Negative Betriebsübung – kein Ende der Debatte
von Ulrich Wackerbarth
Geärgert habe ich mich über einen Beitrag von Roeder in der aktuellen NZA 2009, 883 ff mit dem Titel: „Zweierlei Maß oder das Ende der gegenläufigen betrieblichen Übung.“ Der Autor wendet sich gegen eine aktuelle Entscheidung des BAG, mit der es die Möglichkeit einer negativen Betriebsübung einschränkt.
1. Was ist eine betriebliche Übung?
Am besten erklärt man dieses arbeitsrichterrechtliche Institut anhand eines Beispiels: Der Arbeitgeber gewährt eine jährliche Sonderzahlung, z.B. ein Urlaubsgeld, eine Weihnachtsgratifikation oder irgendeinen Bonus, ohne dass dies zuvor schon im Arbeitsvertrag als Entgelt versprochen wurde. Na schön, denkt sich der Arbeitnehmer, das nehme ich gerne an. Wenn das nun regelmäßig, d.h. dreimal in gleicher Weise passiert, dann entsteht, das besagt die Regel „Betriebsübung“, ein Anspruch des Arbeitnehmers darauf, die Zahlung auch künftig in gleicher Weise zu erhalten. Die Sonderzahlung wird Teil des Arbeitsvertrags, spätere Änderungen wären prinzipiell nur noch durch Änderungskündigung möglich.
Diese Folgen werden die wenigsten Arbeitgeber wollen, sondern lieber die Freiheit, jedes Mal neu zu entscheiden, ob die Sonderzahlung zu gewähren ist. Gut, der Arbeitgeber kann die Entstehung der Übung verhindern, indem er bei der Leistung – etwa in einem Begleitschreiben – darauf hinweist, dass die Zahlung freiwillig ist bzw. keinen Anspruch für die Zukunft begründen soll. Wenn der Arbeitnehmer das nicht liest, ist das sein Pech und ändert nichts an der fehlenden Anspruchsentstehung.
Die Regeln, nach denen eine betriebliche Übung entsteht und wieder beseitigt werden kann, sind nun allerdings durch die Rechtsprechung des BAG in den vergangenen Jahren so oft verändert worden, dass sich mittlerweile niemand mehr darauf einstellen kann, was denn nun gilt und ob überhaupt noch etwas gilt. Warum, frage ich mich, ist das so kompliziert? Alles, was der Arbeitgeber tun muss, ist, zumindest alle 3 Jahre den Arbeitnehmern bei der Zahlung zu sagen: „Das hier ist und bleibt eine freiwillige Leistung, nächstes Jahr kann es anders sein.“ Wenn er das tut, bleibt er frei und kann die Zahlung jederzeit einstellen. Wenn er es aber drei Jahre hintereinander unterlässt, auf die Freiwilligkeit hinzuweisen, dann darf der Arbeitnehmer davon ausgehen, die Zahlung sei nun fest und sein Arbeitsvertrag insoweit abgeändert.
2. Freiwilligkeitsvorbehalt im Arbeitsvertrag.
Nun ja, auch Arbeitgeber sind vergesslich. Deshalb kam der 10. Senat auf zwei glorreiche Gedanken, um dämlichen Arbeitgebern zu helfen. Erstens soll der Arbeitgeber einfach in den Arbeitsvertrag schreiben können, dass eventuelle spätere Sonderzahlungen stets freiwillig sind und für die Zukunft keine Ansprüche aus solchen Zahlungen entstehen können (ständige Rspr. seit BAG v. 5.6.1996 NZA 1996, 1028). Aber dann stellt sich die Frage, ob man ein arbeitsrechtliches Institut wie die Betriebsübung so einfach im vertraglich wegregeln kann. Meiner Meinung nach geht das nicht, aber das hat nur wenig mit dem AGB-Recht zu tun, aus dem aber seit neuestem der 10. Senat BAG gewisse Einschränkungen herleitet (BAG v. 30.7.2008, NZA 2008, 1173). Vielmehr geht es darum, dass in der Praxis der Arbeitsvertrag die Warnfunktion für die allermeisten Arbeitnehmer nicht erfüllt. Niemand achtet auf diese Klausel, aber jeder freut sich über die jährliche Zahlung. Und die Rechtsregel Betriebsübung stellt auf diese Erwartungshaltung, die eine regelmäßige Zusatzleistung des Arbeitgebers bei den Arbeitnehmern begründet, gerade ab. Die Betriebsübung kann nach richtiger Auffassung im Arbeitsvertrag nicht abbedungen werden, weil sie selbst eine Regel über das Enstehen von Ansprüchen ist.
