Corporate BLawG

Der „post-faktische“ Konzern

30. September 2016

von Ulrich Wackerbarth

20160924_152650aHabersack sieht anlässlich des 60. Geburtstags von Walter Bayer in seinem Vortrag „Aktienkonzernrecht – Bestandsaufnahme und Perspektiven“, schriftlich niedergelegt in der aktuellen AG 2016, 691 – 697, begrenzten Reformbedarf im deutschen Konzernrecht. Was er uns präsentiert, ist allerdings zumindest de lege ferenda nicht weniger als eine kleine Revolution. Durchdacht ist sie freilich nicht, wie einige wenige Überlegungen zeigen. Aus Platzgründen beschränke ich mich auf den praktisch wichtigen faktischen Konzern.

I. Abschaffung des Konzernrechts zugunsten eines Allgemeinen Teils des Gesellschaftsrechts

Bemerkenswert ist in erster Linie die Stellungnahme von Habersack zum Konzernkonflikt: Während bislang das Konzernrecht ein Spezialrecht (eben für Konzerne war), möchte Habersack daraus allgemeines Gesellschaftsrecht machen. Er lehnt nämlich – obwohl er den Konzernkonflikt im Grundsatz bejaht – de lege ferenda eine Beschränkung des Konzernrechts auf Konzerne ab und möchte die §§ 311 ff. AktG zu einem Recht machen, auf das sich eine Minderheit in einer Aktiengesellschaft stets gegenüber jedem herrschenden Aktionär berufen kann, auch wenn dieser kein Unternehmen im konzernrechtlichen Sinne ist (aaO. 692).
Damit wäre der „postfaktische Konzern“ geschaffen – praktisch beträfe das „Konzernrecht“ dann jede Gesellschaft mit einer institutionalisierten Mehrheit. Fast alle Gesellschaften wären dann zugleich ein Konzern zwischen dieser Mehrheit und der Gesellschaft, es käme nicht mehr auf eine Verbindung von mehreren Unternehmen oder Gesellschaften an. Wäre so etwas wünschenswert? Ich glaube das nicht. Es würden zum einen die besonderen Probleme verdeckt, die sich stellen, wenn natürliche Personen versuchen, durch die Gründung von Zwischengesellschaften ihrer Verantwortung entkommen zu können. Zum anderen würde vollends vergessen, wozu die §§ 311 ff. AktG einmal geschaffen wurden, nämlich um zu verhindern, dass Unternehmen ihre Tochtergesellschaften dazu mißbrauchen, besonders riskante Geschäfte durchzuführen, ohne selbst für diese Risiken einzustehen.

II. Ungerechtfertigte Privilegierung für alle Mehrheitsgesellschafter

Und hätte eine solche Änderung wünschenswerte praktische Folgen? Habersack denkt weniger an eine Erweiterung des Schutzes der Minderheit gegenüber der Mehrheit, er sagt ausdrücklich (aaO. 692), die bisherige (!) Rechtslage sei

„konsequent, wenn man die Schutzfunktion konzernrechtlicher Regelungen betont, indes kaum schlüssig, wenn man den organisationsrechtlichen Charakter des Konzernrechts und die damit einhergehende Erweiterung der Gestaltungsmöglichkeiten in den Blick nimmt“

Ihm geht es vor allem um die Erweiterung der Gestaltungsmöglichkeiten des des herrschenden Gesellschafters. Konkret bedeutet das, dem herrschenden Aktionär Vorteile zuzuschanzen, die sogar noch über die Einflußmöglichkeiten hinausgehen, die das Gesetz und der Gesellschaftsvertrag dem Aktionär ohnehin (proportional zu dem von ihm bereitgestellten Kapital) zubilligen. Diese Privilegierung des herrschenden Aktionärs ist das zentrale (Miß-)Verständnis der hM. im Konzernrecht – und für diejenigen, die das derzeitige System durchschauen, der zentrale Stein des Anstoßes.
Bislang hat noch niemand ein auch nur im entferntesten einleuchtendes Argument dafür gefunden, warum man gerade demjenigen, der angesichts seines Stimmrechtseinflusses ohnehin sämtliche Möglichkeiten hat, die Geschicke der AG zu bestimmen, noch darüber hinaus gehende weitere Privilegien einräumen soll. Gerade um diesen Aspekt geht es aber Habersack, wie er mehrfach betont, u.a. (aaO. 694):

„Die mit der Leistung von Nachteilsausgleich nach Maßgabe des § 311 Abs. 2 AktG verbundene Verdrängung allgemeiner Ausgleichsmechanismen – mithin eine gewisse „Privilegierung“ des herrschenden Unternehmens – erleichtert den Aufbau von Gruppenstrukturen und die Durchführung gruppeninterner Austauschbeziehungen.“

Ins konkret-praktische übersetzt heißt das: Der herrschende Aktionär kann sich über die „gruppeninternen Austauschbeziehungen“, namentlich die sog. related party transactions, ungerechtfertigte Vermögensvorteile einverleiben, die Minderheit um den Gewinn bringen und damit gegen den Gesellschaftvertrag verstoßen, siehe hier und hier und öfter in diesem Blog. Natürlich „erleichtert“ das den Aufbau von Gruppenstrukturen. Nur gerechtfertigt ist es keineswegs. Aber in „postfaktischen Zeiten“ interessiert das ja nicht.

III. Außenseiterschutz

Was hat Habersack als „Gegenleistung“ für diese rechtliche Benachteiligung der Minderheitsaktionäre anzubieten ? Die Antwort lautet: weniger als nichts, nämlich am Ende nur die unbegründete Behauptung, dass (aaO. 694)

„der Außenseiterschutz nicht auf der Strecke bleibt“

1. Nachteilsausgleich

Habersack verweist zum einen auf den Nachteilsausgleich. Von einem in der Praxis jemals geleisteten konkreten Nachteilsausgleich habe ich demgegenüber noch nichts gehört, ein solcher ist m.W. niemals erfolgreich eingeklagt worden und ich wage zu behaupten, er ist in den letzten 50 Jahren entweder nicht geleistet worden oder aber hat nicht diejenigen Nachteile ausgeglichen, die der abhängigen Gesellschaft zuvor oder danach zugefügt wurden. Objektiv nachprüfen kann man das alles nicht – weil der Gesetzgeber in seiner Weisheit vor 50 Jahren dafür gesorgt hat, dass alles (Nachteilszufügung, -ausgleich, Prüfung und Dokumentation) im Geheimen bleibt und von keinem Minderheitsaktionär überprüft werden kann.
Aber was glaubt der geneigte Leser: Wie, wenn nicht durch konzerninterne Rechtsgeschäfte, die für die profitable Tochter nachteilig sind, schaffen bestimmte Konzerne es, zB. sämtliche Gewinne im steuergünstigen Irland anfallen zu lassen?

2. Offenlegung des Abhängigkeitsberichts

Die Geheimhaltung des Abhängigkeitsberichts stört zwar auch Habersack, der meint, es läge im Trend, wenn der Abhängigkeitsbericht künftig offengelegt werden müsste. Doch wenn da nicht die einzelnen Transaktionen nebst Preisen drinstehen, wird nach wie vor mit solchen Transaktionen Vermögen verschoben werden können. Insofern verweist Habersack schon auf „vernünftige Vorschläge“ zu den Grenzen der Offenlegungspflichten. Diese wird man sich im Detail anzuschauen haben, wenn die Offenlegung denn je Gesetz würde.

3. Kontrolle der konzerninternen Rechtsgeschäfte durch die Minderheit

Wirklich helfen kann hier nur eine Vorabkontrolle der konzerninternen Rechtsgeschäfte durch die Außenseiter, was die EU will, deren Ansatz aber natürlich gerade in Deutschland zentral bekämpft und bis zur Unkenntlichkeit verwässert wurde. Gerade bei den related party transactions soll künftig wie bisher der Aufsichtsrat entscheiden können, möglicherweise leicht behindert durch ein unabhängiges Mitglied; (vgl. Habersack, aaO. 695). Selbst das ist Zukunftsmusik, der frühere gesetzliche Ansatz eines unabhängigen Mitglieds im Aufsichtsrat in § 100 Abs. 5 AktG ist nunmehr wieder im Corporate Governance Kodex begraben: Ein Schritt vor, zwei Schritte zurück, auch das ist postfaktisches Konzernrecht.

4. Unzulässigkeit qualifizierter Nachteilszufügung?

Habersack erwähnt noch die Unzulässigkeit von solchen Benachteiligungen, die nicht einem Ausgleich (z.B. durch Geldzahlung) zugänglich sind (aaO. 695). Nur kann mit dieser Unzulässigkeit niemand etwas anfangen. In den mehr als 50 Jahren, in denen das Konzernrecht jetzt existiert, hat es nicht einen Fall gegeben, in dem sich Minderheitsaktionäre erfolgreich gegen nicht ausgleichsfähige Benachteiligungen zur Wehr setzen oder die Haftung der Konzernmutter erwirken konnten. Wann immer „nicht ausgleichsfähige“ Nachteile zugefügt wurden, wurden diese Nachteile nämlich zugleich von der Rechtsprechung als „nicht konkret genug dargelegt“ und damit als nicht existent eingeschätzt (ausführlich Wackerbarth, Der Konzern 2010, 261 ff. und 337 ff., insb. 348 mit Nachweisen).

IV. Fazit

Dass das Konzernrecht der §§ 311 ff. AktG heute „im Grundsatz durchaus positiv beurteilt“ würde (Habersack, aaO. 694), stimmt nur, wenn man die richtigen (oder vielmehr gerade die falschen) Leute fragt, es gibt durchaus auch Beiträge, in denen die in diese Vorschriften hineininterpretierte Privilegierung des Mehrheitsgesellschafters gerade nicht hingenommen wird. Wer wissenschaftlich Konzernrecht betreiben möchte, der muss sich auch in postfaktischen Zeiten vor allem mit den durchaus vorhandenen Gegenargumenten auseinandersetzen. Habersack wollte das mit diesem Beitrag offensichtlich nicht.

Si tacuisses… oder: Ungereimtes in einem höchstrichterlichen Aufsatz

18. Juli 2016

von Ulrich Wackerbarth

20160718_101643aGehrlein, seines Zeichens Mitglied des IX. (Insolvenzrechts-)Senats, nimmt in der aktuellen NZI 2016, 561, Stellung zu der Frage, ob im Falle einer Insolvenz einer GmbH „Ansprüche gegen Gesellschafter bei überteuerter Nutzungsüberlassung an insolvente Gesellschaft“ bestehen. Das Recht der kapitalersetzenden Nutzungsüberlassung ist ja bekanntlich durch das MoMiG völlig neu gestaltet worden, um nicht zu sagen abgeschafft worden. Geblieben ist das Recht des Insolvenzverwalters, für die Dauer eines Jahres den vorher überlassenen Gegenstand gegen ein Durchschnittsentgelt weiter zu  nutzen (§ 135 III InsO). Hier stellen sich vor allem zwei Fragen: Wie berechnet man das Durchschnittsentgelt und was geschieht, wenn die Nutzungsüberlassung schon (lange) vor der Eröffnung beendet und der Gegenstand zurückgegeben war?

1. Formalia

Gehrlein wiederholt zunächst noch einmal das Konzept, auf dem die gesetzliche Regelung nach der Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 16/9737 S. 59) beruht. „Wiederholt“ ist in diesem Falle durchaus wörtlich zu verstehen, denn obschon Gehrlein den Eindruck erweckt, er gebe dieses Konzept mit eigenen Worten wieder, handelt es sich bei III. 1. und 2. seines Aufsatzes um ein wörtliches Zitat der genannten Gesetzesbegründung, wobei Gehrlein offenbar vergessen hat, diese Ausführungen in Anführungsstriche zu setzen. In dieses Bild passt es, dass man in dem Beitrag zweimal den Gliederungspunkt III. und auch zweimal IV. und andere formale Ungenauigkeiten (etwa falsche Seitenangaben bei Zitaten) findet.

