Corporate BLawG

Welches Leid droht hier?

31. August 2014

von Ulrich Wackerbarth

Mit seinem Editorial in der aktuellen EuZW 2014, 641 „Europarechtlicher Schutz vor nachteiligen Transaktionen mit nahe stehenden Unternehmen und Personen?“ wettert U. H. Schneider gegen Pläne der Kommission zur Änderung der Aktionärsrichtlinie. Diese könnten Folgen für die deutsche Corporate Governance und vor allem für das Konzernrecht haben. Schneider meint, durch die Vorschläge drohe „rechtspolitisches Leid“.

Börsennotierte Unternehmen müssen nach Art. 9c des Vorschlags künftig Geschäfte mit nahestehenden Unternehmen und Personen (z.B. mit dem Großaktionär) schon zum Zeitpunkt ihres Abschlusses öffentlich bekannt machen, wenn sie mehr als 1?% ihres Vermögens betreffen (sog. related party transactions). Ferner ist eine Kontrolle durch einen unabhängigen Dritten erforderlich („fairness opinion“). Erfasst werden praktisch alle konzerninternen Geschäfte (über 1%).

Das bedeute, so Schneider, nachteilige Transaktionen seien künftig unzulässig, ihre gleichwohl erfolgende Verwirklichung eine Pflichtverletzung durch den Vorstand des abhängigen Unternehmens und (so Schneider wörtlich) „das Schlimmste“: sie seien gar eine Untreue. Die Privilegierung nach deutschem Konzernrecht entfalle.

„Ja und?“, möchte man rufen – endlich tut mal einer was gegen Raub und Betrug in Konzernen, etwas gegen steuervermeidende Gewinnverschiebung nach Belieben innerhalb von Konzernen und unfaire Benachteiligung von Minderheitsgesellschaftern, vor allem von Kleinaktionären. Denn der deutsche Gesetzgeber und der II. Senat des BGH sind dazu traditionell nicht in der Lage.

Nach Schneider aber kommt es noch „schlimmer“ (ohne das man zuvor erfahren hätte, was denn nun an mehr Transparenz schlimm wäre): Sollten die nämlichen Geschäfte gar 5% des Vermögens betreffen, dann müsse sogar die Hauptversammlung der Gesellschaft zustimmen, und zwar ohne dass der herrschende Aktionär dabei mitstimmen dürfe.

Eine solche Regel würde im deutschen Recht ? endlich ? für den Einzug von ein wenig Fairness sorgen, denn sie hält etwas fest, das selbstverständlich sein sollte, es in unserem verkorksten Corporate Governance-System aber leider nicht ist. Das ist ganz einfach einzusehen: Man stelle sich eine Gesellschaft aus zwei Leuten vor, an der einer mit 60% und entsprechenden Stimmrechten beteiligt ist, der andere nur mit 40%. Beide haben vorher ausgemacht, dass man auch die Gewinne 60/40 teilt. Wenn nun der 60%-Gesellschafter versucht, sich mehr als die ihm zustehenden 60% aus der Gewinnkasse zu nehmen, muss der 40%-Gesellschafter „Nein“ dazu sagen können (Wem dieses Regel nicht einleuchtet, der kommentiere bitte den Beitrag, ich stehe für Auseinandersetzungen zur Verfügung). Nicht anders verhält es sich, wenn der Mehrheitsaktionär ein Austauschgeschäft mit der Gesellschaft abschließen will. Die Minderheitsgesellschafter müssen „Nein“ sagen können, weil sonst die Gefahr besteht, dass sie übervorteilt werden. Das ist eine Selbstverständlichkeit, weil das Gesellschaftsrecht eben gerade Zusammenarbeit zwischen den Gesellschaftern anordnet und nicht die Selbstbedienung des Mehrheitsgesellschafters: Auch er hat nicht das Recht auf mehr als seinen Anteil.

U.H. Schneider aber leuchtet das offenbar nicht ein. Er meint (und damit endet sein Beitrag):

„Zu rechtspolitischem Leid führt der zweite Vorschlag. Die Verschiebung der Zuständigkeiten des Vorstands für Maßnahmen der Geschäftsführung hin zur Hauptversammlung und die vorgesehene alleinige Zuständigkeit der Minderheitsaktionäre bei Transaktionen mit nahe stehenden Unternehmen und Personen ist wahrlich keine gute Idee – mögen auch die genannten Schwellenwerte das Schlimmste verhüten. Der Vorschlag widerspricht allen Erfahrungen von guter Corporate Governance.“

Welches rechtspolitische Leid Schneider jetzt genau meint, wird wohl auf ewig sein Geheimnis bleiben. Man kann aber auf die Idee kommen, dass „gute“ Corporate Governance nach Schneiders Vorstellungen darin besteht, dass die Konzernmutter zusammen mit dem Tochtervorstand die Minderheit betrügen darf, wie sie will. Der Tochtervorstand begeht dadurch keine Untreue, weil das deutsche Konzernrecht ja die Verschiebung von Vermögen privilegiert. Und da all das auch geheim bleiben kann, weil es ja nach geltendem Recht nicht offenzulegen ist, wird wohl auch niemand herausfinden, dass der „hohlklingendste aller Allgemeinplätze“ nicht (wie Schneider meint) in dem Kommissionsvorschlag zu finden ist, sondern in § 311 AktG, wonach nachteilige Maßnahmen bis zum Ende des Geschäftsjahres auszugleichen sind.

Die fehlende Unabhängigkeit des Aufsichtsrats-„Experten“

29. Juli 2014

von Ulrich Wackerbarth

In seinem Aufsatz „Unabhängigkeit im Aufsichtsrat“ in der aktuellen NZG 2014, 801 ff., beschäftigt sich Hoffman-Becking mit Unabhängkeitspostulaten an den Aufsichtsrat. Es handelt sich um die schriftliche Fassung einer „Christian Wilde-Gedächtnisvorlesung“ an der Bucerius Law School. Ich greife mir hier das Thema Unabhängigkeit vom kontrollierenden Aktionär (aaO. 804 ff.) heraus, das auch Hoffmann-Beckings Hauptthema zu sein scheint, da es jedenfalls den emotionalen Höhepunkt seines Aufsatzes bildet. Hoffman-Becking stellt hier eine Menge rhetorischer Fragen die freilich in der Literatur längst beantwortet wurden…

Die entscheidende Frage nach der Lektüre ist: Für wie blöd hält Hoffman-Becking die überwiegende Mehrzahl der Gesellschaftsrechtler in Deutschland? Glaubt er allen Ernstes, sie durchschauten seine Versuche nicht, die aufgebauten Machtstrukturen in deutschen Aktiengesellschaften vor Angriffen durch Wettbewerb und Fairness zu retten? Glaubt er, mit seiner Berufung auf „klangvolle Namen“ (aaO., 805, von denen er anschließend, S. 806 noch einige desavouiert, weil sie offenbar zu besseren Einsichten gekommen sind) könnte er die Denklöcher in seiner Argumentation unbemerkt zuschütten?

Der Gedankengang von Hoffman-Becking lautet (aaO. 806): Der kontrollierende Aktionär ist am Wohlergehen seiner Aktiengesellschaft interessiert. Und dieses Interesse sei umso stärker, je höher er sein Vermögen in Aktien der Aktiengesellschaft angelegt hat. Man könne sogar sagen: „Die Deckungsgleichheit der Interessen wächst mit der Beteiligungsquote“. Allenfalls wenn der Mehrheitsaktionär auch anderweitige wirtschaftliche Interessen verfolge, können das Unternehmensinteresse der Tochter und das Interesse des Mehrheitsaktionärs in Konflikt geraten, und dafür gebe es nun einmal schon das Konzernrecht. Folgte man Hoffmann-Becking, so könnte man meinen, dass es sich bei Großaktionären um Wohltäter der Menschheit handelt, die möglichst unbehelligt von jeder Kontrolle tun und lassen können sollten, wonach ihnen gerade ist.

Bei seinen Behauptungen unterschlägt Hoffmann-Becking die für jeden leicht nachvollziehbare Tatsache, dass der kontrollierende Aktionär – auch wenn er kein herrschendes Unternehmen im Sinne des Konzernrechts ist – stets ein Interesse daran hat, mehr als den ihm gebührenden Anteil aus der Gesellschaft herauszuholen und damit seine Mitgesellschafter zu schädigen. Die Deckungsgleichheit der Interessen ist also eine glatte Lüge. Und die Ausbeutung der Mitgesellschafter erfolgt am geschicktesten über Rechtsgeschäfte mit der Gesellschaft (Related Party Transactions), z.B. durch überteuerte Beraterverträge, die die AG mit dem Mehrheitsaktionär abschließt, und durch Geschäfte mit „guten Freunden“, über die Gewinne des Unternehmens an den Großaktionär fließen, ohne dass er sie mit seinen Mitgesellschaftern teilt.

Diejenigen, die diese Raubzüge verhindern könnten, sind nun einmal nicht die Aufsichtsratsmitglieder, die der kontrollierende Aktionär bestellt hat und die von ihm abhängig sind, sondern allein die Minderheitsgesellschafter. Und genau ihnen will Hoffmann-Becking jeden Zugang zum Aufsichtsrat verbieten – ohne dass er dafür auch nur irgendein Argument anführt.

Hoffman-Becking fragt weiter (aaO, 806):

„Wie soll sich der Mehrheitsaktionär dann noch im Aufsichtsrat der mitbestimmten Tochter durchsetzen können, wenn er nicht einmal in der Lage sein soll, die Hälfte der Aufsichtsratssitze mit seinen Vertretern zu besetzen?“

Damit unterstellt er, aus dem Unabhängigkeit-Postulat folge notwendig, dass der Kontrollaktionär seine Mehrheit im Aufsichtsrat verliere. Dem ist indessen nicht so! Die Empfehlungen der EU-Kommission und der Regierungskomission Corporate Gobvernance verlangen keine Mehrheit unabhängiger Mitglieder, sondern nur eine ausreichende Anzahl! Und selbst in paritätisch mitbestimmten abhängigen Gesellschaften ist ein Minderheitsvertreter im Aufsichtsrat denkbar, dem nur ein Veto-Recht bei den erwähnten Transaktionen mit dem Kontrollaktionär und seinesgleichen zukommt. Für alle anderen Geschäfte bestimmt der Kontrollaktionär über die von ihm abhängigen Aufsichtsratsmitglieder weiter die Unternehmenspolitik der Gesellschaft.

