch lieber Deutschland AG mit viel Managerfreiheit, die wiederum individuelle Entscheidungen zu Gunsten lokaler Interessen erlaubt.