2. Treuepflicht als Grundlage des Nutzungsrechts?

Wie dem auch sei: Der Gesetzgeber meint, die Treuepflicht des Gesellschafters gebiete es ihm, in der Insolvenz die für die Fortführung benötigten Gegenstände der Gesellschaft weiter zu überlassen. Mit der gesellschafterlichen Treuepflicht kann freilich nicht argumentiert werden, wenn es um die Frage der insolvenzrechtlichen Behandlung von Nutzungsverhältnissen geht. Denn jedenfalls den Alleingesellschafter trifft gegenüber seiner Gesellschaft keine Treuepflicht, sehr wohl aber gilt § 135 Abs. 3 InsO auch für ihn. Gerade Gehrlein als früheres Mitglied des II. Senats sollte diese ständige Rechtsprechung des Gesellschaftsrechts-Senats (keine Treuepflicht des Alleingesellschafters) kennen, das hätte ihm mindestens Anlass für weitere Überlegungen bieten müssen.

3. Unanfechtbar gezahltes überhöhtes Nutzungsentgelt – ein unglaubhaftes Szenario

Gehrlein fragt weiter, wie man das Durchschnittsentgelt berechnet, wenn ein überhöhtes Entgelt zwischen GmbH und Gesellschafter vereinbart ist. Kann es dazu führen, dass der Insolvenzverwalter das überhöhte Entgelt weiterzahlen müsste? Zu Recht weist Gehrlein darauf hin, dass nur unanfechtbare Zahlungen der GmbH in die Berechnung des Durchschnittsentgelts eingehen. Einige Anfechtungstatbestände der InsO helfen deshalb, den Durchschnitt zu senken.

Dann aber baut Gehrlein ein widersprüchliches Szenario auf: Erst legt er dar (aaO S. 563 unter IV.) dass es insbesondere bei einem nicht (!) an der Geschäftsführung beteiligten Gesellschafter vorkomme, dass keiner der Insolvenzanfechtungstatbestände greife, zumal bei einem solchen Gesellschafter die subjektiven Voraussetzungen der Anfechtungstatbestände der §§ 130, 131 InsO fehlten. Unmittelbar anschließend meint Gehrlein, dass insbesondere Gesellschaftern einer personalistischen GmbH bei Drittgeschäften überhöhte Vergütungen gewährt würden, da sie dort vielfach „zugleich das Amt des Geschäftsführers bekleiden“ oder mit dem Geschäftsführer in enger Fühlung stehen.

Was stimmt denn nun? Gerade bei demjenigen, der vielleicht unanfechtbar überhöhte Zahlungen kassieren könnte, fehlt es doch nach Gehrleins eigener Aussage regelmäßig an der Nähe zur Geschäftsführung, die es ihm erst ermöglicht, überhöhte Zahlungen durchzusetzen.

4. Unklar: Worum geht es in diesem Beitrag überhaupt?

Es gibt weitere Widersprüchlichkeiten — das eigentliche Thema des Beitrags (oder was ich dafür hielt) handelt Gehrlein nämlich unmittelbar anschließend mit nur einem Satz ab (aaO S. 563 unter IV.):

„Derartige verdeckte Gewinnausschüttungen mindern den aus § 135 III 2 InsO folgenden Entgeltanspruch.“

Und ich dachte, die Berechnung des Durchschnittsentgelts sei gerade der zu problematisierende Gegenstand der Untersuchung. Doch scheint Gehrlein die überhöhten Zahlungen hier selbstverständlich und begründungsfrei für bei dieser Berechnung nicht berücksichtigungsfähig zu halten. Ihm geht es nun um etwas ganz anderes, nämlich wie man vom Gesellschafter die schon vor der Insolvenz bezahlte überhöhte Vergütung zurückerhalten kann. Das kommt im nächsten Satz zum Ausdruck:

„Schwieriger gestaltet sich die Feststellung, ob in der Gestaltung des Nutzungsentgelts eine verdeckte Gewinnausschüttung zu erkennen ist und ob daraus ein Erstattungsanspruch gegen den Gesellschafter folgt.“

Mit der Beschreibung des Untersuchungsgegenstandes des Aufsatzes in der Einleitung auf S. 561

„Der nachfolgende Beitrag befasst sich […] mit der Frage, ob der Gesellschafter die vereinbarte Vergütung nach Maßgabe des § 135 III 2 InsO auch beanspruchen kann, wenn sie überteuert ist und nicht den Marktverhältnissen entspricht.“

ist das nicht vereinbar. Denn da geht es gerade um die Frage, was der Verwalter zahlen muss. Aber das Verwirrspiel ist noch nicht vorbei. Nach langwierigen Erörterungen zur GmbH-rechtlichen Zulässigkeit verdeckter Gewinnausschüttungen aus freiem Vermögen und deren Folgen (soweit das Stammkapital nicht betroffen ist und die anderen Gesellschafter nicht widersprechen, kann der Gesellschafter das Entgelt behalten) kommt Gehrlein unter IV.3. (S. 564 f.) doch wieder darauf zurück, ob man diese gesellschaftsrechtliche Zulässigkeit nun auch für die Durchschnittsberechnung des § 135 III 2 InsO akzeptieren müsse.

5. Ungereimtes zur Schenkungsanfechtung

Lässt man diese Volten beiseite, dann haben wir es jetzt also mit einer überteuerten Nutzungsüberlassung zu tun, die allerdings gesellschaftsrechtlich unter Umständen zulässig ist. Die verdeckte Ausschüttung durch überhöhte Nutzungsentgelte hält Gehrlein nun für (Teil-)Schenkungen (in Höhe der Abweichung vom Marktpreis) und daher für gem. § 134 InsO anfechtbar, gleichviel, ob die Zuwendung gesellschaftsrechtlich erlaubt war oder nicht (S. 565). Denkt man näher darüber nach, sind auch die Ausführungen an dieser Stelle nicht konsequent. Gehrlein behauptet einfach, die in der überteuerten Nutzungsüberlassung liegende verdeckte Gewinnausschüttung sei gesellschaftsrechtlich rechtsgrundlos (da kein Gewinnverwendungsbeschluss vorliegt) und damit unentgeltlich. Aber warum sollte insolvenzrechtlich etwas rückgängig gemacht werden, was gesellschaftsrechtlich eine zulässige Gewinnentnahme darstellt? Nur aus formalen Gründen? So etwas liegt gerade dem wertenden Insolvenzanfechtungsrecht fern. M.E. kommt die Schenkungsanfechtung nur in Betracht, wenn die Gesellschaft materiell im Zeitpunkt der Zuwendung schon insolvenzreif war: (Nur) dann darf die gesellschaftsrechtliche Zulässigkeit keine Rolle spielen, weil sie auf die Handelsbilanz abstellt und nicht auf Liquidationswerte.

6. Anfechtung gem. § 132 InsO nach Gesellschafterkündigung?

Das Beste aber kommt noch: Gehrlein wendet sich nun der zweiten eingangs genannten Frage zu:  Gesellschafter und GmbH könnten versuchen, die Rechtsfolgen des § 135 III InsO auszuschalten, indem sie das Nutzungsverhältnis vorzeitig beenden und den überlassenen Gegenstand an den Gesellschafter zurückgeben. Diese zweite Konstellation dürfte praktisch deutlich relevanter sein. Denn sie liegt gerade dann nahe, wenn die Nutzungsüberlassung an die GmbH zu billig anstatt zu teuer erfolgte. Gehrlein fragt, ob durch vorzeitige Beendigung das Nutzungsrecht des Insolvenzverwalters gem. § 135 III InsO praktisch ausgeschaltet werden kann. Bei einer Beteiligung seitens der GmbH scheint die Beendigung – da im Zweifel vorsätzlich – zwar unproblematisch zur Anfechtung durch den Insolvenzverwalter (z.B. nach § 133 und § 134 InsO) zu führen und insoweit wieder rückgängig gemacht werden zu können.

Aber was geschieht, wenn die Beendigung allein auf einer Kündigung des Gesellschafters beruht? Dann fehlt es nämlich an der erforderlichen Rechtshandlung des Schuldners. Allerdings, so Gehrlein, könne nun § 132 InsO helfen (S. 566). Wie das, frage ich mich? § 132 InsO setzt doch ebenso wie § 133 und § 134 InsO eine Rechtshandlung des Schuldners (im Falle des § 132 InsO eben ein Rechtsgeschäft) voraus. Die Lösung des Problems kann also nicht in § 132 InsO liegen und man fragt sich, wie einem Mitglied des IX. Senats ein derartiges Missverständnis unterlaufen kann.

7. Anfechten oder nicht anfechten, das ist hier die Frage

Gehrlein geht aber noch weiter und kommt erneut auf die Treuepflicht zu sprechen. Diese könne es geradezu gebieten, dass der Gesellschafter auf eine Kündigung nebst Verlangen der Herausgabe des Gegenstands verzichtet. Tue er dies doch, so müsse er, falls die Kündigung (analog § 135 I Nr. 2 InsO) innerhalb eines Jahres vor der Insolvenz erfolgt sei, das Nutzungsrecht wiedereinräumen (aaO S. 566).

Dagegen spricht selbstverständlich auch hier erstens, dass der Alleingesellschafter der GmbH keine Treue schuldet (siehe schon oben 2). Aber selbst wenn man davon absähe: der Gesetzgeber hat doch zweitens in § 30 Abs. 1 S. 3 GmbHG mit dem MoMiG sehr deutlich gemacht, dass gerade Gesellschafterleistungen stets zurückgezahlt werden dürfen und es kein Rückzahlungsverbot mehr geben soll. Diese Wertung darf nicht mit einer angeblichen Treuepflicht konterkariert werden.

Und schließlich: Wenn der Gesellschafter das Nutzungsrecht wiedereinräumen müsste, so wäre diese Rechtsfolge letztlich identisch mit einer Anfechtung der Beendigung nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO, eine Rechtsfolge, die nach der Auffassung Gehrleins wegen der eindeutigen Entscheidung des Gesetzgebers doch gerade nicht in Frage kommt (aaO. 565 unter IV 1 b):

„Bei vorzeitiger Rückgabe des Gegenstandes ist für eine Anfechtung nach § 135 Abs. 1 InsO kein Raum, weil die tatbestandlichen Voraussetzungen der Vorschrift nicht erfüllt sind. Die Nutzungsüberlassung kann nicht als eine einem Darlehen entsprechende Rechtshandlung gewertet werden. Denn der Gesetzgeber hat ausdrücklich klargestellt, dass eine Nutzungsüberlassung nicht einer Darlehensgewährung gleichsteht […]. Insoweit ist § 135 Abs. 3 InsO ebenfalls nicht einschlägig, weil er kein Anfechtungsrecht vorsieht […].“

Fazit: Insgesamt enthält der Beitrag so viele Ungereimtheiten, dass man sich wünschte, er wäre nicht von Gehrlein verfasst worden.

No Brexit oder: Das Ende der Nationalstaaten

30. Juni 2016

 

von Ulrich Wackerbarth

 

EUJaja, ich weiß: Schuster, bleib bei Deinen Leisten. Aber nach dem Ausgang des Brexit-Referendums (51,8% für Austritt bei 72 % Wahlbeteiligung) kann ich einfach nicht zur Tagesordnung übergehen. Mich treiben Fragen nach der Zukunft der EU um, die ich in erster Linie für mich selbst in eine Skizze zur Orientierung gebracht habe. Was lehrt uns das Ergebnis des britischen Referendums und wie sind die seit Freitag stattfindenden Diskussionen einzuordnen? Welche Auswirkungen hat die Abstimmung auf das Verhältnis der EU zu ihren Mitgliedsstaaten, wass sollte sich ändern?