Auf seine rhetorischen Fragen gibt es also Antworten, die bereits publiziert sind und deren Vorhandensein uns der Autor aber verschweigt. Gegenargumente zu verschweigen ist nun gerade eine Methode, die Hoffman-Becking unmöglich in seinem Jura-Studium gelernt haben kann, selbst wenn er Vorlesungen nur bei weniger großen Namen gehört haben sollte als denen, die er als Unterstützer seiner Position anführt. Aus meiner Sicht hat sein Vorgehen Methode: Man regt sich über Forderungen und Entwicklungen auf, deren Sinn und Zweck man zunächst bewusst falsch versteht oder übertreibt, um dann die Fehler, die nichts anderes als das eigene Fehlverständnis sind, besonders laut anzuprangern. Man ist zwar von Unternehmensjuristen aus Großkanzleien nichts anderes gewohnt. Schlimm ist es aber, wenn so etwas den angehenden „Elite-Juristen“ der Bucerius Law School noch als Vorbild dienen soll.

Am Ende lernen wir aus der Christian Wilde-Gedächtnisvorlesung von Hoffmann-Becking nur eines: Wer in einer Rechtsfrage selbst nicht unabhängig ist, weil er stets nur eine bestimmte Position (die der Kontrollaktionäre) vertritt, der versucht alles, um bestehende Machtstrukturen zu erhalten, auch wenn die eigene Position in der Sache nicht haltbar und bereits widerlegt ist. Lernen kann man auch etwas über Mittel zum Machterhalt: Man behaupte unter Berufung auf große Namen die Überlegenheit des status quo und ignoriere und verschweige die Argumente der Gegner. Auf die Spitze treibt man es (und dann ist es besonders perfide), indem man die Gegenposition übertreibt, um sie dann umso vernichtender wegschlagen zu können. All dies waren schon immer die probaten Mittel des Machterhalts, seit jeher übrigens auch sichere Indizien für die Arroganz der Macht. Unabhängig denkende Juristen sollten das durchschauen, der künftigen Elite seien solche Vorlesungen allenfalls als Möglichkeit zur Schulung eigenständigen Denkens empfohlen.

Sesamstraße verkehrt: … und wer fragt, ist dumm?

30. Mai 2014

von Ulrich Wackerbarth

 

Ein Urteil, das die Frage der Rechtsmißbräuchlichkeit sowohl des Verhaltens des einen wie auch das des anderen Beteiligten falsch einschätzt, ist selbst doppelt rechtsmißbräuchlich. So verhält es sich mit einer aktuellen Entscheidung des XI. Senats zu einem angeblich widersprüchlichen Verhalten eines Anlegers.

1. Der Fall

Dieser fragte seinen Bankberater nach der Höhe der Rückvergütung, die die Bank erhalte, wenn sie ihm eine bestimmte Anlage verkaufe, nämlich die Beteiligung an einem Filmfonds. Eine Auskunft darüber verweigerte der Berater jedoch.

Merke: Nach der inzwischen ständigen Rechtsprechung ebendieses Senats (zuletzt hier) muss die Bank an und für sich ungefragt (!) über die Tatsache und Höhe einer erhaltenen Rückvergütung Auskunft erteilen, egal wie hoch sie ist, es gibt keine Mindestschwelle. Grund dafür ist, dass der Anleger sonst im Unklaren über einen Interessenkonflikt der Bank ist, die ihm die Anlage möglicherweise nicht aus Qualitätsgründen, sondern eben wegen der Rückvergütung empfiehlt. Man lese dazu auch § 31 Abs. 1 Nr. 2 WpHG, der auf Filmfonds zwar nicht anwendbar ist, aber diese Rechtsprechung geprägt hat.

Der fragende Anleger kaufte trotzdem und später stellte sich heraus, dass die Bank die nicht unerhebliche Summe von über 35.000 € für die Anlageempfehlung kassiert hatte. Seine Klage auf Rückabwicklung aus c.i.c. hielt der XI. Senat für rechtsmißbräuchlich. Der Anleger verhalte sich widersprüchlich, wenn er Schadensersatz verlange, obwohl er gekauft habe, nachdem der Anlageberater sich ausdrücklich geweigert habe, ihm die Höhe der Rückvergütung mitzuteilen.

2. Widersprüchliches Verhalten des Anlegers?

Auf den ersten Blick leuchtet das ein. Wenn der Berater sagt: „Zur Größe meines Interessenkonflikts sage ich nichts“, dann sollten die Alarmglocken beim Anleger angehen. Wer dennoch kauft, scheint nicht schützenswert. Doch wie laut läutet denn ein Alarm, wenn der Berater sagt: Wir verdienen übrigens an Ihrer Anlage 35.000 Euro, einfach so, nur weil wir Sie das hier über uns kaufen? Und wie laut läuten die Glocken, wenn er nur sagt: „Dazu sage ich nichts?“ Leiser, nicht wahr? Der Anleger handelt deshalb keineswegs widersprüchlich, wenn er sich später auf die fehlende Auskunft beruft. Er konnte zwar vermuten, dass ihm hier eine größere Summe verschwiegen wird. Aber über das Ausmaß des Interessenkonflikts war er nach wie vor nicht informiert, weshalb die Anfechtung nicht wundert, wenn er später davon Kenntnis erlangt.

Letztlich wird hier einem Anleger der vom Recht gegebene Schutz allein deshalb versagt, weil er ausdrücklich um die Auskunft gebeten hat, die der Anlageberater von Rechts wegen schon ungefragt hätte erteilen müssen. Wenn hier irgendjemand widersprüchlich argumentierte, so war es daher bestimmt nicht der Kläger (sondern der XI. Senat).

3. Vertrauensgrundsatz im Rechtsverkehr

Alle, mit denen ich über das Urteil gesprochen habe und die die Entscheidung verteidigen, werfen dem Anleger am Ende nicht die Klageerhebung trotz des Kaufs vor, sondern den Kauf selbst trotz der Informationsverweigerung des Verkäufers. Indessen: Genau dieser Vorwurf ist unberechtigt und untergräbt den Vertrauensgrundsatz im Privatrechtsverkehr. Der besagt, dass man grundsätzlich auf die Redlichkeit des Gegenübers vertrauen darf und (und das ist das Entscheidende) gar nicht erst nachfragen muss. Man darf deshalb niemandem vorwerfen, einen Vertrag trotz erfolgloser Nachfrage geschlossen zu haben. Anders gesagt: Der Vertrauensgrundsatz schließt es auf der einen Seite aus, einem Vertragschließenden vorzuwerfen, er habe auf die Redlichkeit seines Geschäftspartners vertraut, ohne sie durch Nachfragen in Zweifel zu ziehen. In gleicher Weise muss er dann spiegelbildlich den Vorwurf ausschließen, man habe einen Vertrag geschlossen, obwohl der andere Informationen verweigert habe, zu denen er verpflichtet war.

4. Pflichtenänderung

Insofern steckt in dem Urteil in Wahrheit nicht nur eine Verkennung des § 242 BGB, sondern darüber hinaus auch noch eine versteckte Rechtsänderung: Künftig ist die Bank eben nicht mehr zur ungefragten Offenbarung der Höhe solcher Rückvergütungen verpflichtet, sondern nur noch zur Ablehnung jeglicher Auskunftswünsche von beratungswilligen Anlageinteressenten.

Wenn man das einmal fortdenkt, so wird sich bald in jeder Bank ein gut sichtbares Schild finden: „Aus Haftungsgründen geben wir keine individuellen Auskünfte über Rückvergütungen!“

Das hätte im Übrigen noch weitere Folgen, wenn der XI. Senat auch für das Kaufrecht zuständig wäre: In keinen AGB über einen Gebrauchtwagen darf künftig der Satz fehlen: „Wir geben keine individuellen Auskünfte mehr über schwere Unfälle. Machen Sie sich selbst ein Bild!“

Entscheidend spricht an dieser Stelle gegen das Urteil: Man kann sicher sein, dass gewiefte Verkäufer es schaffen, die Auskunftsverweigerung so zu überspielen, dass der Käufer dennoch Vertrauen aufbaut und die Anlage kauft. Wer einmal aus erster Hand die Diskrepanz zwischen dem erlebt hat, was im Beratungsprotokoll steht, und dem Blauen, das Anlageberater mündlich vom Himmel versprochen haben, der weiß, wovon ich spreche (mancher Gebrauchtwagenhändler kann das übrigens auch).