3. Negative Betriebsübung.
Und nun die zweite Regel des 10. Senats, die seit 1997 galt (BAG v. 26. 3. 1997, NZA 1997, 1007) und noch etwas subtiler ist: Wenn es keine solche Regel im Arbeitsvertrag gibt und der Arbeitgeber ferner den Vorbehalt der Freiwilligkeit dreimal vergessen hat, dann soll der durch Betriebsübung entstandene Anspruch des Arbeitnehmers wieder entfallen können, und zwar durch die sog. gegenläufige oder negative Betriebsübung. Dabei wird nun aber nicht – wie das zu erwarten wäre – einfach dreimal nicht gezahlt und dann ist der Anspruch beseitigt. Eine solche negative Betriebsübung wäre unproblematisch, allerdings aus Sicht des Arbeitgebers nicht erfolgversprechend: Denn die Arbeitnehmer werden merken, dass die Leistung nicht ausbezahlt wird und sich auf ihren Anspruch berufen, dann muss der Arbeitgeber doch zahlen und im Ergebnis kommt es nur für äußerst nachlässige Arbeitnehmer zu einer erfolgreichen Abschaffung des Anspruchs. Deshalb hat der 10. Senat sich etwas Perfideres ausgedacht. Der Arbeitgeber zahlt weiter, in seinem jährlichen Anschreiben an die Arbeitnehmer weist er aber nun dreimal hintereinander (möglichst versteckt) darauf hin, dass die Zahlung freiwillig ist und keinen Anspruch für die Zukunft begründet. Das merken die wenigsten Arbeitnehmer und deshalb wird keiner oder nur der besonders gut informierte Arbeitnehmer dem Vorbehalt widersprechen. Nach drei Jahren ist der durch die Betriebsübung früher einmal entstandene Anspruch wieder weg. In späteren Urteilen wurde dann immerhin ein ausdrücklicher Hinweis auf das Ende der Betriebsübung verlangt.
Das ist eine besonders hinterhältige Regelung bzw. eine Möglichkeit zur Hinterlist des Arbeitgebers und deshalb ist sie nun zu Recht – wenn auch mit nicht zu billigender Begründung – vom BAG (v. 18.3.2009, NZA 2009, 601) wieder weitgehend beseitigt worden. Die Begründung der Obliegenheit des Arbeitnehmers zum Widerspruch verstoße gegen § 308 Nr. 5 BGB, weil diese Vorschrift verlange, dass eine eventuelle Fiktionswirkung des Schweigens vorher vertraglich vereinbart worden sein muss, was nicht geschehen sei.
4. Kritik von Roeder
Dagegen wendet sich nun Roeder: In seiner Kritik an der Begründung des BAG ist ihm beizupflichten (S. 884 f.). Mit § 308 Nr. 5 BGB hat das Ganze wenig zu tun, die Begründung mit dieser Norm ist sogar gefährlich, weil sie künftig gerade Vereinbarungen im Arbeitsvertrag zulässt, mit denen bereits durch einmaligen Vorbehalt (also nicht drei Jahre hintereinander) der Anspruch wieder beseitigt werden könnte. Die Unzulässigkeit der gegenläufigen Betriebsübung folgt ganz einfach aus dem – richtig verstandenen – richterrechtlichen Institut der Betriebsübung selbst: Denn dieses Rechtsinstitut stellt auf die Erwartungshaltung ab, die eine regelmäßige, zusätzliche und nicht individualarbeitsvertraglich vereinbarte Zahlung aus der Perspektive der Arbeitnehmer begründet. Und dazu passt es nicht, wenn das Papier (Anschreiben) überbewertet wird, mit dem den Arbeitnehmern die Zahlung, auf die sie ja einen Anspruch haben, nunmehr erstmals unter Vorbehalt angekündigt wird. Dass der Arbeitnehmer einer vom Arbeitgeber einseitig gewollten Anspruchsbeseitigung ausdrücklich widersprechen soll, wenn er mit ihr nicht einverstanden ist, lässt sich nicht begründen.
Roeder aber verweist nun auf die Rechtsprechung des BAG und des BGH, wonach
„Schweigen auf ein vertragsänderndes Angebot müsse dann als Annahme gelten, wenn der Erklärende nach Treu und Glauben annehmen durfte, dass der andere Vertragsteil der angebotenen Vertragsänderung widersprechen würde, wenn er ihr nicht zustimmen wolle“.