I. You can’t have your cake and eat it, too

Die nachteiligen Konsequenzen des Brexit-Votums für das Vereinigte Königreich werden sehr deutlich und sehr klar sein und sie werden schneller kommen als eventuelle Vorteile eines Austritts für die Engländer.

Hier nur eine kleine Auslese von Nachteilen, die ich in den Zeitungen gesammelt habe und die mir nachvollziehbar erscheinen.

  • Es wird keine von der EU geförderten Projekte in England mehr geben
  • Es wird Zölle geben und die Steuern werden steigen
  • England verliert seinen Einfluss auf die EU-Gesetzgebung
  • Das Pfund sinkt, der Import wird für England teurer
  • Insgesamt werden die Lebenshaltungskosten deshalb deutlich steigen
  • Es wird zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit kommen
  • Das europäische Finanzzentrum wird sich von London nach Frankfurt verlagern
  • Es wird Streit über die englische Ratspräsidentschaft in 2017 geben
  • Die Schotten werden Großbritannien verlassen
  • Der Airbus wird künftig vielleicht nicht mehr in England gebaut werden
  • Englisch wird keine EU-Amtssprache mehr sein

Die Liste ließe sich fortsetzen. Demgegenüber scheinen mir nur sehr wenige Vorteile zu stehen, die zudem auch teils nur scheinbar existieren:

  • Es wird keine Mitgliedsbeiträge Englands mehr geben.
  • England kann den Zuzug von EU-Ausländern selbst regeln (keine Freizügigkeit)
  • England kann wieder seine eigenen Gesetze machen.
  • England muss keine Flüchtlinge mehr aufnehmen.
  • Die Mieten in London werden wieder erschwinglicher.

Die drei erstgenannten Vorteile gäbe es freilich nur dann, wenn das Vereinigte Königreich auf die Teilnahme am Binnenmarkt verzichtet. Das aber ist gerade nicht gewollt. Auch die Befürworter eines Brexit wollen weiter Zugang zum Gemeinsamen Markt. Dann allerdings gelten auch die 4 Grundfreiheiten der EU  einschließlich der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Ähnliches gilt für die Möglichkeit eigener Gesetze: Selbst wenn Großbritannien nur auf den Status eines EFTA-Mitglieds zurückfiele und nur am EWR teilnähme, gälte EU-Recht in ganz erheblichen Umfang und mit den zentralen Regeln weiter im Vereinigten Königreich. Schon die Liste, die nur die einschlägigen Rechtsakte aufzählt (nicht ihren Inhalt!), ist 900 Seiten lang (Register 2016 zur EWR-Rechtssammlung). Und Mitgliedsbeiträge müssen auch bezahlt werden, z.B. in dem Modell, das Norwegen gewählt hat, 4 Mrd. Euro statt bisher 5 Mrd. (siehe hier). Es wird also nichts mit den 390 Millionen Euro, die Nigel Farage  und Boris Johnson ihren Landsleuten jede Woche (!) an zusätzlichen Mitteln für das Gesundheitswesen versprochen haben, die angeblich nach dem Brexit frei würden.

In jedem Fall gilt für die Brexit-Anhänger: You cannot have it both ways

II. No Brexit oder: Das Ende der Nationalstaaten in Europa

1. Kein Brexit und keine Rückkehr in die Vergangenheit

Diese eindeutig erschreckende wirtschaftliche Bilanz (es wird viel zu teuer) und die politische Bilanz (es kommt zu einem Auseinanderbrechen Großbritanniens siehe Schottland, Nordirland, London) werden im Ergebnis den Brexit verhindern – ob nun über ein zweites Referendum, ausgelöst durch die Schotten, über eine anderslautende parlamentarische Entscheidung oder über eine Neuwahl; im äußersten Fall über eine weitgehende Assoziierung des United Kingdom mit der EU, bei der sich dann alle fragen, ob nun überhaupt eine Entscheidung gefallen ist und welche.

In jedem Falle gilt: Eine Rückkehr zu einem System von Nationalstaaten, wie es in Europa vor dem Ersten Weltkrieg bestand, ist praktisch nicht mehr relevant. Selbst Norwegen und die Schweiz können sich der EU im praktischen Ergebnis nicht gänzlich entziehen (EFTA).

2. Das Mißtrauensvotum gegen die EU

Freilich heißt das nicht, dass in der EU nun alles in Ordnung ist, man auf dem eingeschlagenen Weg einer fortwährenden Vertiefung einfach weiter voranschreiten könnte und die großartigen Errungenschaften der Union nur den Alten oder Dummen besser vermittelt werden müssten. In der Abstimmung äußert sich vielmehr ein erhebliches Mißtrauen gegen die EU bei ungefähr der Hälfte der Bevölkerung Großbritanniens. Das kann man nicht einfach ignorieren, auch wenn die Kanzlerin erklärt hat, der Vertrag von Lissabon sei eine ausreichende Grundlage. Angesichts des Ergebnisses des Referendums änderte selbst ein unveränderter Verbleib Großbritanniens in der EU nichts an dieser Unzufriedenheit und damit an der Bürgerkriegsgefahr innerhalb Großbritanniens. Und es gibt nicht nur in England nicht Wenige, die mit der EU, so wie sie derzeit ist, aus rationalen und/oder irrationalen Gründen nicht einverstanden sind. Davon legt nicht nur das vorläufige Scheitern der Ratifizierung des Vertrags von Lissabon in Irland Zeugnis ab. Schlechte Kommunikation der Vorteile der EU ist sicher ein Problem der EU – aber bestimmt nicht das Einzige.

Man sollte die berechtigten Sorgen und Nöte der Menschen (nicht aber ihren allfälligen Fremdenhass ernst nehmen (siehe noch unten IV.). Dann aber muss die EU reformiert werden und ein neues System gefunden werden, das kulturelle Identitäten nicht zugunsten einer letztlich nicht vorhandenen „EU-Identität“ aufgibt, sondern wahrt.

3. Keine „United States of Europe“

Manche denken nur an den Superstaat EU und wollen eine ständige Vertiefung und Erweiterung der Union bis hin zu den „United States of Europe“. Auch bei ihnen spielen Ängste eine Rolle, in erster Linie die Angst vor weiteren Kriegen in Europa. Die Vergangenheit und insbesondere die gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden zu einer Europäischen Verfassung, die am Ende zum Vertrag von Lissabon geführt haben, haben allerdings gezeigt, dass ein EU-Superstaat nach dem Vorbild der USA nicht nur in England unerwünscht ist. Man hat es doch immer wieder versucht ? und jedes Mal gibt es einen Rücksetzer. Das ist kein Zufall und das sind auch nicht Rückschläge auf einem vorgezeigten Weg zu einem EU-Nationalstaat. Die „USE“ passten letztlich nicht zur Geschichte Europas.

Um gleichwohl zu einem föderalen EU-Staat zu gelangen, genügt auch nicht der Hinweis auf das sog. Subsidiaritätsprinzip. Nach diesem Grundsatz dürfte auf EU-Ebene nur dann etwas geregelt werden, wenn es für das Funktionieren der EU unerlässlich ist, ansonsten aber verbleiben alle Zuständigkeiten bei den einzelnen Mitgliedstaaten. Dieses Prinzip hat in Europa noch nie funktioniert und wurde gar als unselige deutsche Dogmatik gebrandmarkt. Jeder will mehr Nähe zu den Bürgern – aber wie geht das nachvollziehbar und funktional, ohne sich in Details zu verstricken? Selbst innerhalb Deutschlands hat sich der Bund schon als Krake erwiesen, die trotz eines ähnlichen Ausgangspunktes alles an sich gezogen hat. Da fragt man sich, warum das innerhalb der EU besser funktionieren sollte.

Es gibt weitere Anzeichen dafür, dass die „USE“ nicht einmal auf lange Sicht die Lösung aller Probleme wären. Die deutsche Kleinstaaterei ist nicht einmal in Deutschland überwunden (siehe Bayern) – warum sollte das gegenseitige Ausspielen der einzelnen Mitgliedsstaaten in der noch mehr von unterschiedlichen Eigeninteressen der Mitglieder geprägten EU besser funktionieren als bei uns?

Schon innerhalb der Mitgliedsstaaten gibt es Abspaltungstendenzen (Großbritannien – Schottland, Spanien – Katalonien, Italien – Südtirol, um nur einige zu nennen, die Liste ist lang). Ein EU-Nationalstaat verringerte diese Tendenzen keinesfalls. Je weiter die EU vertieft wird, desto eher käme es künftig zu Abstimmungen wie der in Großbritannien mit zweifelhaften Mehrheiten (Stichworte: NExit, Frexit, Italeave).  Und blickt man nur ein wenig über den EU-(Teller)Rand hinaus, so schaffte ein EU-Staat, selbst wenn er funktionieren sollte, doch nur künftige, größere Probleme mit Rußland, Afrika oder Asien.

4. Aber auch kein Zurück

Umgekehrt kann die Zukunft der EU nicht darin liegen, die bisherigen Integrationsschritte einfach rückgängig zu machen und Kompetenzen an die Mitgliedstaaten zurückzugeben. Das wäre nur im Sinne einer die Desintegration Europas betreibenden AfD oder einer ebenso rückwärtsgewandten Alfa. Die generelle Rückverlagerung von Kompetenzen in die nationalen Parlamente ist nicht weniger nationalistisch als der Versuch, zu einem EU-Superstaat zu gelangen. Dass darin eben keine Vision für Europa liegen kann, meine ich, wenn ich vom „Ende der (=aller) Nationalstaaten“ spreche.

III. Die Aufgabe

Ist vor diesem Hintergrund eine Weiterentwicklung der EU überhaupt möglich? Wie kann eine EU funktionieren,

– die den Menschen ihre Identität nicht nimmt und ihnen das Gefühl lässt, die Kontrolle über ihr Leben zu behalten,

– und die zugleich die Vision einer weiteren Vertiefung nicht völlig aus den Augen verliert?

Um diese Fragen zu beantworten, sollte man sich zunächst vor Augen führen, was die zentralen Kritikpunkte an der derzeitigen EU sind.

Weiter geht der Beitrag mit

IV. Einige zentrale Schwächen der EU

V. Prinzipien einer Neuorientierung

VI. Die flexible Union: Ein- und Austritt zu verschiedenen Bereichen der EU

VII. Eine unflexible Notwendigkeit: Die EU-Amtssprache

Licht und Schatten – Delisting aus der Perspektive der ökonomischen Analyse des Rechts

31. Mai 2016

von Ulrich Wackerbarth

 

IMG_20160514_205150Alexander Morell hat in der ZBB 2016, 67 – 88 eine grundlegende ökonomische Analyse der Konfliktlage bei einem beabsichtigten Delisting geliefert, die in vielfacher Hinsicht stimmig ist. Der Artikel mit dem Titel „Gefahr erkannt – Gefahr gebannt? Ist eine Abfindung beim regulären Delisting aus Effizienzsicht überhaupt geboten?“ ist schon deshalb lesenswert, weil er in sehr knapper, aber verständlicher Form die Grundansätze der „law and economics“ – Bewegung und ihrer wichtigsten Vertreter darstellt und sie auf das Delisting überträgt. Vom Coase-Theorem über den Akerlofschen Zitronenmarkt bis hin zur rationalen Apathie der Investoren ist fast alles dabei, was in diesem Bereich überhaupt eine Rolle spielt. Leider werden auch einige Thesen der sog. „Chicago School“ wiederholt, die ich für zentrale Irrtümer der ökonomischen Analyse des Rechts (ÖAR) halte.