5. Informationsökonomie – volkswirtschaftliche Erkenntnisse

Im Übrigen verstößt die neue Regel gegen grundlegende volkswirtschaftliche Erkenntnisse, die sogar dem deutschen Gesetzgeber nicht verborgen geblieben sind, wie folgende Gesetzesbegründung zeigt: (BT Drucks. 16/1408, S. 7 zum Verbraucherinformationsrecht)

„Unzureichender Informationszugang ist auch aus volkswirtschaftlichen Gründen nachteilig. Verbraucherentscheidungen sind in der Marktwirtschaft ein entscheidender Faktor für die Steuerung des Gesamtsystems. Beruhen die Kaufentscheidungen vieler Verbraucherinnen und Verbraucher regelmäßig auf falschen oder unvollständigen Informationen, so verliert das Marktsystem seine Lenkungskräfte und damit seine besondere Effizienz bei der Allokation der Ressourcen. Im extremen Fall können Informationsdefizite zum weitgehenden Zusammenbruch von Märkten führen und erhebliche volkswirtschaftliche Schäden zur Folge haben. Maßnahmen zur Verbesserung der Verbraucherinformation dienen daher auch dem besseren Funktionieren der Märkte.“

Hinzuzufügen ist, das Informationen als öffentliches Gut leider die Tendenz innewohnt, ohne gesetzliche Anreize nicht „vom Markt“ selbst prodziert zu werden. Gegen diese Erkenntnisse verstößt die Entscheidung, da sie die frühere Aufklärungspflicht (mittels derer ja die Information über die Höhe der Rückvergütung positiv „in die Welt“ kommt) durch eine Pflicht zur ausdrücklichen Informationsverweigerung ersetzt. So werden allenfalls noch Vermutungen über die Rückvergütung veranlasst, konkrete Zahlen kommen nicht mehr „in die Welt“. Diese Entwicklung geht eindeutig in die falsche Richtung. Aber, wie schon in meinem letzten Beitrag (unter 3.) festgestellt: Volkswirtschaftliche Erkenntnisse brauchen Richter nicht zu erschüttern, sie bilden sich lieber juristisch als wirtschaftswissenschaftlich fort. Und gegen die dort unter 4. a) b) c) gegebenen Empfehlungen verstößt die Entscheidung – natürlich – auch.

6. Berufung der Bank auf eigenes rechtwidriges Verhalten

Nach dem Grundsatz nemo turpitudinem suam allegans auditur wird niemand vor Gericht gehört, der sich auf sein eigenes rechtswidriges Handeln beruft. Anders aber der XI. Senat. Er erlaubt der Bank hier, sich darauf zu berufen, dass sie ihre vorvertragliche Aufklärungspflicht vorsätzlich verletzt hat. Damit verkennt das Gericht nicht nur die fehlende Widersprüchlichkeit des Verhaltens des Anlegers, sondern darüber hinaus die Rechtsmißbräuchlichkeit des Verhaltens der Bank. Ein doppelt rechtsmißbräuchliches Urteil also.

7. Wo war Wiechers?

Inhalt und Richtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung hängen heute viel stärker als noch vor einigen Jahren von den im Senat tätigen Personen ab denn vom geschriebenen Recht. Man schaut lieber, was die Vorsitzenden der Senate veröffentlicht haben, welche Tendenz ihre noch als Oberlandesrichter gefällten Urteile hatten, kurz: wes Geistes Kind sie sind, wenn man voraussehen will, wohin die Reise geht. Bei der Rechtsprechung des XI. Senats hat man in den vergangenen fünf Jahren insofern gute Erfahrungen mit dem Vorsitzenden Ulrich Wiechers machen dürfen.

Nachdem ich das Urteil gelesen habe, war ich deshalb sehr verwundert – und richtig, unterschrieben hat Wiechers diese Fehlentscheidung nicht. Wiechers ist 1949 geboren, sehr lange werden wir also leider nicht mehr auf ihn als Vorsitzenden des XI. Senats bauen können. Wenn die hier kritisierte Entscheidung ein Zeichen für die künftige Rechtsprechung des XI. Senats sein sollte, erwarten die Anleger vor dem Bankensenat schwere Zeiten.

Arme Richter in der ach so komplizierten Wirtschaftswelt

30. April 2014

von Ulrich Wackerbarth

Strohn, seines Zeichens Bundesrichter am II. Zivilsenat des BGH, schwadroniert in der aktuellen ZHR 2014, 115 ff. unter dem Titel „Der Richter als Allround-Genie?“ über die „Rechtsfortbildung durch Anwendung nicht juristischer Fachbegriffe“. Das ist nun ein spannendes Thema, sind doch gerade Wirtschafts- und Rechtswissenschaften vielfach verwoben und gibt es nicht erst seit der ökonomischen Analyse des Rechts auch die Notwendigkeit einer normativen Analyse betriebswirtschaftlicher Realitäten. Wer sich über außerjuristische Fachbegriffe auslässt, sollte freilich seinerseits begriffliche Schärfe walten lassen.

1. Außerjuristische Fachbegriffe?

Was Strohn unter „nicht juristischen Fachbegriffen“ versteht, entpuppt sich hingegen als bestenfalls weit hergeholt. Schon die ersten Beispiele (aaO 116) lassen für die weitere Lektüre nichts Gutes ahnen: Wieso ist „Regeln der Technik“ ein außerjuristischer Fachbegriff? Was ist daran Fachbegriff und aus welchem Fachgebiet stammt er?

Strohn meint weiter, die Regeln der Business Judgment Rule seien voller außerjuristischer Fachbegriffe (und zwar aus dem „Wirtschaftsleben“, ein mir ganz unbekanntes Fachgebiet), Fachbegriffe etwa wie „vernünftigerweise annehmen dürfen“ und „angemessene Information“. Ist Strohn sich hier sicher, dass er nicht den juristischen terminus technicus „unbestimmter Rechtsbegriff“ mit „außerjuristischem Fachbegriff“ verwechselt?

Auch das nächste Beispiel überzeugt nicht: Der „more economic approach“ ist kein außerjuristischer Fachbegriff, unter den ein Jurist Sachverhalte subsumieren müsste. Das räumt Strohn auch sofort ein, wenn er davon spricht, dass damit eher eine wirtschaftspolitische (genauer: wettbewerbspolitische) Zielsetzung gemeint ist (aaO 117). Der neue „approach“ habe aber Eingang in den neuen § 36 GWB gefunden, indem dort nunmehr auch von einer erheblichen Wettbewerbsbehinderung gesprochen werde. Nun mag insbesondere der Begriff „Wettbewerb“ tatsächlich ein Fachbegriff sein, den sich jedenfalls Juristen und Volkswirtschaftler (nicht: Betriebswirtschaftler, aaO 117) teilen. Aber der Begriff ist nun schon seit jeher Teil des Kartellrechts, was hat er mit dem „more economic approach“ zu tun?

Wenig ein leuchtet mir auch die Behauptung, der Gesetzgeber setze mit den zitierten Rechtsbegriffen noch kein „unmittelbar anwendbares Recht“ (aaO 118). Das habe ich im Studium anders gelernt: Auch unbestimmte Rechtsbegriffe sind unmittelbar anwendbar, der Richter muss sie auslegen. Zustimmen will ich Strohn aber darin, dass sie dem Richter viel Spielraum bei der Auslegung lassen, wobei ich selbst mich mittlerweile frage, welche Rechtsbegriffe eigentlich nicht „unbestimmt“ sind. Letztlich gibt es bei der Subsumtion unter jedes Tatbestandsmerkmal stets Randunschärfen und damit Gestaltungsmöglichkeiten für den Richter.

2. Die  richterliche Lösung eines unklares Problems

Bisher helfen dem Richter bei der Auslegung außerjuristischer Fachbegriffe zum einen Sachverständige, die freilich, das merkt auch Strohn (aaO 119 f.), zur Auslegung der von ihm als Fachbegriffe missverstandenen unbestimmten Rechtsbegriffe nichts beizutragen haben. Wie genau amici curiae (aaO 120 f.) auf die Auslegung solcher Begriffe Einfluss nehmen, wird nicht klar, aber Strohn findet deren Beiträge zur „entscheidenden Materie“ offenbar ganz gut. Dann endlich wird es juristisch: Strohn erklärt (aaO 121 ff.), was Richter in der Praxis tun. Allerdings hat man das als Jurastudent schon im ersten Semester gelernt: Der unbestimmte Rechtsbegriff wird „aufgeschlüsselt“, d.h. definiert und konkretisiert, im Ergebnis durch mehrere andere Begriffe beschrieben, unter die dann eine Subsumtion einfacher ist. Dass dem Richter auch hier Gestaltungsspielraum bleibt, ist klar.

Weniger klar und wenig schön ist es allerdings, wenn Strohn nun (aaO 123) darauf verweist, dass am Ende dem Richter nichts anderes bleibe, als aus dem „Inbegriff seiner Erfahrung“ und „psychologischen Vorfestlegungen“ zu entscheiden und dabei Arbeiterkinder als Richter andere Akzente setzen als solche, deren Vater Geschäftsführer war. Ich habe immer gedacht, dass derartige psychologische Erkenntnisse Kritik und Anreiz zur Verbesserung sind. Strohn hingegen sieht sie als Faktum an; mir wäre das zu wenig.

3. Ver(schlimm)besserungsvorschläge

Nicht ganz zufrieden mit derartiger „Irrationalität“ sucht auch Strohn nach Wegen, das ökonomische Fingerspitzengefühl der Richter zu stärken. Ich selbst wäre sofort versucht, die aktuellen Richter auf eigene Bemühungen um besseres ökonomisches Fachwissen, gar ein Selbst-Studium zu verweisen.

Die Vorschläge von Strohn vermeiden solche Eigenanstrengungen aber vorbildlich. Man kann sich ja den ökonomischen Sachverstand durch ehrenamtliche Richter (aaO 124) oder amici curiae (aaO 126) in das Gericht holen [und so seine Verantwortung an andere abgeben, Anm. d. Verf.]. Kostengünstig und „ohne zusätzliche Arbeit“ [für die Richter, Anm. d. Verf.] ist auch die Möglichkeit der Spezialisierung, d.h. die in Handelssachen einmal eingearbeiteten Richter nicht mehr rotieren zu lassen (aaO 127). Richtig, mir nach den vorangegangenen Ausführungen freilich unverständlich, findet es Strohn (aaO 128) dagegen, wenn es bei richterlicher Fortbildung überwiegend um juristische Themen geht. Denn erst wenn der Richter sein eigenes Fachgebiet beherrscht, kann er sich außerjuristischen Themen zuwenden [in der Praxis also nie, Anm. d. Verf.].