So abstrakt ist Roeder natürlich zuzustimmen. Das Problem ist nur, dass hier der Arbeitgeber eben nicht nach Treu und Glauben etwas annehmen darf, sondern sich vielmehr arglistig verhält, wenn er weiterzahlt (das nehmen die Arbeitnehmer wahr) und gleichzeitig die Finger hinter dem Rücken kreuzt, indem er den Vorbehalt erklärt (den nehmen die Arbeitnehmer eben nicht wahr). Roeder meint dagegen:
„Arbeitgeber und Arbeitnehmer … stehen in ständiger … arbeitsvertraglicher Beziehung. … Gerade auch aus der Treuepflicht des Arbeitnehmers folgt eine Pflicht des Arbeitnehmers, ausdrücklich und unverzüglich zu widersprechen. Denn für den Arbeitnehmer ist auch ohne Weiteres erkennbar, dass der Arbeitgeber ein besonderes Interesse an einer baldigen Antwort hat … Dem Arbeitnehmer muss klar sein, dass der Arbeitgeber z.B. seine Personalkosten verlässlich planen können und wissen muss, ob und inwieweit er, um sich von der bisherigen betrieblichen Übung zu lösen, von dem Mittel der Änderungskündigung Gebrauch machen muss. Gerade angesichts der ebenfalls überhaupt erst durch Schweigen zu Stande gekommenen, ursprünglichen betrieblichen Übung muss der Arbeitnehmer auch damit rechnen, dass sein Schweigen im Rahmen der gegenläufigen betrieblichen Übung ebenfalls als Annahme verstanden wird.“
5. Warum diese Kritik falsch ist
a) Treue bedeutet nicht „Verantwortung für den anderen Vertragspartner“
Ich halte das auch für eine grobe Verkennung der Reichweite und Qualität von Rücksichtnahmepflichten in einem Austauschverhältnis. Arbeitnehmer brauchen sich gerade keine Gedanken über die Personalkosten des Arbeitgebers zu machen, schon gar nicht im Hinblick auf sie selbst. Roeders Argumentation nimmt den einen Vertragspartner ohne weiteres in die Pflicht, sich Gedanken gerade über die gegenläufigen Interessen des anderen zu machen. Diese Begründung lässt sich verallgemeinern: Sie schließt es künftig generell aus, Gewinne durch Austauschgeschäfte zu machen, denn jeder Vertragspartner muss darauf Rücksicht nehmen, dass der andere Teil ja „auch leben will“. Auf den eigenen Vorteil darf man nicht bedacht sein. Stets hat man noch die Anspruchsentstehung im Kopf zu haben: Der bei einem Autounfall Verletzte darf dann kein Schmerzensgeld mehr verlangen, wenn der Unfallverursacher nur fahrlässig handelte und ihm die ganze Sache leid tut oder er gar – womit wir wieder beim Thema wären – ein um seine Personalkosten besonders besorgter Arbeitgeber ist.
b) Schweigen auf nachteilige Änderungsangebote ist keine Zustimmung
Der Grundsatz im Vertragsrecht lautet: Schweigen bedeutet keine Zustimmung, es sei denn es besteht eine Pflicht zum Widerspruch. Schweigen zu einseitigen Vertragsänderungsangeboten, die für den Empfänger nachteilig sind, begründet danach gerade keine Pflicht zum Widerspruch, auch nicht in Dauerschuldverhältnissen mit gegenseitigen besonderen Treuepflichten wie im Arbeitsverhältnis, es sei denn, aus den Umständen des Einzelfalls ergibt sich eine berechtigte Erwartungshaltung des antragenden Vertragspartners. Der Arbeitgeber hat hier aber keine solche, weil die Arbeitnehmer sein Änderungsangebot in keiner Weise herausgefordert haben.
c) Widerspruchslose Weiterarbeit ist nur dann konkludente Erklärung, wenn sich die tatsächlichen Arbeitsbedingungen spürbar geändert haben
Eine andere Frage ist, ob man dem „Weiterarbeiten“ des Arbeitnehmers nach Zustellung des Änderungsschreibens eine konkludente Erklärung des Inhalts entnehmen kann, er sei mit allem einverstanden, was in dem Vorbehalt steht. Die Antwort ist klar: Natürlich nicht, weil man – anders als bei dem Schreiben, in dem die Entstehung der Betriebsübung verhindert werden soll – schon nicht unterstellen darf, dass der Arbeitnehmer das Papier überhaupt nur zur Kenntnis genommen hat. Daran ändert die Treuepflicht des Arbeitnehmers nichts. Natürlich kann widerspruchslose Weiterarbeiten zu geänderten Arbeitsbedingungen eine konkludente Erklärung sein. Das setzt aber voraus, dass sich für den Arbeitnehmer tatsächlich spürbar etwas geändert hat, anderenfalls besitzt seine Weiterarbeit keinerlei Erklärungswert. Und hier sind wir wieder bei der Hinterhältigkeit des Arbeitgebers: Er zahlt die Sonderleistung doch gerade weiter, für den Arbeitnehmer ändert sich tatsächlich ja erst dann etwas, wenn es schon zu spät ist, nämlich nach drei Jahren mit Vorbehalts-Zahlung. So geht es nicht.
d) Ergebnis
Mit anderen Worten: Für die Verhinderung der Betriebsübung kommt es nur auf den Zugang des Vorbehalts-Schreibens an, ggf. sogar nur auf einen Vorbehalt des Arbeitgebers „am schwarzen Brett“. Für die Beseitigung einer Betriebsübung hingegen benötigt der Arbeitgeber die Erklärung des Einverständnisses des Arbeitnehmers, die bei Weiterzahlung gerade nicht konkludent erklärt wird. Das ist doch nicht so schwer, oder?