Zunächst zu den stimmigen Aussagen

1. Sondervorteil des Großaktionärs

Morell legt abstrakt aber detailliert die Vor- und Nachteile eines Delistings aus Sicht des in Deutschland allgegenwärtigen Ankeraktionärs (Haupaktionär, Großaktionär) und der konfligierenden Sicht der Anlegeraktionäre (außenstehenden Aktionäre) dar. Zu Recht zeigt er auf, dass und wie beide Gruppen ungleich von einem Delisting betroffen sind (aaO. S. 70 – 72).

Z.B. betrifft der mit einem Delisting verbundene Verlust von Marktliquidität vor allem die Inhaber kleinerer Aktienpakete. Oder die mit dem Börsenrückzug verbundene verringerte Publizität und Transparenz erleichtern es dem Hauptaktionär, nunmehr unbeobachtet gewinnverlagernde Transaktionen vorzunehmen und sich private Vorteile zu sichern, er profitiert also vom „going dark“. Schließlich verteuert der Börsenrückzug naturgemäß die Erlangung von Informationen über das Unternehmen – aber nur für die außenstehenden Aktionäre, nicht für den typischerweise im engen Kontakt zum Vorstand stehenden Großaktionär. Dieser hat genügend andere Informationsquellen braucht die Börsenpublizität daher nicht.

Ähnliche Überlegungen haben mich 2012 veranlasst, ein voraussetzungsloses Delisting als mit Sondervorteilen für den Großaktionär verbunden anzusehen und daher an § 243 AktG zu messen. Der BGH ist dem bekanntlich nicht gefolgt, ohne sich ernsthaft damit auseinanderzusetzen. Wie der Beitrag von Morell zeigt, verschwinden Argumente aber nicht durch ihre Missachtung.

2. Informationsasymmetrien und Kollektivhandlungsprobleme

Zuzustimmen ist Morell darin, dass diese Probleme auch nicht so einfach durch Verhandlungen zwischen dem Großaktionär und den außenstehenden Aktionären zu beseitigen sind (aaO. S. 74 – 76). Zwar wäre solches in einer idealen Welt ohne Transaktionskosten einfach möglich (sog. Coase Theorem), aber nicht in der realen Welt mit Informationsasymmetrien zwischen den beiden Aktionärsgruppen. Diese Asymmetrien führen zu spieltheoretischen Überlegungen, mit denen Morell zeigt, dass eine effiziente Verhandlungslösung praktisch unmöglich ist (aaO., S. 74 f.). Das daneben bestehende Kollektivhandlungsproblem weist darauf hin, dass Investoren Einzelkämpfer sind und daher – anders als der Hauptaktionär – unüberwindbaren Koordinationsproblemen unterliegen. Auch lohnt es sich für sie angesichts des vergleichsweise geringen Werts ihrer individuellen Investition nicht, in die Informationsbeschaffung Zeit und Geld zu investieren, sie warten ab und profitieren lieber von denjenigen, die es trotzdem tun (Trittbrettfahrer, rationale Apathie). Auch dies verhindert die angezeigten Verhandlungen mit dem Hauptaktionär über die Verteilung von Vor- und Nachteilen aus einem Delisting – einfach weil die übrigen Aktionäre nicht mit einer informierten Stimme sprechen. Das Recht muss also helfen.

3. Keine Abfindungslösung bei Unternehmen im Streubesitz

Im Ergebnis plädiert Morell (nach berechtigter Kritik an den bislang vorliegenden empirischen Untersuchungen zum Delisting (siehe auch hier) auf den S. 76 – 81) weitgehend für die (nun in § 39 BörsG nur mit deutlichen Abstrichen umgesetzte) Abfindungslösung. Er erwägt aber eine Ausnahme für solche Unternehmen, die sich weitgehend im Streubesitz befinden (= der größte Aktionär hält nicht mehr als 10 % der Stimmrechte). Das trifft offenbar auf ca 20% der Unternehmen zu, die im Prime Standard gelistet sind (aaO. S. 85).

Diese Ausnahme ist bedenkenswert, sie könnte Sanierungen erleichtern. Wenn es nicht um den Konflikt zwischen Mehrheit und Minderheit geht und niemand da ist, der die anderen auskaufen könnte, sollte ein Delisting in der Tat möglich bleiben – allerdings würde ich auch in diesen Fällen nicht dem Vorstand allein eine solch weitreichende Entscheidung überantworten. Vielmehr sollte dann eine einfache Hauptversammlungsmehrheit ohne Abfindungspflicht erforderlich sein, aber auch genügen; das erwägt Morell leider nicht.

 

Und jetzt zu den erwähnten Irrtümern der der ÖAR (aus meiner Sicht)

4. Die Todsünde des Gesellschaftsrechts

Die schon erwähnte Entnahme privater Vorteile durch den Hauptaktionär könnten aus Sicht der ÖAR möglicherweise dadurch gerechtfertigt sein, dass der Hauptaktionär das Management überwache und seine diesbezügliche Übersicht ja auch den übrigen Aktionären zugutekomme (aaO. S. 72 in Fn. 53, Morell macht sich dieses Argument nicht zueigen, lehnt es aber auch nicht ab).

Dieses Pseudo-Kompensations-Argument der ÖAR übergeht den geschlossenen Gesellschaftsvertrag. Dort sind dem Hauptaktionär solche privaten Vorteile gerade nicht versprochen. Der Hauptaktionär leistet auch letztlich nichts zugunsten der anderen Aktionäre. Seine Übersicht übt er im eigenen Interesse aus, sie kommt den übrigen Aktionären allenfalls als Reflex zugute. Umgekehrt leisten sie etwas für ihn, denn er hat offensichtlich nicht genügend Geld, um das Unternehmen selbst – ohne die außenstehenden Aktionäre – zu finanzieren (sonst gehörte es ja ihm allein).

Derartige Leistungs- und Gegenleistungsüberlegungen gehen im Übrigen aber auch an einer ganz einfachen Tatsache vorbei: Eine Kompensation für etwaige Übersichtstätigkeit des Hauptaktionärs könnte in Form eines Gewinnvorzugs für ihn ganz einfach vereinbart werden. Dann wüssten alle, worauf sie sich einlassen. Das Vereinnahmen privater Vorteile ohne vorherige ausdrückliche Vereinbarung ist demzufolge nur ein Verstoß gegen den Gesellschaftsvertrag und kann damit keine guten Seiten haben. Vielmehr führt schon die durch derartige Argumente der ÖAR genährte bloße Befürchtung, dass solche Vorteile tatsächlich bestehen und zum Großaktionär fließen, zur Abwertung der Aktien.

5. Diversifikation rechtfertigt keine schlechten Verteilungsregeln

Insbesondere Easterbrook und Fischel als berühmte Vertreter der Chicago Law School haben bereits Anfang der 80er Jahre in mehreren Aufsätzen vorgetragen, Aktionäre seien notwendig diversifiziert und würden daher ex ante solche Regeln bevorzugen, die ihnen nicht notwendig im Einzelfall, sondern bloß im Durchschnitt helfen. Deshalb komme es nicht auf eine zutreffende Verteilung von Vorteilen im Einzelfall an, entscheidend sei die Wohlfahrtsmaximierung der Aktionäre im Durchschnitt. Dies wiederholt Morell schon ganz am Anfang seiner Untersuchung (S. 68 f.). An dieser Überlegung hat mich schon immer gestört, dass hier eine möglicherweise schlechte Verteilung im Einzelfall damit gerechtfertigt werden soll, dass man bei mehrfacher Spiel-Teilnahme das eine Mal auf der Gewinnerseite, ein anderes Mal auf der Verliererseite stehe. Die damit verbundene Loslösung vom Einzelfall erweckt kein Vertrauen.

Das Diversifikationsargument läuft auf eine Bestrafung derjenigen außenstehenden Investoren hinaus, die nicht diversifiziert sind. Wenn man jedoch von einer auch nur eingeschränkten Treuepflicht jedes auch noch so kleinen Aktionärs ausgeht (siehe den berühmten Girmes-Fall), so darf man nicht diejenigen Aktionäre schlecht behandeln, die sich besonders treu verhalten und ihr verfügbares Investment-Vermögen nur in einer Gesellschaft anlegen. Daran ändert es nichts, dass aus ökonomischer Sicht des einzelnen Anlegers alles für ein diversifiziertes Portfolio spricht. Denn ob fehlende Diversifikation aus gesamtwirtschaftlicher Sicht tatsächlich ineffizient ist, ist meines Wissens noch ungeklärt. Im Übrigen wird mit diesem Argument der Aktionär zum reinen Anleger degradiert und das geht an der Tatsache vorbei, dass ihm oder ihr neben dem Dividendenrecht auch Verwaltungsrechte zustehen. Es werden nun einmal nicht nur Vorzugsaktien an der Börse gehandelt.

Takeover-Wars, Episode IV – A New Hope oder: Hier bekleckert sich die BAFin nicht mit Ruhm

15. April 2016

von Ulrich Wackerbarth

 

TakeoverwarsLuke Skywalker wäre entsetzt: Da hatte doch die Republik, bedroht von den Machenschaften der Handelsföderation, den neu gegründeten Bladerunner-Ausschuß für Finanzverbrecher (BAFin) gebeten, Luke in seinem Kampf für ein faires Übernahmerecht zu unterstützen und die Replikanten unter den Bietern gnadenlos aufzuspüren und zu bestrafen. Doch einer der Bladerunner, die doch eigentlich im Interesse eines funktionierenden Kapitalmarktes Umgehungen des WpÜG verhindern sollen, scheint gerade auf dem Weg zur dunklen Seite der Macht zu sein.

1. A New Hope

Was ist geschehen? Bekanntlich verlangt das WpÜG vom Bieter, den Aktionären der Zielgesellschaft u.a. mindestens den höchsten Preis für ihre Aktien zu zahlen, den er selbst in bestimmten zeitlichen Grenzen vor und nach dem Übernahmeangebot anderen für den Erwerb der Aktien gezahlt hat. Und in der Umgehungsschutzvorschrift des § 31 Abs. 6 stellt das WpÜG dem dinglichen Erwerben solche schuldrechtliche Vereinbarungen gleich, aufgrund derer die Übereignung von Wertpapieren nur verlangt werden kann. Der BGH hat sich in seiner hier kritisierten Entscheidung als „dunkle Bedrohung“ des WpÜG erwiesen und diese Grundregel des WpÜG praktisch beseitigt. Dem wirft sich in einer aktuellen Entscheidung das OLG Frankfurt nach Jedi-Art entgegen und hat in seinem Beschluss begründet, warum das Wort Vereinbarung in § 31 Abs. 6 WpÜG entgegen der Vorinstanz weit zu verstehen ist. Darunter sollen unter bestimmten Bedingungen auch Vereinbarungen über den Erwerb von Wandelanleihen fallen, wenn sie letztlich zu einem Aktienerwerb durch den Bieter führen.

Diese Entscheidung wird zwar wahrscheinlich vom II. Senat (anhängig unter II ZR 37/16) wieder aufgehoben, dem der Schutz der Aktionäre der Zielgesellschaft nicht am Herzen liegt, doch immerhin begründet die Entscheidung die Hoffnung, dass irgendwann einmal eine Umkehr in der kapitalmarktfeindlichen höchstrichterlichen Rechtsprechung stattfinden könnte.