Effizient wäre es vielleicht, nur noch Juristen mit einem Doppelstudium (Volkswirtschaft, nicht Betriebswirtschaft) und Praxiserfahrung in der Wirtschaft zu Richtern des Gesellschaftsrechtssenats des BGH zu machen. Eine in diese Richtung gehende Praxis in England (aaO 128) hält Strohn freilich nicht für den „Königsweg“. Seine Argumentation ist dabei für die Praxis richterlicher Entscheidungsfindung im II. Senat beispielhaft, indem sie nämlich an der Sache einfach meilenweit vorbeigeht: Ein „Studium der Altertumswissenschaft“ [über das nach Strohn Lord Wilberforce in England verfügte, Anm. d. Verf.] führe nicht notwendig zu einem Gespür für ökonomische und soziale Problemlagen. Und die Tätigkeit als Barrister ermögliche auch kaum echte Praxiseinblicke. Kein Wort zum Vorsprung in der Lebenserfahrung oder dazu, dass man ja eben auch ein Studium der Volkswirtschaftslehre oder eine bestimmte Praxistätigkeit für eine Tätigkeit als Richter im Gesellschaftssenat verlangen könnte.

Neben einer Ermöglichung der Rotation in die Privatwirtschaft (aaO 129 f.) erhofft sich Strohn als „Ausblick“ noch eine Verbesserung in der juristischen Ausbildung: Etwas mehr studium generale tue not und Einblick in die Praxis durch Praktika. Fragt sich nur, welche Praxis – und ob mich ein Praktikum während des Studiums dazu befähigt, später als Richter das Rechtsschutzsystem des WpÜG zu beurteilen, frage ich mich auch.

4. Leitlinien für die Rechtsfortbildung

Gegenüber dem wenig zielführenden Sammelsurium von Strohn schlage ich hier einige einfache Regeln für rechtsfortbildende Entscheidungen vor, deren Beachtung auch den Berufsrichtern ohne Doppelstudium möglich ist.

a) Folgenorientiertes Entscheiden

Der Richter soll stets auf die Konsequenzen der ins Auge gefassten Rechtsfortbildung achten. Dazu gehört zunächst eine Rückschau: Wird eine bislang anerkannte Regel aufgehoben, gerät ein bestehendes Gefüge aus dem Lot, die Kautelarjurisprudenz wird sich fragen, ob die übrigen zum System gehörenden Regeln weiter Geltung beanspruchen oder ob auch sie zu Diskussion stehen. Jede Rechtsfortbildung trägt Rechtsunsicherheit in das System.

b) Vermeidung von Dummenrecht

Zur Folgenabschätzung (dazu auch hier unter 2 c) gehört aber auch eine Vorschau: Welche Anreize löst die Entscheidung für die Rechtsunterworfenen aus, wie werden sie auf die Entscheidung reagieren? Können sie die aufgestellte Regel durch abweichende Gestaltung vermeiden? Gilt die neue Regel dann am Ende nur für „Dumme“, die die Rechtslage nicht kennen oder nicht durch Fach- und Kautelarjuristen beraten sind? Hier braucht es etwas gesunden Menschenverstand und Erfahrung und gerade nicht das ökonomische Fachwissen, wie Strohn aber offenbar glaubt. Eine Entscheidung soll stets so ausfallen, dass ihr tragender Rechtsgedanke nicht durch abweichende Gestaltung umgangen werden kann. Die Entstehung von Dummenrecht ist zu vermeiden.

c) Ausführliche Entscheidungsbegründung (Auseinandersetzung mit den Gegenargumenten)

Der Richter soll seine Entscheidung begründen. Nur eine begründete Entscheidung schafft Rechtsfrieden und hat Aussicht auf Bestand, nur sie beinhaltet neben der gesetzten Regel auch zugleich ihre eigenen Grenzen. Dabei soll sich seine Begründung nicht an die Parteien richten: Wer gewinnt, braucht die Begründung nicht und wer verliert, will sie in aller Regel nicht verstehen. Seine Begründung soll sich vielmehr richten an andere Richter und neutrale juristische Experten.

Soweit es um eine noch nicht anerkannte Regel geht, steht sie meist nicht im leeren Raum, sondern wird bereits in der Literatur diskutiert. Die Begründung soll sich mit den vorgetragenen Argumenten auseinandersetzen. Diese Anforderungen sind geringer, als man angesichts der Massen juristischer Aufsätze und „Fachliteratur“ auf den ersten Blick denken mag. Denn keinerlei richterliche Aufmerksamkeit braucht der Richter ca. 99 % der pseudo-juristischen Aufsätze von interessierter Seite zu schenken. Wer freilich als Richter unterschiedslos Meinungen zählt und aneinanderreiht und dabei auch noch falsch zitiert, der hat vor derartigen professionellen Notwendigkeiten schon längst überfordert die Segel gestrichen.

Gegen diese einfachen Anforderungen verstößt der II. Senat übrigens regelmäßig, wie in diesem Blog mehrfach kritisiert. Viele seiner Entscheidungen sind deshalb wenig wert, nur Ausdruck willkürlicher Machtausübung, und es kommt deshalb nicht von ungefähr, wenn die Autorität deutscher Richter mit der angelsächsischer Richter wenig vergleichbar ist.

 

Zeit, dass sich was dreht

31. März 2014

von Ulrich Wackerbarth

Mitten in meine Neubearbeitung des Arbeitsrechts in der Holding für die Neuauflage des Holding-Handbuchs von Lutter/Bayer (erscheint demnächst) platzt heute der Aufsatz „Tendenz-SE“ meines verehrten Kollegen Volker Rieble in AG 2014, 224 ff. Ihn schätze ich unter anderem wegen seiner Scharfzüngigkeit und seiner Tendenz zu klaren Aussagen sehr.

1. Mitbestimmungsvermeidung führt zu Reformbedarf

Dass Rieble kein besonderer Freund der Unternehmensmitbestimmung ist, hat sich vermutlich weithin herumgesprochen. In diesem Aufsatz zeigt er einmal mehr auf, wie wenig konsistent das System der Unternehmensmitbestimmung in Deutschland mittlerweile ist. Durchlöchert wie ein Schweizer Käse ist noch das freundlichste, was man dazu sagen kann. Dabei war gerade das MitbestG von 1976 mit seinen Regeln über die Konzernzurechnung ursprünglich darauf angelegt, die Unternehmensmitbestimmung weitgehend unabhängig von der rechtlichen Organisation durchzusetzen.

Während in den 90er Jahren noch ausländische Unternehmen als Konzernspitze eingesetzt werden mussten (und wurden), um eine Obergesellschaft eines Konzerns mitbestimmungsfrei zu halten, wird heute gerne die SE verwendet, um den „Mitbestimmungsbesitzstand“ der Arbeitnehmer auf einem niedrigen Stand einzufrieren. Anhand der Umwandlung der Axel Springer AG in eine SE zeigt Volker Rieble auf, wie die SE zusammen mit dem Tendenzschutz dazu verwendet werden kann, den Besitzstand „Null“ einzufrieren und damit die Mitbestimmungsfreiheit auf alle Zukunft zu sichern. Das gilt selbst dann, wenn der Konzern bzw die Obergesellschaft vielleicht später einmal seinen Tendenzschutz verliert.

Nicht nur diese, sondern auch andere Organisationsmöglichkeiten zur Mitbestimmungsvermeidung und die tendenzielle EU-Rechtswidrigkeit des Systems (Ausschluss ausländischer Tochtergesellschaften von der Arbeitnehmerzurechnung und deren Arbeitnehmer von der Wahl der Arbeitnehmervertreter), machen eines klar: Wenn die Unternehmensmitbestimmung nicht irgendwann in der Mottenkiste der Geschichte verschwinden will, ist eine weitgehende Reform angezeigt.

2. Tendenzzurechnung im Konzern

Daneben äußert sich Rieble auch zur Frage der Tendenzzurechnung im Konzern, d.h. zu der Frage, ob und wo es mitbestimmte Aufsichtsräte gibt, wenn nur ein Teil der zur Unternehmensgruppe gehörenden Gesellschaften dem Tendenzschutz unterliegt. Zustimmen möchte ich ihm darin, dass aus dem Kriterium der „Unmittelbarkeit“ des § 1 Abs. 4 MitbestG die Notwendigkeit folgt, jede einzelne Gesellschaft auf ihre Tendenzverfolgung zu untersuchen und nicht „den Konzern“ insgesamt (aaO. 226). Der Obergesellschaft kann nicht einfach die Tendenzverwirklichung durch Tochtergesellschaften „zugerechnet“ werden, zumal die Zurechnungsvorschrift des Mitbestimmungsgesetzes (§ 5) nur Arbeitnehmer zurechnet und keine Zweckverfolgung. Bei der Obergesellschaft ist allerdings auch die Leitung der Töchter als eigene unmittelbare Tätigkeit mit in den Blick zu nehmen.

Richtig erscheint mir auch, das „Überwiegen“ der Tendenzverfolgung durch eine Gesellschaft schlussendlich nach quantitativen Gesichtspunkten und zwar nach Arbeitszeitvolumina zu bemessen, um einer „Kryptorationalität“ (aaO. 228, danke für diese schöne Wortschöpfung) qualitativer Argumente vorzubeugen, sprich für ein wenig Vorhersehbarkeit zu sorgen. Im Ergebnis läuft das freilich darauf hinaus, das Überwiegen der Tendenzverfolgung bei der Mutter eben doch danach zu bemessen, ob mehr als 50% der Arbeitszeitvolumina in der von ihr geleiteten Unternehmensgruppe der Tendenzverwirklichung dienen. Warum diese Betrachtung mit dem Unmittelbarkeitserfordernis konfligieren soll (aaO. 230), leuchtet mir nicht ein. Rieble will das Überwiegen bei der Mutter daran messen, ob die Arbeitszeitvolumina der tendenzbezogenen Leitung oder der tendenzfreien Leitung überwiegen. Das kann man indessen nicht rechtssicher feststellen. Vor allem wenn nur der Vorstand selbst leitet, sollte auf dessen „Arbeitszeit“  im Sinne einer „vorhersehbaren“ Entscheidung lieber nicht abgestellt werden. Ansonsten leistet man Manipulationen Vorschub (ich höre schon die Zeugenaussage: „Natürlich habe ich viel mehr Zeit auf die Leitung der Tendenzgesellschaften in der Unternehmensgruppe verwendet als auf die übrigen“). Das Abstellen auf die Arbeitszeitvolumina im Konzern erfordert gegen Rieble auch keine komplexe Aufschlüsselung: man kann die Arbeitszeitvolumina unternehmensübergreifend genauso gut oder schlecht addieren wie im einzelnen Konzernunternehmen.