2. Von Wortlaut, Zeiten und Äonen

In seiner Anmerkung zur Entscheidung des OLG Frankfurt (jurisPR-HaGesR 3/2016 Anm. 1) schreibt nun Oberregierungsrat Michael Hippeli, Mitarbeiter der BAFin, entgegen dem OLG habe das LG Frankfurt als Vorinstanz mit seinem engen Verständnis des § 31 Abs. 6 WpÜG Recht. Die Norm meine nur Verträge, die einer Seite einen unmittelbaren Übereignungsanspruch verschaffen. Was er zur Begründung schreibt, erinnert mich sehr an die Märchen von George Lucas: Es sei nämlich nicht zufällig das WpÜG im gleichen Jahr wie die Schuldrechtsreform in Kraft getreten. Auch wenn der Wortlaut von § 433 BGB und § 31 Abs. 6 WpÜG voneinander abwichen, müsse man wegen der Zeitidentität ihres Inkrafttretens gleichwohl den Text des § 31 Abs. 6 WpÜG genauso verstehen wie den des § 433 Abs. 1 BGB. Wörtlich:

„Zwar ist der Wortlaut „durch den Kaufvertrag“ nicht völlig identisch mit „Vereinbarung, aufgrund derer“, allerdings spricht schon die zeitliche Nähe der Schaffung des WpÜG und der zur Umgestaltung auch des § 433 BGB führenden Schuldrechtsmodernisierung dafür, dass eine gewisse Bezugnahme aufeinander nicht von der Hand zu weisen sein dürfte.“

Hallo? Habe ich mich verlesen? Was an dem Wortlaut der beiden Normen ist, wenn schon nicht völlig, so doch offenbar mindestens annähernd identisch? Richtig: Nichts. Überhaupt nichts. Die beiden Gesetze stimmen in keinem Wort (nicht in einem einzigen!) überein. Und: zwar hat die Schuldrechtsreform alles Mögliche geändert, doch gerade nicht geändert hat sie eben den Wortlaut des Satzes im BGB, auf den Hippeli sich bezieht. Er ist seit über 100 Jahren identisch. Nur wenn man in größeren Zeiträumen, also etwa in Jahrtausenden oder Jahrmillionen denkt, kann man hier eine zeitliche Nähe konstruieren. Man möchte die Hände über dem Kopf zusammenschlagen: Wenn das die Argumente sind, die künftig von den Wächtern über unseren Kapitalmarkt zu hören sind, dann kann man nur noch auf den „Return of the Jedi“ hoffen.

3. Hä, hä, ätschibätsch!

Zum Schluss legt Hippeli noch dar, welche praktischen Grenzen die Entscheidung des OLG Frankfurt hat. Zum einen kann der Bieter natürlich die vom BGH zu Unrecht eröffnete Möglichkeit der zeitlichen Streckung von Wandelanleihekauf und Wandlung nutzen und so die Preisrelevanz der Vereinbarung verhindern. Zum anderen weist Hippeli darauf hin, dass die Entscheidung des OLG nicht inter omnes wirke und schon gar nicht für die Aktionäre, die das Angebot nicht angenommen haben. Wer also profitieren wolle, müsse das falsch bepreiste Angebot annehmen, was riskant sei, da „regelmäßig nicht bekannt sein dürfte, was die Bieterin für gekaufte Wandelanleihen bezahlt hat“.

Man möchte diese Ausführungen am liebsten noch um ein „hä, hä“ ergänzen. Kein Wort dazu, dass die BAFin die Offenlegung des Wandelanleihekaufs verlangen kann. Keine Überlegungen dazu, ob hier vielleicht eine analoge Anwendung des Andienungsrechts nach § 39c WpÜG oder eine Wiedereröffnung der Annahmefrist durch die BAFin oder eine Haftung des Bieters nach § 826 BGB in Betracht kommt. Mir scheint, hier sei insgesamt eine recht einseitige Anmerkung durch einen Mitarbeiter der BAFin geschrieben worden, die, persönliche Meinungsäußerung hin oder her, nicht gerade auf Neutralität der BAFin in Übernahmeangelegenheiten schließen lässt.

Eins, zwei, drei. Immer schön im Ringelreih.

30. November 2015

von Ulrich Wackerbarth

DreipersonenDreipersonen-Verhältnisse eignen sich nicht zum Bloggen, ich versuche es trotzdem. Schließlich geht es um Geld, das interessiert vielleicht. Wenn man es ausgibt, dann manchmal über eine Bank per Überweisung. Hier sollte knapp die Hälfte einer Rechnung (5.000 von 11.900 Euro) überwiesen werden, mehr nicht. Am Schluss aber erhielt der Empfänger doch (fast) alles. Und das kam so: Nach dem Auftrag, den der Zahler dem Empfänger durch die Bank auch noch ankündigen ließ, stellte irgendjemand fest, dass Kontonummer und Name des Empfängers nicht übereinstimmten. Also keine Überweisung, sondern Anruf beim Bankkunden (Zahler). Der sagte: „Storniert das mal, ich überweise selbst“. Damit war die Bank einverstanden. Womit der Zahler, der daraufhin den Betrag von 5.000 € online selbst überwies, nicht rechnete: der Empfänger, der ja schon wusste, dass das Geld auf dem Weg zu ihm war, rief bei der Bank an und fragte, wo die Überweisung bleibe. Die (über das Storno nicht informierte) Beraterin am Telefon: „Oh, das ist ein Versehen, das ist irgendwie bei uns hängen geblieben, ich überweise es ihnen gleich.“ Und so war der Betrag von 5.000 Euro im Ergebnis dann doch zweimal zum Empfänger gelangt.

Nun sagt aber § 675u BGB: Die Bank darf ihrem Bankkunden die 5.000 Euro nicht belasten, da der Zahlungsvorgang von ihm „nicht autorisiert“ war. Ergo klagte die Bank auf Rückzahlung gegen den Empfänger. Und der sagte: Nö, es ist doch alles in Ordnung, ich hatte ja sogar 11.900 Euro zu bekommen, ihr kriegt nichts zurück. Und im Übrigen sah es für mich doch so aus, als hätte mein Schuldner, Euer Bankkunde, gezahlt.

Tja, diesen Einwand ließ der BGH nun, anders als früher, nicht mehr gelten. Der Empfänger müsse der Bank die 5.000 Euro zurückgeben, da ihm gegenüber gerade keine Leistung des Bankkunden anzunehmen sei. § 675u schließe die Annahme einer Leistung aus, wenn ein nicht autorisierter Zahlungsvorgang vorliege und das sei hier der Fall. Ergo sei der Empfänger im Verhältnis zum Bankkunden so zu behandeln, als sei nicht bezahlt (den muss er dann halt auf Zahlung verklagen); der Bank aber müsse er den irrtümlich gezahlten Betrag erstatten (§ 812 BGB). Wie zu erwarten war, hat das Urteil in der Literatur ein „geteiltes“ Echo erfahren. Die einen finden das Ergebnis gut, die Begründung aber schlecht ( z.B. Jansen, JZ 2015, 952; Lorenz, LMK 2015, 373997), weitere begrüßen Ergebnis und Begründung (Wösthoff, BB 2015, 2068; Foerster, BKR 2015, 470, 471), wieder andere weder das eine noch das andere (so wohl Kiehnle, NJW 2015 3095 f.; sehr enttäuscht Omlor, EWiR 2015, 595 f.). Ich gehöre eher zu den Letzteren.

1. Was besagt § 675u BGB?

Die einen (etwa Wösthoff, BB 2015, 2068; Foerster, BKR 2015, 470, 471) meinen mit dem BGH: § 675u BGB schließt alle Ansprüche der Bank gegen ihren Kunden aus, wenn der Zahlungsvorgang wie hier „nicht autorisiert“ im Sinne des § 675j BGB war, also auch Bereicherungsansprüche der Bank. Dann kann sie im Ergebnis natürlich nur gegen den Empfänger vorgehen.

Die anderen (etwa Omlor, EWiR 2015, 595 f.; vgl. auch Jansen, JZ 2015, 952, 954; tendenziell auch Lorenz, LMK 2015, 373997) meinen auch nach der Entscheidung des BGH: § 675u BGB schließt lediglich einen Aufwendungsersatzanspruch aus, d.h. einen schuldvertraglichen Anspruch, während bereicherungsrechtliche Ansprüche von dieser Norm – die auf die Umsetzung der Zahlungsdiensterichtlinie zurückgeht – unangetastet blieben.

2. Wie ist nach beiden Ansichten rückabzuwickeln?

Der zentrale Unterschied zwischen beiden Lagern liegt nicht etwa in der Frage, wer am Ende gegen wen klagt, sondern mehr darin, was vorgetragen werden muss, um die Klage zu gewinnen.

Nach den Vertretern der h.M. muss die Bank hier nur sagen: wir waren zur Überweisung nicht autorisiert und haben uns geirrt – und schon kriegt sie ihr Geld vom Zahlungsempfänger zurück, der sich allenfalls noch auf § 818 Abs. 3 BGB berufen könnte. Nach der Mindermeinung hätte die Bank hingegen nur die Möglichkeit, aus dem abgetretenen Recht ihres Bankkunden gegen den Empfänger vorzugehen (Kondiktion der Kondiktion). Sie müsste deshalb

– erstens einmal sich eine Rückzahlungsforderung des Kunden gegen den Empfänger abtreten lassen

– und zweitens dann dem Empfänger gegenüber geltend machen, dieser habe keinen Anspruch auf das erhaltene Geld und habe es daher zurückzuzahlen.

Nach der Mindermeinung könnte die Bank also nur fremdes Recht, nämlich das ihres Kunden geltend machen. Die Vertragsbeziehungen blieben in diesem Falle gewahrt und würden nicht durch eine Direktkondiktion durchbrochen. Die Bank müsste viel mehr vortragen als bloß: „wir haben uns geirrt“, sie müsste letztlich anstelle ihres Kunden die Auseinandersetzung im Valutaverhältnis führen. Für die Bank ist das natürlich wenig angenehm, vor allem, wenn ihr Kunde schon seine eventuellen Ansprüche gegen den Empfänger nicht abtreten will. Dann muss sie ihn nämlich zuvor auch noch auf Abtretung verklagen. Aber schließlich hat sie den Fehler ja auch verursacht, da ist Mitleid nicht angebracht.

3. Wie geht der Ringelreih dann weiter?

Nach der Mindermeinung ist die Angelegenheit für die Bank nach der Klage aus abgetretenem Recht nur dann vorbei, wenn die Bank ihr Geld zurück erhält. Dann dürfte auch im Verhältnis zwischen Empfänger und Bankkunde geklärt sein, dass die Zahlung eben nicht geschuldet war, der Spuk ist vorbei. Verliert die Bank jedoch und erhält ihr Geld nicht zurück, weil der Empfänger im Verhältnis zum Bankkunden das Geld behalten darf, ist guter Rat teuer. Es kann ja nicht  sein, dass der Ringelreih nun vorbei ist und die Bank als weinender Dritter dasteht, die Vertragshelfer für Zahler und Empfänger gespielt hat. Das Geld muss vom Zahler zur Bank, auch wenn § 675u BGB das noch so sehr ausschließen will.

Nach der Mimei hat die Bank in diesem Falle einen weiteren Anspruch gegen ihren Kunden, nämlich wiederum den aus Leistungskondiktion, da sie mit ihrer Zahlung ja auch im Deckungsverhältnis an ihren Kunden leistete. Nachdem feststeht, dass der Kunde im Valutaverhältnis zahlen musste, hat er den Wert der erlangten Befreiung von dem Anspruch des Empfängers herauszugeben. M.a.W.: Die Bank erhält dann doch das Geld von ihrem Kunden.

Nach der h.M. ist die Angelegenheit für die Bank nach der Klage in jedem Falle vorbei, wenn sie das Geld zurückerhalten hat. Hat sie verloren, dann nur, weil eben doch eine Überweisung autorisiert war, dann kann sie ihrem Kunden den Betrag auch belasten. In einer weiteren Klage des Empfängers gegen den Kunden wird geklärt, ob der Kunde eben noch zahlen muss oder nicht.

4. Die Konsequenzen der h.M. betreffen künftig alle Überweisungsempfänger!

Die h.M. scheint eine einfache und daher vorzugswürdige Lösung gegenüber den Abtretungs- und Regresserfordernissen der Mindermeinung zu bieten. Dennoch bestehen ernstzunehmende Bedenken, die vor allem von Jansen, JZ 2015, 954 f. formuliert sind: Zunächst weist er darauf hin, dass die h.M. die Bank mit dem Insolvenzrisiko einer ihr fremden Person belastet (des Emfängers), was man freilich noch mit dem Irrtum der Bank rechtfertigen könne, dessen Konsequenzen sie zu tragen habe.

Wichtiger ist der zweite Einwand: Die Empfänger einer (jeder!) Überweisung können sich künftig nicht mehr darauf verlassen, dass das Geld, das bei ihnen ankommt, tatsächlich eine Leistung ihres Vertragspartners respektive Schuldners war. Das greift weit aus und kann nicht nur bei der Frage von Rückforderungen sondern auch dann eine Rolle spielen, wenn der Empfänger angesichts einer Überweisung seinerseits Leistungen erbringt, um dann überraschend zu erfahren, dass die Zahlung gar keine war. Die Tatsache, dass dem Horizont des Zahlungsempfängers künftig keine (!) Bedeutung mehr zukommen soll, kann u.U. auch zu Missbrauch (Kollusion) führen. Das kann nicht richtig sein! Zwar ist einzusehen, dass erkennbar ungerechtfertigte Beträge, die auf meinem Konto landen, einer Gefahr der Rückforderung ausgesetzt sind. Damit kann ich umgehen. Aber mich als Empfänger gehen doch Probleme im Schuldverhältnis zwischen Bank und Kunde (die „Autorisierung“ der Überweisung im Deckungsverhältnis) nichts an.

Und was wertungsmäßig gar nicht geht, auch darauf weist Jansen aaO hin: Die Forderung des Empfängers gegen den Zahler kann bereits verjährt sein, wenn sich der Irrtum der Bank nur etwas zu spät herausstellt. Dann muss er erstatten, ohne jemals Anlass zur Klageerhebung gehabt zu haben. Und was ist mit angefochtenen Autorisierungen? Was mit nachträglich einverständlich aufgehobenen? Möglicherweise gibt es noch weitere Beispiele, die allesamt eins zeigen: Die Lösung des BGH macht den Erfolg der Klage der Bank gegen den Empfänger allein von einem fremden Vertragsverhältnis (dem Deckungsverhältnis) abhängig, ohne das es auf die Sichtweise des Empfängers ankäme. Mir scheint das ein Verstoß gegen das Prinzip der Relativität der Schuldverhältnisse zu sein

5. Ein dritter Weg?

Ein dritter, vermittelnder Weg ist vielleicht noch nicht genau durchdacht: Könnte man etwa die Reichweite des § 675u BGB noch mal etwas genauer betrachten? Möglicherweise schließt er zwar nicht nur vertragliche Ansprüche, sondern auch die Leistungskondiktion der Bank gegen ihren Kunden aus. Denn immerhin will die Zahlungsdiensterichtlinie den vermeintlichen Zahler im Falle fehlender Autorisierung vollständig aus der Abwicklung fehlgeschlagener Zahlungsvorgänge heraushalten; dem widerspräche eine sofortige Inanspruchnahme durch die Bank. Andererseits geht es um den notwendigen Vertrauensschutz des Empfängers. Dem widerspräche der pauschale Rückforderungsanspruch der Bank aus eigenem Recht (vgl. zu dem Konflikt ausführlicher MüKo/Casper § 675u BGB Rn. 22f.) Die von Casper geforderte möglichst späte Einbeziehung des Zahlers könnte gewahrt werden, indem man der Bank (nur) noch eine subsidiäre Nichtleistungskondiktion (die Rückgriffskondiktion) gegen ihren Kunden belässt, wenn sich bei der Klage gegen den Empfänger aus abgetretenem Recht herausstellt, dass er das Geld behalten darf. Diesen letzten Bereicherungsanspruch wollte der (deutsche oder europäische) Gesetzgeber bestimmt nicht ausschließen. Kommentare von interessierter Seite willkommen!

Hic Rhodos, hic salta

24. Oktober 2015

von Ulrich Wackerbarth*

DSCN2844_01In den letzten Jahren ist das Hauptversammlungsprogramm von Aktiengesellschaften immer häufiger von einer (5%igen) Minderheit beeinflusst. Eine solche Minderheit kann nach § 122 Abs. 2 AktG verlangen, dass bestimmte Punkte und Beschlussvorschläge auf die Tagesordnung gesetzt werden, oder es findet gar die Versammlung selbst gem. § 122 Abs. 1 AktG auf Verlangen der Minderheit statt. Kommt der Vorstand einem entsprechenden Verlangen nicht nach, so kann die Minderheit gem. § 122 Abs. 3 AktG ihr Verlangen gerichtlich durchsetzen. Jüngst berichteten Grunewald und Schatz in Heft 19 der AG 2015 über eine ganze Reihe von Fällen, in denen dem Verlangen der Minderheit zunächst nachgegeben wurde, diese auf der entsprechenden Hauptversammlung dann aber eine böse Überraschung erlebte: Entweder ließ der Versammlungsleiter über den schon bekanntgemachten Beschlussvorschlag der Minderheit nicht abstimmen oder der Vorstand sagte gleich die ganze Versammlung wieder ab.

Geschieht diese Absage früh genug, so kann die Minderheit anschließend das Gericht anrufen und ggf. später selbst die HV einberufen. Nach ganz h.M. mutet das Gesetz die mit einer solchen gerichtlichen Entscheidung verbundene Verzögerung der Minderheit zu, wie der BGH in seinem Urteil vom 30.6.15 noch einmal ausführlich darlegt (Rn. 23 ff.). Ob das richtig ist, sei hier einmal dahin gestellt, Zweifel bestehen deshalb, weil die zunächst erfolgende Einberufung und spätere Absage die Minderheit dann im praktischen Ergebnis schlechter stellte als die sofortige Ablehnung des Verlangens.

Die Entscheidung des BGH

In der Konstellation, die der Entscheidung des BGH zugrundelag, bestand die Besonderheit nun darin, dass die Absage durch den Vorstand erst erfolgte, als sich die Aktionäre bereits am Versammlungsort eingefunden hatten. In diesem Sonderfall spricht der BGH nun dem Vorstand die Kompetenz zur Absage der Versammlung ab, weil sich die an dem in der Einberufung bestimmten Tag der Hauptversammlung am Versammlungsort erschienenen Aktionäre nach einer Einlasskontrolle im Versammlungsraum eingefunden haben und der Zeitpunkt des in der Einberufung angegebenen Beginns der Hauptversammlung bereits überschritten war. Auf eine im Gesetz nicht verankerte förmliche Eröffnung der HV komme es hingegen nicht an. Nach Auffassung des BGH hatte also die Absage keine „dingliche“ Wirkung mehr.

Sie führte aber tatsächlich dazu, dass einige Aktionäre nach der Absage den Saal verließen, angeblich weil sie auf die Wirksamkeit der Absage vertrauten. Die verbliebenen Aktionäre hielten gleichwohl die ihrer Auffassung nach eben nicht wirksam abgesagte Hauptversammlung ab. Doch sind nach der Entscheidung des BGH die nachfolgend gefassten Beschlüsse wegen Verletzung der Teilnahmerechte der gegangenen Aktionäre gem. § 243 Abs. 1 AktG anfechtbar. Und diese Anfechtbarkeit dürfe auch der Vorstand geltend machen, selbst wenn sie letztlich auf seiner Kompetenzüberschreitung beruhe (Rn. 46). Auch ein rechtsmißbräuchliches Verhalten (des anfechtenden Vorstands) verneint der BGH: Angesichts des Meinungsstandes zum „Beginn der Hauptversammlung“ sei die Auffassung des Vorstands, er könne noch wirksam absagen, zwar falsch, aber nicht unhaltbar (Rn. 51) und daher auch nicht mißbräuchlich.

Kritik

Nähme man das Urteil beim Wort, so bedeutete das: die Minderheit kann hier nicht einmal einen Antrag nach § 122 Abs. 3 AktG auf gerichtliche Ermächtigung stellen. Denn dieser Antrag setzt ja die Ablehnung des Verlangens der Minderheit oder eben eine spätere Absage der einmal einberufenen Versammlung voraus. Aber hier war die HV nicht wirksam – sondern eben nur: unwirksam – abgesagt. Daher müsste die Minderheit erneut ein Verlangen nach § 122 Abs. 1 AktG stellen und der Vorstand könnte das Spielchen endlos wiederholen, ohne dass es jemals den gesetzlich vorgesehenen Ausgang für die Minderheit nähme – lässt man einmal § 242 BGB außen vor, der irgendwann dem Spuk ein Ende setzte.

Der BGH hätte hier vielmehr die Konsequenzen aus seinen vorherigen Erwägungen ziehen müssen. Ist die Hauptversammlung nicht abgesagt, so muss gelten: hic Rhodos, hic salta. Eine Verletzung des Teilnahmerechtes der Aktionäre, die in Fällen wie diesem ja letztlich freiwillig gehen, ist zu verneinen: Dass irgend jemand unwirksame Verfahrenshandlungen vornimmt, müssen die Anwesenden stets hinnehmen, ohne deshalb gleich zur Anfechtung berechtigt zu sein. Schließlich endet ein Fußballspiel ja auch nicht, nur weil ein Zuschauer eine Trillerpfeife dabei hat und zum Abpfiff benutzt. Und nach Beginn der Versammlung war der Vorstand eben nur noch Zuschauer. Alles andere verstieße gegen das Selbstorganisationsrecht der Hauptversammlung. Wenn zum Beispiel der aus wichtigem Grund abgewählte Versammlungsleiter anschließend bekannt gibt, dann sei die Hauptversammlung „eben jetzt zu Ende“, kann dies nicht die vom rechtmäßig gewählten Versammlungsleiter durchgeführte Versammlung und Beschlussfassung anfechtbar machen. Das muss auch gelten, wenn einige Aktionäre das nicht wissen und einfach gehen. Richtigerweise tun sie das auf eigenes Risiko.

*Der Beitrag ist unter anderem Titel in leicht veränderter Form am 23.10.2015 auf dem Rechtsboard erschienen.

VW – im Grundsatz kein Schadensersatz für Aktionäre!

9. Oktober 2015

von Ulrich Wackerbarth*

IMG_4143[1]„Dieselgate“ ist in aller Munde und nun wollen auch die Aktionäre ihren Teil vom offenbar überreichlich zur Verfügung stehenden Schadensersatzkuchen. Die bekannte Anlegerschutz-Kanzlei T. verkündete – nicht ohne Stolz – bereits am 1.10.2015, die erste deutsche Anlegerklage gegen VW eingereicht zu haben und wirbt um weitere klagewillige Aktionäre. Dazu genüge es, nach dem 6.6.2008 VW-Aktien gekauft zu haben. Nach der „festen Rechtsüberzeugung“ von Andreas T. spielt es keine Rolle, wenn die Anleger die Aktien vor dem 17. September wieder verkauft haben. Nach der gleichen „festen Rechtsüberzeugung“ allerdings müssen sie diese Aktien im Gegenteil sogar am 20. September 2015 (siehe hier unter Häufig gestellte Fragen/Welche Anleger sind betroffen) eben doch noch gehalten haben.

Ich weiß natürlich nicht, worauf genau diese offenbar dann doch nicht ganz so festen Rechtsüberzeugungen beruhen, aber soweit Herr T. auf die Haftung der VW-AG für unterlassene ad hoc – Mitteilungen über die Manipulation hinaus will, spricht § 37 b WpHG insoweit eine klare Sprache (und sieht eine Haftung nur vor, soweit der Anleger „bei Bekanntwerden der Insiderinformation noch Inhaber der Finanzinstrumente ist“). Das dürfte hier der 18. September 2015 sein (Tag des Erscheinens dieses Zeit-Artikels), ggf. auch der 20.9.2015 (Eingeständnis der Manipulation durch VW).