Vor allem aber ist keineswegs ausgemacht, was Rieble zu Unrecht als „unproblematisch“ bezeichnet: Dass nämlich eine Muttergesellschaft mit eigenem tendenzverfolgendem Geschäftsbetrieb in beliebigem Umfang tendenzfreie Tochtergesellschaften führen dürfe, ohne selbst ihren Tendenzschutz zu verlieren (S. 228 a.E.). Vor dem Hintergrund, dass die Muttergesellschaft tendenzgeschützt sein kann, weil ihre Konzernleitung sich überwiegend auf gruppenangehörige Tendenzunternehmen bezieht, ist diese Aussage nicht nachvollziehbar. Sie folgt dem Prinzip: Wenn in der Unternehmensgruppe überwiegend tendenzgeschützte Unternehmen tätig sind, dann ist auch die Obergesellschaft mitbestimmungsfrei, weil ihre Leitungstätigkeit ja überwiegend tendenzbezogen ist; überwiegt im Konzern aber die Tendenzfreiheit, kommt es nur auf die Tendenzverfolgung durch die Obergesellschaft selbst an. Das klingt nicht wirklich ausbalanciert, um es freundlich zu formulieren. Weniger freundlich: Hier wird mit zweierlei Maß gemessen.

Entgegen Rieble sind auch keineswegs „nahezu alle“ (aaO. 228) seiner Auffassung. Schon in der Rechtsprechung widerspricht ihm mindestens die Entscheidung des LG Hamburg v. 24. 6. 1999 – 321 T 86/98 NZA-RR 2000, 210. Denn das Gericht hätte das Überwiegen der Tendenzverfolgung in der Unternehmensgruppe nicht geprüft, wenn bereits die festgestellte Tendenzverfolgung durch die Mutter für die Mitbestimmungsfreiheit genügt hätte. Wie hier sieht es etwa auch Wißmann in Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht § 279 Rn. 24 m.w.N.). Auch sind die Aussagen mancher (zwar nicht von Rieble, aber von anderen) als weitere Verfechter der hier abgelehnten Auffassung Zitierter (z.B. Raiser/Veil § 1 MitbestG Rn. 18 f.; MüKoAktG/Gach Anh § 117 AktG § 5 MitbestG Rn. 27) in Wahrheit unschlüssig, weil sie sich gerade nicht eindeutig zur Frage äußern, wie denn die Tendenzverfolgung durch die herrschende Gesellschaft zu bestimmen ist.

3. Bessere Corporate Governance ohne Mitbestimmung?

Im Moment schwingt das Pendel klar in eine mitbestimmungsfeindliche Richtung und die Gewerkschaften befördern dies noch durch Beharren auf die Scheinparität des MitbestG. Es ist wirklich „Zeit, dass sich was dreht“. Die Mitbestimmung deutscher Prägung ist ein Hemmschuh für europäische Harmonisierung, sie führt zu Diskriminierung (vor allem von EU-ausländischen Belegschaften), sie hat lange Zeit die SE verhindert und ist Hemmnis für weitere supranationale Rechtsformen. Aber zu weit sollte das Pendel auch nicht schwingen.

Aus eigenen vertraulichen Gesprächen mit Konzernjuristen weiß ich, dass die Aussage des von Rieble aaO. S. 225 zitierten Anwalts keineswegs „zynisch?“ ist: Unternehmenslenker können mit Hilfe der Mitbestimmung manche Maßnahmen schneller und ohne nennenswerte Widerstände umsetzen, weil sie die Belegschaft von vornherein mit „im Boot“ haben: Die Erfahrungen der Unternehmensleiter sind also möglicherweise nicht so einheitlich mitbestimmungsavers, wie uns Rieble glauben machen will.

Und schließlich glaube ich nicht, dass ein gänzlich mitbestimmungsfreier Aufsichtsrat zu einer besseren Corporate Governance führte, wie Rieble am Ende des Beitrags behauptet. Wenn die Mitbestimmung fiele, verlagerte sich das Entscheidungszentrum der Unternehmen automatisch mehr in den Aufsichtsrat. Nimmt man den Arbeitnehmern durch die Reduktion der Mitbestimmung auf einen Konsultationsrat oder Wirtschaftsausschuss den „acces to real decisionmakers“, dann führt das bestimmt nicht zu reibungsloseren Abläufen, sondern im Gegenteil zu Protesten und größeren Reibungsverlusten durch Gegenkräfte in der Befehlskette. Der Zugang zu unmittelbarer Information im Verwaltungs- oder Aufsichtsrat sollte den Arbeitnehmern daher nicht abgeschnitten werden.

§ 242 BGB versus § 242 BGB oder: Wer ist hier der Spitzbube?

27. Februar 2014

 

von Ulrich Wackerbarth

Durch einen Beitrag von Zinger in BB 2014, 458 ff. ist mir gerade eine fatale Rechtsprechungsentwicklung aufgefallen. Es geht um die Treugeberhaftung in Fondsgesellschaften, an denen sich Anleger nicht unmittelbar als Gesellschafter, sondern über einen Treuhänder beteiligen.

1. Keine Außenhaftung der Treugeber, aber Freistellung

Zinger legt zunächst dar, warum aus dem schuldrechtlichen Vertrag zwischen dem Anleger (Treugeber) und dem Fondsinitiator, der oftmals als Treuhänder fungiert, keine unmittelbare Außenhaftung der Treugeber gegenüber den Gläubigern der Fonds-KG resultieren kann, wenn der Treugeber nicht unmittelbar nach außen Vertrauen in Anspruch nimmt (siehe dazu schon ausführlicher hier). Zutreffend kritisiert er Ansätze in der Literatur (Kindler, Schäfer), die mit fragwürdigen Überlegungen Hand an diese festen Grundpfeiler legen wollen.

Die Treugeber können freilich in aller Regel im Innenverhältnis wie Gesellschafter in Anspruch genommen werden. Der im Außenverhältnis haftende Treuhänder-Gesellschafter hat nämlich einen Freistellungsanspruch gegen die Anleger. Dieser Freistellungsanspruch wird regelmäßig auch nicht vertraglich ausgeschlossen, da Banken solchen Fonds ohne die Möglichkeit des Rückgriffs auf die Treugeber keinen Kredit gäben (aaO. S.460). Der Freistellungsanspruch ist die praktische Finanzierungsgrundlage des Fonds.

2. Aufrechnungsverbot bei Prospekthaftung?

Zinger erörtert nun die seit 2011 bestehende Rechtsprechung des II. und III. Senats BGH, die den solcherart auf Freistellung in Anspruch genommenen Treugebern eine Aufrechnung mit etwaigen Prospekthaftungsansprüchen gegen den Fondsinitiator verwehrt – und zwar nahezu ohne Argumente, was Zinger zwar nicht wörtlich sagt, aber zu Recht kritisiert (S. 461 f.). Der BGH meint, das Verbot für den Anleger, sich auf die Prospekthaftungsansprüche zu berufen, folge aus § 242 BGB. Denn durch den Vertrag solle der Anleger einem Kommanditisten gleichgestellt werden, und der dürfe sich gegen seine Inanspruchnahme durch Gläubiger ja auch nicht auf Gegenansprüche aus dem gesellschaftsrechtlichen Innenverhältnis berufen. Diese Begründung ist schon für sich betrachtet ziemlich erheiternd, da die Prospekthaftungsansprüche des Anlegers doch letztlich ebenfalls aus § 242 BGB folgen. § 242 BGB vs. § 242 BGB also? Dass der Anleger hier der Übeltäter ist, dem eine Berufung auf seine Rechte mit dem letzen Mittel des Zivilrechts versagt werden müsste, liegt allerdings fern.

Wenn im Vertrag sinngemäß steht, „Ich weiß, dass ich mit meinem ganzen Vermögen für die Schulden der Gesellschaft hafte“, so folgt daraus mitnichten ein stillschweigendes Aufrechnungsverbot für Gegenansprüche aus Prospekthaftung. Allenfalls ist dem Anleger dann bekannt, dass er überhaupt auf Freistellung in Anspruch genommen werden kann. Die gegenteilige Auslegung des BGH kann sich nicht auf den Vertragswortlaut stützen, der ein solches Verbot gerade nicht nahelegt. Zinger verweist zu Recht darauf, dass der BGH mit dieser Rechtsprechung letztlich die Risiken aus der unklaren Vertragsregelung einseitig dem Treugeber zuweist, der fahrlässig versäumt habe, ein ausdrückliches Aufrechnungsverbot zu vereinbaren.

Anders gefragt: Was ist eine Rechtsprechung wert, die mit der linken Hand wieder nimmt („stillschweigender Aufrechnungsausschluss“), was die rechte in Form der Prospekthaftung gegeben hat? Mit ihrer Rechtsprechung erlauben der II. und der III. Senat des BGH den Fondsinitiatoren etwas, dass nach Sinn und Zweck der Prospekthaftungsvorschriften gerade verboten sein soll: Nämlich durch nachgrade intransparente und täuschende Formulierungen die Anleger über dem Umfang und die Bedingungen ihrer Haftung und damit ihrer Anlage zu täuschen.

Man muss deshalb sogar noch einen Schritt weiter gehen als Zinger: Selbst wenn ein Aufrechnungsverbot ausdrücklich im Treuhandvertrag stünde, so wäre es seinerseits als vertragliche Einschränkung der Prospekthaftung nichtig. Denn diese verträgt als zwingendes Recht solche Einschränkungen nicht (so ausdrücklich § 25 Abs. 1 WpPG, § 22 Abs. 6 S. 1 VermAnlG; für die durch Richterrecht entwickelte allgemeine bürgerlich-rechtliche Prospekthaftung kann nichts anderes gelten).