1. Kapitalmarktinformationshaftung für Pflichtverstöße?

Ganz unabhängig von derartigen Ungereimtheiten stellt sich aber doch auch ganz grundsätzlich die Frage, ob die Aktionäre, weil sie von den (unterstellten) Gesetzesverstößen ihrer Gesellschaft bis zum 20. September 2015 nichts wussten, nun von der VW AG Schadensersatz nach § 37 b WpHG erhalten können. Der Gedanke der Anleger-Anwälte scheint der folgende: Da die Software bereits seit 2008 verwendet wurde, hätte die VW AG auch seit 2008 die Öffentlichkeit darüber aufklären müssen. Da sie es nicht getan hat, können alle Aktionäre, die nach 2008 Aktien gekauft haben, den Kursverlust bei Bekanntwerden des Skandals als Schadensersatz gem. § 37 b WpHG verlangen. Aber ist das auch richtig?

Bemerkenswerterweise sind im Jahr 2015 einige – nunmehr fast prophetisch anmutende ? Aufsätze erschienen, die sich mit der nicht weit entfernt liegenden Frage beschäftigen, ob nämlich der Emittent auch für fehlerhafte Governance der Gesellschaft über den Umweg der fehlerhaften ad hoc – Publizität haftbar gemacht werden kann. Zu nennen sind hier Seibt/Ciupka, AG 2015, 93, Schockenhoff, NZG 2015, 409 und Klöhn, ZIP 2015, 1145. Der Tenor lautet: Ja, das geht, wobei insbesondere Schockenhoff und Seibt/Ciupka die Pflicht aus § 15 WpHG sehr weitgehend relativieren. Vor allem Klöhn hat auf die treffende Parallele zur berühmten Entscheidung “Santa Fe vs. Green“ aufmerksam gemacht, in der der US-Supreme Court entschied, dass ein Pflichtverstoß des boards einer us-amerikanischen Gesellschaft nicht per se auch eine Verletzung kapitalmarktrechtlicher Pflichten darstelle, sofern nicht noch darüber hinaus eine Täuschung der Anleger gegeben sei.

2. Sachverhalt

Genau diese Frage stellt sich auch hier: Angenommen (und ich meine damit wirklich nur: unterstellt, dieser Blog-Beitrag maßt sich insoweit keine Aufklärung an) einzelne VW-Vorstandsmitglieder hätten im Jahr 2006 oder 2007 die Verwendung der Schummel-Software nicht nur gekannt, sondern sie sogar ausdrücklich angeordnet , hätten also zweifelsfrei eine (sie selbst) zum Schadensersatz verpflichtende Pflichtverletzung im Sinne des § 93 AktG begangen, muss dann wirklich die VW AG ihren Aktionären für diese Pflichtverletzung unmittelbar haften, weil das Anlegerpublikum über die Pflichtverletzung (und ihre Folgen) nicht sofort per ad hoc – Mitteilung aufgeklärt wurde?

Meiner Meinung nach im Grundsatz Nein! Das soll im Folgenden begründet werden:

3. Ad hoc – Pflicht der VW – AG? Im Prinzip ja, …

Zunächst wird man allerdings die Kenntnis des sorgfaltswidrig handelnden Vorstandes der VW-AG zurechnen müssen, so dass grundsätzlich eine Pflicht zur Veröffentlichung entstanden ist. Dem steht nicht entgegen, dass VW sich hier in einer „Opferrolle“ befinde (so aber Klöhn, ZIP 2015, 1152). Die Tatsache, dass der Vorstand die unterstellte Sorgfaltspflichtverletzung selbst begangen hat, ändert richtigerweise nichts an der Zurechnung seiner Kenntnis an die VW-AG. Schließlich benötigt man diese Zurechnung schon für die Haftung der VW-AG den Autokäufern gegenüber, vgl. § 31 BGB. Auch die Pflicht zur Veröffentlichung der Pflichtverletzung im Wege der ad hoc – Mitteilung entstand also prinzipiell bereits mit der Pflichtverletzung, der Anordnung des Einbaus bzw. der Aktivierung der unzulässigen Software.

4. … aber (zunächst) keine Möglichkeit der Pflichterfüllung.

Allerdings ist der VW AG die Erfüllung der ad hoc – Pflicht letztlich so lange nicht möglich gewesen, wie der Pflichtverstoß nicht anderen Vorstandsmitgliedern zur Kenntnis gebracht wurde, die mit dem Dieselskandal im Ausgangspunkt nichts zu tun hatten. Eine juristische Person handelt durch ihre Organe, eine schuldhafte Unterlassung durch diese kann dem Emittenten infolgedessen nur dann zugerechnet werden, wenn den Zurechnungsträgern das Handeln auch selbst möglich und zumutbar ist, alles andere wäre unfair. Dem oder den für den Skandal verantwortlichen Organmitgliedern ist eine öffentliche Selbstbezichtigung indessen gerade nicht zumutbar, und den übrigen Mitgliedern ist mangels Kenntnis die Offenlegung nicht möglich.

Sähe man das anders, so erschütterten die Konsequenzen (Haftung nach § 37 b WpHG) die Grundfesten der Verfassung der Aktiengesellschaft. Für jede Pflichtverletzung von Organmitgliedern (die ja naturgemäß von diesen nicht publik gemacht werden) wäre im praktischen Ergebnis die AG stets allen Aktionären haftbar, die nach der Pflichtverletzung Aktien gekauft und bis zum Bekanntwerden gehalten haben. Im Aktienrecht gilt aber gerade der umgekehrte Grundsatz: Zwar sind Schäden, die der Gesellschaft vom Vorstand zugefügt werden, stets auch (anteilig, mittelbar) Schäden ihrer Aktionäre, können aber von diesen nicht geltend gemacht werden, weil damit eine Auszahlung aus dem Gesellschaftsvermögen an die Aktionäre verbunden wäre und dieses Geld den Gläubigern der Gesellschaft nicht mehr zur Verfügung stünde. Eben deshalb war lange Zeit umstritten, ob die Kapitalmarkthaftung der AG nicht überhaupt gegen die Vermögensbindung in der AG verstößt.

Hätte bereits die Pflichtverletzung selbst eine ad hoc – Pflicht ausgelöst, so konkurrierten die Anleger mit den Autokäufern oder dem Staat um die Erfüllung von Ansprüchen gegen die VW-AG. Das wäre vor allem dann fatal, wenn die VW-AG infolge der Pflichtverletzung insolvent wäre oder noch werden sollte. Es kann aber kaum sein, dass die betrogenen Käufer der Dieselautos sich die noch vorhandene Insolvenzmasse mit Aktionären teilen sollen, nur weil die Organe der Gesellschaft nicht gleich nach außen posaunt haben, welch Betrügerei sie hier veranlasst haben.

5. Verhalten der anderen Organmitglieder zurechenbar

Richtig scheint mir allerdings auch: Wenn unbeteiligte Organmitglieder (oder auch der Aufsichtsrat) von einem derartigen Handeln eines oder mehrerer ihrer Kollegen erfahren, dann müssen sie für die Information der Öffentlichkeit im Wege der ad hoc – Mitteilung sorgen. Insofern ist es richtig, dass die Anleger nicht über die zu erwartenden Schadensersatzklagen getäuscht werden dürfen und widrigenfalls nicht nur Ansprüche aus § 37 b WpHG haben, sondern damit auch in einer eventuellen Insolvenz nicht nachrangig sind.

6. Befreiung während eines angemessenen Aufklärungszeitraums

Den unbeteiligten Organen ist jedoch vor einer Veröffentlichung jedenfalls (im Wege der Befreiung gem. § 15 Abs. 3 WpHG) noch ein gewisser Aufklärungszeitraum zuzubilligen. Man stelle sich vor, ein Vorstandsmitglied gesteht den anderen seine Missetaten: keinesfalls dürfen die anderen dann ohne weitere Prüfung und Befragung der Mitarbeiter einfach das Geständnis ad hoc veröffentlichen – sie würden der Gesellschaft möglicherweise weiteren Schaden zufügen, vor allem wenn über das Geständnis heraus keinerlei Auskunft gegeben werden kann und der Markt die neue Situation möglicherweise deshalb nicht richtig einschätzen kann.

Andererseits darf mit der Veröffentlichung auch nicht abgewartet werden, bis alles aufgeklärt ist. Sobald man weiß, dass das Geständnis im Kern wahr ist, kann man die Öffentlichkeit mit der Maßgabe informieren, dass weitere Aufklärungsarbeit nötig ist und erfolgen wird. Wie weit der Aufklärungszeitraum geht und ab welchem Konkretisierungsgrad des Verdachts die Veröffentlichung erfolgen muss, ist letztlich Frage des Einzelfalls und hängt auch davon ab, ob es bereits Gerüchte gibt oder nicht. Keinesfalls darf mit der Veröffentlichung abgewartet werden, bis es erste Zeitungsberichte gibt.

Weitere Gründe oder Möglichkeiten für eine Selbstbefreiung der VW-AG nach § 15 Abs. 3 WpHG dürften freilich hier nicht bestehen, weil kein berechtigtes Interesse an der Geheimhaltung eines derartigen Fehlverhaltens erkennbar ist. Schließlich geht es hierbei nicht um mehrstufige interne Entscheidungsprozesse oder noch laufende Verhandlungen, die durch die Veröffentlichung gefährdet würden (vgl. die Beispiele in § 6 WpAIV) (a.A. wohl Schockenhoff, aaO. 413). Bei derartigen „bad news“ wie dem Dieselgate haben die Anleger ein berechtigtes Interesse, nicht länger als unbedingt nötig über die Fehlbewertung der Aktie im Unklaren gelassen zu werden.

Dafür, dass hier in dem dargestellten Sinn lange Zeiten der Unterlassung einer ad hoc – Information verstrichen sind, liegen zur Zeit m.E. zu wenig Anhaltspunkte vor.

7. Der Aktionär als Unternehmensteilhaber und als Anleger

Man sollte stets zwischen den beiden Funktionen unterscheiden, in denen Aktionäre der börsennotierten Gesellschaft gegenübetreten: als Unternehmensteilhaber tragen sie das unternehmerische Risiko. Zu diesem Risiko gehört auch ein mögliches Fehlverhalten der von den Aktionären zumindest mittelbar selbst ausgesuchten Organmitglieder. Die Aktionäre tragen dieses Risiko unmittelbar und für jedermann erkennbar, indem der Kurs bei Bekanntwerden derartigen Fehlverhaltens sinkt. Sie verlieren ihr Geld sofort und ohne jeden Gerichtsbeschluss, klarer kann sich das unternehmerische Risiko kaum zeigen. Der Kurs wird eventuell wieder steigen, wenn sich herausstellt, dass eine D&O Versicherung einspringt oder der Emittent sonstwie Ersatz für das Fehlverhalten seiner Organe erhält (bei geringeren Beträgen u.a. auch unmittelbar vom Vorstand über die Haftung nach § 93 AktG, im Abgas-Skandal allerdings scheint angesichts der Beträge ein nennenswerter Ersatz in jedem Falle ausgeschlossen).

Als Anleger sind die Aktionäre hingegen Kapitalmarktteilnehmer und haben einen Anspruch darauf, nicht belogen zu werden. Sie treten der Gesellschaft insoweit wie fremde Dritte gegenüber. Verstößt der Emittent zurechenbar gegen das kapitalmarktrechtliche Täuschungsverbot, so muss er Schadensersatz zahlen. In diesem Falle sind die Aktionäre ganz normale Gläubiger und konkurrieren mit allen anderen vertraglichen und deliktischen Gläubigern, auch in der Insolvenz. Dass dies so ist, erkennt man auch ganz leicht daran, dass nach §§ 37 b und c WpHG (jeweils Abs. 1 Nr. 2) ggf. auch Nichtaktionäre Ansprüche haben und ihnen gegenüber ein Nachrang kaum zu begründen wäre.