3. Gleichstellung? Keine Gleichstellung!

Und ein Wort noch zur „Gleichstellung“. Hier liegt neben der unhaltbaren Auslegung des Treuhandvertrags der zentrale Fehler im Ansatz des BGH. Wenn ich als Anleger tatsächlich Kommanditist werde, werde ich im Handelsregister als Gesellschafter eingetragen. Dann ist mir (und den Gläubigern) klar, dass ich im Außenverhältnis nach den gesetzlichen Regeln hafte und Verträge daran nichts ändern. Diese Formalitäten fehlen bei der Treuhandkonstruktion aber gerade. Die Anleger haben sich eben nicht unmittelbar als Kommanditisten beteiligt. Die Warnfunktion des Eintrags in das Handelsregister wird durch ein bloßes Papier, nämlich den Treuhandvertrag, ausgeschaltet. Und die Gläubiger dürfen auch auf nichts vertrauen, da es an einem Eintrag fehlt. Dagegen kann man auch nicht einwenden, die Treuhandkonstruktion erfolge lediglich zu Vereinfachungszwecken. Formale Anforderungen (Eintrag in das Register) erfüllen regelmäßig Schutzzwecke und stellen nicht einfach überflüssige Behinderungen dar. Wenn man ihre Nachteile (Aufwand/Kosten) nicht will, dann muss man akzeptieren, dass man ihre Vorteile eben auch nicht bekommt (You can´t have the cake and eat it, too). Im Ergebnis konterkariert der BGH mit seiner Rechtsprechung zur Gleichstellung bzw. zum stillschweigenden Aufrechnungsverbot seine zutreffende Beurteilung der regelmäßig fehlenden Außenhaftung der Treugeber. Entweder sind sie nach außen Gesellschafter oder nicht (sie sind es eben nicht)!

4. Rechtsverweigerung

Da lobe ich mir die umfassenden und voll zutreffenden Überlegungen des OLG Karlsruhe als einer der Vorinstanzen (hier, Rn. 61 – 67), die der BGH in seiner gegenteiligen Revisionsentscheidung unter Rn. 29 nicht einmal zur Kenntnis genommen geschweige denn widerlegt hat. Nun bin ich weit davon entfernt, dem BGH jede Macht zur Rechtsfortbildung absprechen zu wollen. Wenn aber eine Vorinstanz sich mit der entscheidenden Frage ausführlich und mit nachvollziehbaren Argumenten auseinander gesetzt hat, halte ich es für eine Selbstverständlichkeit, dass sich die anschließende Revisionsentscheidung zu diesen tragenden Erwägungen ausdrücklich verhält. Ein unbegründetes „non placet“ der höchsten Richter dieses Landes ist hingegen nichts anderes als verfassungswidrige Rechtsverweigerung.

5. Wirtschaftliche Konsequenzen der Gegenauffassung

Wirtschaftlich bedeutet das: Folgte man der Gegenauffassung, so scheiterte nicht etwa jede ehrliche Finanzierung von Fonds durch Banken, da ja der Rückgriff auf die Anleger-Treugeber nicht per se in Frage gestellt wird. Die Möglichkeit, Aufklärungspflichtverletzungen gegen die Haftung einwenden zu können, zwänge Banken jedoch, den Fondsinitiatoren im Vorfeld genau auf die Finger zu schauen. Man würde die kreditgebenden Banken so für ordnungegemäße Prospekte in Mithaftung nehmen, ähnlich wie es bei der spezialgesetzlichen Prospekthaftung der Fall ist. Erschwert würden so nur betrügerische Fondsprojekte. Doch darf man vermuten, dass die Bankenlobby eine solche Last nicht tragen will. Zingers Rechtsauffassung, auch wenn sie dogmatisch und ökonomisch zwingend erscheint, wird also ein frommer Wunsch bleiben.

 

Übertriebener Anlegerschutz bei Fonds?

15. Januar 2014

von Ulrich Wackerbarth

Koch und Baas meinen in der heutigen FAZ (S. 19), die Rechtsprechung übertreibe es mit dem Anlegerschutz bei Fonds. Der Schutz Einzelner ginge zu Lasten einer schweigenden Mehrheit der Investoren. Letztere wird jedenfalls bei Prokon kaum zu finden sein, wie mir scheint.

Die Autoren möchten – wegen der angeblichen Blockademöglichkeiten Einzelner – gerne umfassend Aktienrecht auf die Fondsgesellschaften angewendet wissen. Schließlich werde die Rechtsform der KG nur aus steuerlichen Gründen gewählt, die Publikumsgesellschaft entspreche eh dem gesetzlichen Leitbild einer AG und die Aktionärsrechte genügten vollkommen zum Schutz der Gesellschafter. Bevor man aber einem so grundstürzenden Quasi-Formwechsel ohne Anhalt im Gesetz das Wort redet, sollte man vielleicht erst einmal genau darlegen, durch welche Entscheidungen des BGH denn diese angebliche „Blockade der gesamten Gesellschaft“ durch „Individuen“ befördert wurde. Und wenn diese Entscheidungen falsch sind, sollten dann nicht eher diese Entscheidungen geändert werden, bevor man so ohne Abstimmung die Gesellschafter zwangsweise in ein ganz anders verfasstes Gebilde steckt, als sie selbst gewählt haben? Was besagte Entscheidungen angeht, scheinen mir die Autoren auch nicht viel in der Hand zu haben:

Zunächst einmal meinen Koch/Baas, der Anleger könne mit seinem Widerspruchsrecht gegen außergewöhnliche Geschäfte u.U. die operative Geschäftsführung eines Fonds vollständig blockieren, anders als ein Aktionär. Offenbar meinen sie (Anwälte!) damit, der BGH müsse das Versagen der Kautelarjurisprudenz korrigieren. Denn diese Blockade geht nur, wenn der Gesellschaftsvertrag sie nicht klar genug ausschließt, wie sie selbst darlegen.

Weiter wenden sie sich gegen eine Entscheidung des BGH v. 5.2.2013, mit der dem Gesellschafter das unentziehbare Recht zugestanden wurde herauszufinden, wer seine Mitgesellschafter sind. Wo aber bitte ist die Anonymität der Gesellschafter im Personengesellschaftsrecht garantiert? Und ist es nicht gerade für Publikumsgesellschaften eine Grundwertung der § 21 ff. WpHG, dass die Beteiligungen an solchen Gesellschaften nicht anonym bleiben darf, sondern gar zu veröffentlichen ist? Vor allem aber sehe ich nicht, wo denn da Blockademöglichkeiten liegen.

Eine weitere Entscheidung schließlich hatte ich selbst bislang nicht für besonders weitreichend oder aufsehenerregend gehalten, weil sie für mich eher eine Selbstverständlichkeit ausdrückte, nämlich dass die Gründungsgesellschafter als Aufklärungpflichtige für Beratungsfehler im Vertriebssystem nach § 278 BGB wie für eigenes Verschulden einzustehen haben (BGH v. 14.5.2012). Diese Haftung für Dritte schätzen Koch/Baas offensichtlich deshalb als besonders weitgehend ein, weil letztlich Fremde als Hilfspersonal eingeschaltet werden müssen und Fremde nicht gut genug kontrolliert werden können. Die Gründungsgesellschafter haben keine andere Wahl, weil der Aufbau eines eigenen Vertriebssystems viel zu aufwändig (teuer) wäre. Nun ja, in anderen Beiträgen wird bereits klargestellt, dass man bei Gründungsgesellschaftern nicht an natürliche Personen denken sollte. Haabe/Angermann NZG 2012, 1255, 1257 erläutern, wie dafür gesorgt werden kann, dass der Gründungsgesellschafter vermögenslos ist. Fast schon hämisch weisen sie am Ende darauf hin, dass der Anleger so einen wirtschaftlich wertlosen Titel gegen den Gründungsgesellschafter erstritten habe.

Schlimm übertriebener Anlegerschutz sieht m.E. anders aus.

Mit gutem Beispiel voran …

13. Dezember 2013

 

von Ulrich Wackerbarth

… gehen leider nicht Sander und St. Schneider mit ihrem Beitrag „Die Pflicht der Geschäftsleiter zur Einholung von Rat“ in ZGR 2013, 725 – 759. Sie wollen im Unterschied zur h.M. die Haftungsbefreiung bei Einholung von Rechtsrat (dazu schon hier) nicht auf der Ebene des Verschuldens, sondern bereits auf der Pflichtebene ansiedeln. Bei einem Kompetenzdefizit müsse der Geschäftsführer Rechtsrat einholen, andernfalls liege bereits im Unterlassen des Sich-Beraten-Lassens eine Pflichtverletzung.

1. Beispiellos und damit wertlos

Anhand des Beitrags lässt sich exemplifizieren, wie Wissenschaft nicht sein sollte: abstrakt und ohne Verdeutlichung am Beispiel und deshalb … wahrscheinlich falsch. Man kann im Geiste wunderbare Gebäude errichten, wenn man davon aber keine Fotos macht, hält der eine es für den Kölner Dom, der andere aber für eine Pyramide. Das betrifft übrigens Forschung wie Lehre gleichermaßen: Wer keine Beispiele gibt, erreicht beim Leser wie Zuhörer in kürzester Zeit maximale Ermüdung, hat aber nichts bewiesen.

So behaupten die Verf. etwa in ihrer „dogmatischen Grundlegung“, die Rechtsprechung stelle im Gesellschaftsrecht höhere Anforderungen an einen unverschuldeten Rechtsirrtum als im allgemeinen Zivilrecht (S. 731). Beispiele dafür? Fehlanzeige. Stimmt das nun oder nicht? Ich kann es nicht überprüfen.

Zu nennen ist auch der von den Verf. herausgehobene Grundsatz der „Konturierung der situationsbezogen angemessenen Pflichten für jeden Einzelfall unter Berücksichtigung der tatsächlichen und normativen Rahmenbedingungen“, wozu „selbstredend“ das „jeweils maßgebliche teleologische und systematische Umfeld“ gehöre (735 f.). Ein Beispiel für solche Konkretisierung geben sie nicht. Wenn man dem Geschäftsleiter nicht im Vorfeld klar sagen kann, wozu er verpflichtet ist, dann ist er m.E. zu gar nichts verpflichtet. Es handelt sich deshalb keineswegs um einen Grundsatz, sondern lediglich um „Blabla“.

Vollends absurd wird es, wenn Verf. am Ende (S. 757 f.) behaupten, „grundsätzlich“ komme eine Haftung des Geschäftsleiters schon wegen des Verkennens der Pflicht zur Einholung von Rechtsrat in Betracht. Sie können nicht ein Beispiel nennen, in dem diese Haftung tatsächlich gegeben wäre. Dafür meinen sie aber, „häufig“ werde schon keine Pflichtverletzung gegeben sein, weil das Kompetenzdefizit aus der Perspektive des Geschäftsleiters zu beurteilen sei. Fallbeispiel für diese „häufige“ Ausnahme? Fehlanzeige. Und außerdem werde es häufig an der Kausalität für einen Schaden fehlen. Es wäre schön gewesen, hätte man zuvor mal ein Beispiel für einen Fall mit entsprechender positiver Kausalität gehört, bevor man mit den „nicht seltenen“ Ausnahmen konfrontiert wird, natürlich wieder … ohne Beispiel.

2. Gute Beispiele, schlechte Beispiele

Der Mangel an Beispielen zieht sich durch den Text. Und wo die Verf. ausnahmsweise Beispiele bringen, illustrieren diese nicht die Behauptung:

Verf. nennen als Beispiele für die angebliche Überforderung von Geschäftsleitern die mit „schwierigen Bewertungsfragen“ verbundenen Pflichten nach § 15 a Abs. 1 Satz 1 InsO, § 92 Abs. 1 AktG und § 49 Abs. 3 GmbHG (aaO S. 733). Nun steht in den Gesetzen wahrlich nicht besonders viel über konkrete Pflichten von Geschäftsleitern. Dass diese jedoch die Bücher zu führen haben und stets die Finanzlage der Gesellschaft genau kennen müssen, das steht da sehr wohl. Genau diese finanzielle Kontrolle gehört doch wohl zu den Grundanforderungen, denen sich kein Geschäftsleiter entziehen können darf. Daraus nun eine Überforderung wegen Bewertungsschwierigkeiten abzuleiten, ist hanebüchen. Angesichts haarsträubender Praxisfälle muss man zwar heutzutage davon ausgehen, dass viele Geschäftsleiter selbst diesen Mindesterwartungen nicht mehr gerecht werden. Aber kann es dann wirklich eine Lösung sein, solchen Hasardeuren zu sagen: „Fragt einen Berater und dann könnt ihr euch mit der Begründung herausreden, ihr verstündet von alledem ja ohnehin nichts“?

Und ferner: Die Verf. legen abstrakt (S. 753) folgenden Zusammenhang dar: Je zuverlässiger eine Auskunftsperson, desto geringer die anschließend erforderliche Prüfung des erteilten Rates auf Plausibilität durch den Geschäftsleiter. Offenbar geht es um eine Proportionalität in folgendem Sinne (Achtung, jetzt kommt ein Beispiel):

Fragt der Geschäftsführer den mehrfach wegen Unterschlagung vorbestraften Bankkaufmann B, ob er Insolvenzantrag stellen müsse und der sagt in einem 5-seitigen Gutachten im Ergebnis „Nein“, so muss er dessen Gutachten besonders genau prüfen. Fragt er hingegen den unbescholtenen Steuerberater S, so kann er dessen Gutachten ceteris paribus etwas weniger genau prüfen.

Das Beispiel der Verf. hingegen (aaO, S. 753), lautet sinngemäß:

Wenn man die BAFin fragt, darf man sich nach h.M. grundsätzlich ohne weitere Nachprüfung auf deren Auskunft verlassen, weil sie vertrauenswürdig und fachkompetent ist.

Selbst wenn das stimmte (Verf. zitieren immerhin abweichende Rechtsprechung), so ist das in dreifacher Hinsicht kein Beispiel für den behaupteten Zusammenhang.

– Es wird kein Beispiel für Zuverlässigkeit gegeben, sondern für Fachkompetenz und Vertrauenswürdigkeit.

– Eine Plausibilitätsprüfung setzt voraus, dass etwas nicht ohne weiteres Einleuchtendes gesagt wird, ansonsten kann man die Plausibilität ja nur bejahen und nicht prüfen. Eine einer solchen Prüfung ernsthaft zugängliche Auskunft der BAFin habe ich noch nicht gesehen.

– Sich ohne Nachprüfung grundsätzlich verlassen zu dürfen, ist ja nun nicht gerade eine – wenn auch abgeschwächte – „Prüfung der Plausibilität“.

 

3. Ein paar ketzerische Fragen zum Schluss

a) Bewegliche Systeme schaffen kein Recht

Verf. geht es offenbar gerade darum, nur abstrakte Zusammenhänge wie den oben zur Plausibilitätsprüfung Erläuterten darzustellen. Mithilfe von „beweglichen Systemen“ wollen sie offenbar maximale Einzelfallgerechtigkeit und „situationsadäquate“ Pflichten für den Geschäftsleiter schaffen. Solche beweglichen Systeme sind aber mitnichten ein Idealzustand. Dem Geschäftsleiter wird dann erst hinterher gesagt, wie er sich hätte verhalten müssen. Unterliegt diese nachträgliche Beurteilung nicht genau dem „hindsight bias“, der die maßgebliche Begründung für eine Haftungserleichterung des Geschäftsführers im Rahmen der Business Judgment Rule ist?

b) Das gibt es doch schon alles…

Verf. kommen von ihrer Warte aus zu dem Schluss, dass künftig schon das Unterlassen einer gebotenen Einholung von Rechtsrat eine Pflichtverletzung des Geschäftsführers sein kann und also zu seiner Haftung führen kann (S. 757f.). Kann der Aufsichtsrat in solchen Fällen nicht auch schon nach geltendem Recht vorgehen? Es kann doch wohl keine Haftungsbefreiung für einen Geschäftsführer geben, der trotz Erkennens der eigenen Inkompetenz die Gesellschaft schädigt. Nur liegt die Pflichtverletzung dann in der Schädigung selbst und nicht etwa in der fehlenden Einholung von Rechtsrat…

c) Künftig alles doppelt – hoffentlich verliert niemand den Überblick

Oder noch anders gewendet: Wenn die Verf. die Einholung von Rechtsrat nun auf der Pflichtenebene ansiedeln, so schließt das doch die Notwendigkeit einer Vorwerfbarkeit der Pflichtverletzung auf der Verschuldensebene nicht aus, oder habe ich da etwas nicht verstanden? Verschulden ist auch künftig erforderlich, ein unverschuldeter Rechtsirrtum muss folglich die Vorwerfbarkeit ausschließen. Und da sind wir doch schon wieder bei der Frage nach einem schuldausschließenden Gutachten. Werden Geschäftsleiter also künftig Gutachten über die Frage in Auftrag geben, ob sie ein Gutachten in Auftrag hätten geben müssen?

Macrotron aufgehoben!

12. November 2013

von Ulrich Wackerbarth

Mit Beschluss vom 8.10.2013 hat der II. Senat des Bundesgerichtshof sein Macrotron-Urteil aus dem Jahr 2002 aufgehoben. Künftig ist für den freiwilligen Rückzug einer AG von der Börse weder ein Hauptversammlungsbeschluss noch ein Pflichtangebot an die Minderheitsaktionäre und natürlich auch kein Spruchverfahren mehr erforderlich. Die Argumente für eine Aufrechterhaltung seiner Rechtsprechung haben den BGH nicht überzeugt. Offenbar fehlten ihm vor allem ökonomische Beweise für die Nachteiligkeit eines Delisting oder Downlisting, wie sich aus den Rn. 14 f. erkennen lässt.

Der BGH legt den Rechtsschutz der Anleger in die Hände der Börsen, wie jüngst von Thomale gefordert. Die Börsenordnungen entscheiden künftig darüber, wie schnell ein Delisting vonstatten geht und ob ein Kaufangebot erforderlich ist. Gegen Entscheidungen der Börsengeschäftführungen soll der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten eröffnet sein (Rn. 16, was freilich das VG Frankfurt bereits abgelehnt hat) .

Aus Sicht der Anleger ist das ein schwarzer Tag: Großaktionär und Vorstand können die wesentlichen anlegerschützenden Regeln des Kapitalmarktrechts nun im Handstreich beseitigen. Freilich liegt das Urteil auf einer nunmehr erkennbaren Linie des „neuen“ II. Senats, der offenbar den Anlegerschutz möglichst zurückfahren will (so vor allem Rn. 12, in der er sich auf seine – hier kritiserte – frühere Rechtsprechung zur Abschaffung von Schutzrechten der Anleger beruft). Es wird einige Zeit dauern, bis sich das kapitalmarktnahe Gesellschaftsrecht von diesem Rückschlag erholt haben wird.

Fortsetzung des Gesellschaftsrechts mit anderen Mitteln?

8. November 2013

von Ulrich Wackerbarth

Chris Thomale beschäftigt sich in der aktuellen ZGR 2013, 686 ff. mit dem Delisting-Entscheid des BVerfG (siehe auch hier und hier) und meint, die Macrotron Rechtsprechung (Erfordernis eines HV-Beschlusses vor Antragstellung sowie Pflichtangebot und Überprüfung im Spruchverfahren) könne nach dem Urteil des BVerfG gesellschaftsrechtlich nicht mehr begründet werden. Vielmehr sei der erforderliche Anlegerschutz über § 39 Abs. 2 BörsG, also kapitalmarktrechtlich, sicher zu stellen. Jeder kann natürlich vertreten, was er will, aber offensichtlich hat Thomale meine Vorschläge in zwei Fällen nicht verstanden, was offenbar auch den anonymen Gutachtern/-innen der ZGR entgangen ist.

1. Pflichtverletzung des Vorstands

Zunächst ist Thomale darin zuzustimmen, dass das Erfordernis eines HV-Beschlusses für ein Delisting weder aus § 29 UmwG noch aus den Regeln über den Formwechsel oder anderen Analogien abgeleitet werden kann (aaO, 703 – 708). Jedoch fehlt bereits an dieser Stelle eine Auseinandersetzung mit der von mir gegebenen Reservebegründung (WM 2012, 2077 ff.). Später dann zitiert Thomale mich falsch mit der Aussage, §§ 119 Abs. 2, 93 Abs. 1 und 4 AktG „bewirkten mittelbar“ eine Kompetenz der HV (aaO. 713), um mir anschließend den Mißbrauch dieser Normen vorzuwerfen (aaO 714) . Hier gilt: Wer lesen kann, ist klar im Vorteil. In meinem Aufsatz taucht an keiner Stelle das Wort „mittelbar“ auf, noch habe ich eine Kompetenz der HV behauptet. Alles, was ich vertreten habe, ist, dass der Vorstand eine Treuepflichtverletzung begeht, wenn er den Antrag nach § 39 Abs. 2 BörsG stellt, ohne zuvor seine Aktionäre gefragt zu haben. Die Pflichtverletzung leite ich daraus ab, dass kein Organwalter über die rechtlichen Regeln entscheiden können darf, unter denen er für die Gesellschaft tätig ist. Der Vorstand ist Gutsverwalter, nicht Gutsherr. Und nicht wenige für den Vorstand geltende Regeln hängen von der Börsennotierung ab. Damit setzt sich Thomale nicht auseinander.

Dass der Vorstand natürlich nicht selbst die Notierung widerruft, sondern die zuständige Börsengeschäftsleitung (so das Gegenargument von Thomale, aaO. 714), ändert nichts daran, dass die vorherige Antragstellung ein Akt der Geschäftsführung ist, ohne den es keinen Widerruf gibt und mit dem entscheidender Einfluss auf den Widerruf der Notierung genommen wird. Die Haftung des Vorstands nach § 93 AktG hängt nicht davon ab, ob sein Handeln nun unmittelbar oder aber nur adäquat kausal zu einem Schaden der Gesellschaft geführt hat.

Eine bemerkenswerte Parallele findet sich zur Zeit im Insolvenzrecht. Da entscheidet schließlich auch das Insolvenzgericht, ob es das Verfahren auf einen Antrag der Gesellschaft hin eröffnet  — und doch ist der Geschäftsführer, der lediglich den nach § 18 InsO freiwilligen Eröffnungsantrag stellt, nach ganz h.M. verpflichtet, zuvor eine Entscheidung der Gesellschafterversammlung einzuholen (OLG München NZG 2013, 742; dazu Saenger NZG 2013, 1201 ff. m.w.N.). Tut er es nicht, haftet er anschließend gem. § 43 Abs. 2 GmbHG für den entstandenen Schaden. Im GmbHG gibt es keine Vorschrift, die diese Entscheidung ausdrücklich den Gesellschaftern zuweist. Nicht anders sollte es sein, wenn der Vorstand einfach einen derartigen Insolvenzantrag stellt, ohne zuvor die Hauptversammlung gefragt zu haben. Das gilt auch dann, wenn man eine entsprechende ungeschriebene Kompetenz der Hauptversammlung verneint: Denn selbstverständlich stellt es eine Pflichtverletzung des Vorstands dar, die Gesellschaft durch Stellung eines Insolvenzantrags zu schädigen, zu dem er nicht verpflichtet ist. Streiten kann man allenfalls darum, ob und welcher Schaden tatsächlich auf der Antragstellung beruht.

2. Sondervorteil des Großaktionärs

Auch der von mir angenommene Sondervorteil des Großaktionärs (im Sinne von § 243 Abs. 2 AktG) durch einen Delisting-Beschluss, der nicht Pflichtangebot und Spruchverfahren enthält, ist durch die pauschalen und z.T. falschen Darlegungen Thomales keinesfalls widerlegt:

Dass das Delisting selbst ein Sondervorteil des Großaktionärs sei (aaO. 715), habe ich nicht behauptet; auch hier sollte Thomale bei seinen Recherchen lieber etwas mehr Sorgfalt walten lassen. Vielmehr habe ich dargelegt, dass sich durch ein Delisting zwar Kostenvorteile für die Gesellschaft ergeben, von diesen aber im Ergebnis nur der Großaktionär wirklich profitiert, weil die mit dem Delisting zugleich verbundenen Informationsnachteile ausschließlich die Minderheitsaktionäre treffen. Der Großaktionär bleibt hingegen weiter umfassend informiert. Bei der gebotenen Betrachtung sämtlicher Folgen eines einheitlichen Beschlusses stellt das einen Sondervorteil für den Großaktionär dar.

Dass sich dieser Sondervorteil „nicht direkt aus dem Delisting“ ergeben soll (aaO. 715), trifft nicht zu, da die Abschaffung der Publizitätspflichten börsennotierter Gesellschaften nun einmal unmittelbare Folge eines Delistings ist. Und im Unterschied zu der von Thomale in Fn. 172 zitierten BGH-Entscheidung ist dieser Vorteil aus dem Delisting auch nicht etwa „in der individuellen Person“ des Großaktionärs begründet (wie etwa Steuervorteile), sondern in dessen überlegenem Informationszugriff aufgrund seiner Beteiligung und damit gerade doch in einem „Verhältnis zur Gesellschaft“. Im Übrigen hat der BGH gerade in der Steuervorteile-Entscheidung auch darauf abgestellt, dass die Minderheit ja vor Nachteilen beim Formwechsel über die ihr angebotene Abfindung nebst Spruchverfahren ausreichend geschützt sei.

Und wenn Thomale sich auf eine Entscheidung des OLG München von 2001 beruft, dann wird die Qualität der Quelle deutlich, wenn man sich den einschlägigen Wortlaut der Entscheidungsgründe ansieht:

„Auch ein Wissensvorsprung des Mehrheitsaktionärs ist entgegen der Auffassung der Kläger durch die Ermächtigung zum Delisting nicht eingetreten. Der Einwand der Beklagten, der Großaktionär habe über seine Beteiligung am Aufsichtsrat bereits vor dem Delisting einen Informationsvorsprung gegenüber den Minderheitsaktionären gehabt, der sich durch das Delisting nicht vergrößert hat, ist plausibel.“

Diese Äußerung des OLG München ist nachgerade eine Bestätigung für den Sondervorteil: Sicher hat der Großaktionär auch vor dem Delisting einen Informationsvorsprung vor den Minderheitsaktionären gehabt, daran besteht kein Zweifel. Aber ebensowenig bestehen Zweifel daran, dass sich dieser Vorsprung durch das Delisting vergrößert, weil nunmehr genau die gesetzliche Publizität wegfällt, deren Zweck es ja gerade ist, die Anleger mit Informationen zu versorgen. Der Einwand ist also entgegen dem OLG München unplausibel, um nicht zu sagen: Unsinn – kein Wunder, dass gerade diese Entscheidung durch die Macrotron – Entscheidung des BGH aufgehoben wurde.

 

3. Mit aller Gewalt: Kapitalmarktrecht gegen Gesellschaftsrecht

Geradezu hanebüchen wird es, wenn Thomale gegen die h.M. und gegen das Gesetz (§ 15 Abs. 6 BörsG) den Börsen und damit den Verwaltungsgerichten eine Pflicht zum Individualschutz der Anleger aufoktroyiert, indem er behauptet, § 39 Abs. 2 S. 2 BörsG beweise ein vom Grundsatz des § 15 Abs. 6 BörsG abweichendes gesetzliches Konzept (aaO. 719). Die Regierungsbegründung zum 3. FFG kennt jedoch an den entscheidenden Stellen (BT –Drucks. 13 /8898 S. 57, 75) kein solches abweichende Konzept, von einem beabsichtigten Individualschutz ist dort nirgends die Rede. Deshalb hat das VG Frankfurt ein individuelles Klagerecht auch bereits ausdrücklich abgelehnt und dabei auch, anders als Thomale in Fn. 194 meint, nichts verkannt. Vielmehr ist Thomale seiner Argumentationslast angesichts des § 15 Abs. 6 BörsG nicht nachgekommen.

Auch entbindet eine Berücksichtigung des „Anlegerschutzes“ iSd. § 39 Abs. 2 BörsG nicht von der gesellschaftsrechtlichen Frage, was der Vorstand darf und was nicht. Und insoweit hätte Thomale lieber auf die von ihm mehrfach zitierten Vollmer/Grupp hören sollen, die in der ZGR 1995, S. 474, festgehalten haben:

„Bereits diese grobe Skizze der Interessenkonflikte macht deutlich, daß es beim Börsenaustritt zum einen um den Schutz der Gesellschafter gegenüber dem Vorstand, insbesondere aber um einen Schutz der Minderheitsaktionäre gegenüber den Großaktionären geht. Das sind genuin gesellschaftsrechtliche Schutzprobleme. Erst soweit darüber hinaus die Interessen des allgemeinen Anlegerpublikums berührt sind, handelt es sich um börsenrechtliche Schutzprobleme.“

§ 39 Abs. 2 BörsG ist also gerade keine „Fortsetzung des Gesellschaftsrechts mit anderen Mitteln“, sondern eine rein kapitalmarktrechtliche Regelung, die mit den innergesellschaftlichen Organisationsfragen nicht konkurriert. Der (gordische) Knoten, den Thomale gern zerschlagen möchte (aaO. 720) — existiert also gar nicht.