Was das VW-Beispiel lehrt, ist das Folgende: Es kann nicht sein, dass man das Fehlverhalten des Vorstands über § 15 WpHG in ein kapitalmarktrechtliches Fehlverhalten des Emittenten verwandelt und den Aktionären über diesen „Trick“ bei jeder Sorgfaltspflichtverletzung ihrer Organe Ansprüche unmittelbar gegen die Aktiengesellschaft verschafft. Das ist durch das Insiderrecht des WpHG nicht gewollt und es widerspräche auch dem in § 93 AktG zum Ausdruck kommenden Ordnungssystem, innerhalb dessen in erster Linie die Aktiengesellschaft einen Anspruch gegen den Vorstand hat, wenn dieser seine Sorgfalt verletzt, und nicht die Aktionäre gegen den Emittenten, nur weil dieser nicht schnell genug über das Fehlverhalten des Vorstands informiert hatte.

Daher gilt im Grundsatz: Die VW-Aktionäre tragen den von einem Sorgfaltsverstoß des Vorstands verursachten Verlust im Wege des Kurseinbruchs und erhalten keinen Schadensersatz von der AG. Und das ist auch gut so!

*Der Verf. dieses Beitrags hat nach Bekanntwerden des Diesel-Skandals zum Kurs von ca 117 Euro 13 VW-Aktien erworben und ist gleichwohl der Auffassung, dass das keinen diesen Blog-Artikel hinreichend in Frage stellenden Interessenkonflikt begründet. Verf. dankt den Herren Daniel Rochol und Christoph Behne für die engagierte Diskussion.

Anleitung zur Haftungsentlastung für Vorstände

31. August 2015

 

von Ulrich Wackerbarth

IMG_4123aSind Sie Vorstand einer Aktiengesellschaft und wollten immer schon mal etwas Verbotenes tun, ohne dafür später haftbar gemacht werden zu können? Und noch besser: ohne dass überhaupt jemand haftet? Kein Problem: Corporate BlawG hilft, wo wir können. Hier kommt die Anleitung für alle, die nicht länger hinter dem Mond leben (wollen):

1. Der Plan

Überlegen Sie zunächst, was sie genau vorhaben. In Betracht kommen z.B.

– eine gepflegte Insolvenzverschleppung,

– Vergütungsvereinbarungen am Aufsichtsrat vorbei,

– Verbotene Kartellverträge für die Gesellschaft

und viele andere Dinge, die Ihnen oder Ihrer AG nützen, aber leider vom Gesetz streng verboten sind. Aber was heißt schon verboten? Haftbar machen kann man Sie nur, wenn Sie Ihr Vergehen auch „zu vertreten“ haben. Und hier heißt das Zauberwort: Exkulpation durch Rechtsrat. Das funktioniert in etwa so: wenn Ihnen ein Experte sagt, dass Ihr Vorhaben erlaubt war, dann konnten Sie doch nichts dafür und handeln entschuldigt. Eine solche Exculpation will freilich gut geplant sein.

2. Unabhängiger Berater

Zunächst suchen Sie sich einen Berater mit dem Sie ihr Vorhaben detailliert planen können. Er oder sie sollte sich entweder im Insolvenzrecht, im Aktienrecht oder im GWB gut auskennen, je nachdem, was Sie vorhaben (siehe 1). Nach der Rechtsprechung des II. Zivilsenats muss er oder sie ein „fachlich qualifizierter Berufsträger“ sein. So etwas wird sich doch finden lassen.

Das schöne: seit neuestem kommen auch Ihnen vollkommen ergebene Mitarbeiter aus Ihrer Rechtsabteilung als Berater in Betracht. Bei der Auswahl ist nämlich lediglich auf sachliche (nicht: persönliche) Unabhängigkeit zu achten. Der Berater gilt nach der Rechtsprechung des BGH als unabhängig, wenn er keine Vorgaben bekommt und also ergebnisoffen prüft (BGH v. 28.4.2015 Rn. 36). Also kann auch ein interner Angestellter unabhängig sein. Es spielt keine Rolle, dass seine berufliche Zukunft von Ihrem ganz persönlichen Wohlwollen abhängt und Sie von ihm daher verlangen können, was immer Sie wollen.

3. Mißverständnisse …

Nun aber das wahrhaft Geniale für Sie und Ihren angestellten Berater:

„Eine Entlastung aufgrund eines Rechtsirrtums verlangt nicht, dass ein Prüfauftrag ausdrücklich für eine bestimmte Rechtsfrage erteilt wird, sondern nur, dass die Prüfung aus der Sicht des nicht fachkundigen Organs die zweifelhafte Frage umfasst“.(BGH v. 28.4.2015, Rn. 30)

Sie müssen also nur eine möglichst pauschale Frage stellen, die das verbotene Vorhaben mitumfasst, aber ansonsten unverdächtig Erlaubtes zum Gegenstand hat. Der oder die „Befragte“ wiederum muss die gestellte Frage missverstehen können. Genau durch dieses Missverständnis öffnet sich die Enthaftungswundertüte, die Sie als Vorstand und Ihren Berater von jeder Haftung befreit. Denn die Antwort des Beraters wiederum muss nur so formuliert sein, dass sie den geplanten Rechtsverstoß aus Ihrer rechtsunkundigen Sicht objektiv mitabdeckt, während der Berater ja nur die erfragten erlaubten Verhaltensweisen „absegnen“ wollte.

(Dass die Konstruktion solcher Scheinmißverständnisse selbstverständlich rechtswidrig ist, sei hier nur am Rande erwähnt und braucht Sie nicht groß zu interessieren. Merke: Vor Gericht zählt nur das, was bewiesen werden kann.)

4. Plausibel?

Wenn das geschehen ist, sind Sie und Ihr Angestellter prinzipiell fein raus. Gerade das doppelte Mißverständnis erschlägt nämlich eine weitere Voraussetzung für die Entlastung durch Rechtsrat, die erforderliche Prüfung auf Plausibilität. Naturgemäß ist die Plausibilität des Rechtsrats bei einem entsprechenden Mißverständnis schon definitionsgemäß gegeben; die Auskunft muss diese Kontrolle passieren (sonst läge ja kein Mißverständnis vor).

Also in aller Kürze: Sie wollen A tun und fragen ungeschickt nach B. Ihr Berater antwortet „B ist erlaubt“ und Sie verstehen „A und B sind erlaubt“ (was für Sie als Laien selbstverständlich völlig plausibel ist).

Und damit sind Sie wegen  A nicht mehr dran, weil Sie ja denken durften, A sei erlaubt. Und Ihr Berater haftet nicht, weil er aus seiner Sicht ja nicht einmal die Frage nach A gehört hat geschweige denn sich dazu äußern wollte. Ergebnis: Die Frage nach B entlastet beide für A.

Leider enthält die Rechtsprechung noch ein wenig zufriedenstellendes caveat: Zur Plausibilitätsprüfung gehört auch die Prüfung, ob

„dem Berater nach dem Inhalt der Auskunft alle erforderlichen Informationen zur Verfügung standen, er die Informationen verarbeitet hat und alle sich in der Sache für einen Rechtsunkundigen aufdrängenden Fragen widerspruchsfrei beantwortet hat oder sich aufgrund der Auskunft weitere Fragen aufdrängen.“ (BGH v. 28.4.2015, Rn. 33)

Damit lässt sich der II. Senat ein ziemlich großes „Hinter-Tor“ auf, um im Einzelfall Fragen zu finden, die sich vielleicht nicht Ihnen, aber den Richtern des II. Senats aufdrängten. Und welche Fragen das sein werden, das weiß vermutlich nur der Mann im Mond.

Gone Dark – die Neuregelung des Delisting und neue Geschenke an Großaktionäre

30. Juli 2015

von Ulrich Wackerbarth

 

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I. Hintergrund

Vom Ersatzgesetzgeber zum Ersatzversager – so könnte man die Entwicklung der Rechtsprechung des BGH zu den Voraussetzungen für einen Rückzug von der Börse nennen. Nachdem der II. Senat mit einem umstrittenen, aber mutigen und jedenfalls im Ergebnis respektablen Urteil in der Sache Macrotron 2002 dem unkontrollierten Delisting ein Ende gesetzt hatte, haben es die Unternehmen bekanntlich recht erfolgreich mit einer Strategie „von hinten durch die Brust ins Auge“ versucht. Assistiert von meinungsstarken, aber argumentbefreiten Stellungnahmen aus der Anwaltschaft und pseudo-wissenschaftlichen Untersuchungen (die hier bereits kritisiert wurden), suchte man nun nicht mehr den direkten (Börsen-)Ausgang, sondern nahm einen anderen Weg.

Nämlich den Umweg über ein vom BGH in Macrotron eigentlich verbotenes Downlisting, das aber zunächst in ein besonders herausgehobenes Feld (Qualitätssegment) des freien Marktes erfolgte, konnten zunächst das OLG München und das KG überzeugt werden, den regelfreien Rückzug auf Raten entgegen Macrotron zu erlauben (dazu schon hier). Nach einem Zwischenspiel beim BVerfG (das sich zwar zu Recht rausgehalten hat, aber einer fatalen Ankündigung durch den Vorsitzenden des II. Senats Platz einräumte, siehe hier) war der Weg dann frei und der BGH hat bekanntlich in der Frosta-Entscheidung seine frühere Rechtsprechung ersatzlos (hier) gestrichen. Dies geschah unter Verweis auf „wissenschaftliche“ Untersuchungen (die im Hinblick auf Methode und Unabhängigkeit dieses Wort nicht verdienten) und ohne inhaltliche Auseinandersetzung mit den Argumenten der Gegenauffassung.

II. Meinungsstand

Dieses Urteil mit Recht als richterliches Versagen eingeordnet hat nun offenbar auch der Gesetzgeber und überlegt eine Neuregelung des Delisting. Im Hinblick darauf hat sich eine ganze Reihe von Vertretern einer mehr oder weniger starken Regulierung des Delisting zu Wort gemeldet. Einig sind sich alle darin, dass eine reine Fristenlösung, wie sie momentan in den Börsenordnungen existiert, den notwendigen Schutz nicht leisten kann und daher ein Angebot an die Aktionäre erforderlich ist. Wie aber ist der Stand der Dinge genau? Ich habe mir mal die Mühe eines Vergleichs gemacht. Die folgende Übersicht ist auf einige wesentliche Dinge beschränkt:

  1. Reichweite der Regulierung. Kann man die Neuregelung umgehen oder umfasst sie auch das Downlisting (dazu hier)?
  2. Soll es eine Ausnahme von der Angebotspflicht geben, etwa, wenn das Delisting innerhalb eines Jahres nach einem Übernahmeangebot erfolgt?
  3. Gibt es ein Spruchverfahren? Und soll dort auch eine Unternehmenswertermittlung erfolgen oder nur der Schutz durch Abstellen auf einen gewichteten Börsenkurs vor der Ankündigung des Delisting?
  4. Wird eine kapitalmarktrechtliche oder gesellschaftsrechtliche Regulierung bevorzugt? D.h. soll die Neuregelung eher bei § 39 BörsG oder eher im AktG mit dem Erfordernis eines HV-Beschlusses und mit welcher Mehrheit erfolgen?

 

Berücksichtigt wurden folgende Aufsätze und sonstigen Stellungnahmen (in alphabetischer Reihenfolge, weitere habe ich nicht gefunden):

  • Auer, JZ 2015, 71
  • Bayer, ZIP 2015, 853 und ZfPW 2015, 163
  • Brellochs, AG 2014, 633
  • Buckel/ Glindemann /Vogel, AG 2015, 373
  • Bungert, Editorial DB 2015, Heft 25, S. 5
  • Habersack JZ 2014, 147 nebst Stellungnahme für BT
  • Hirte, Stellungnahme
  • Kaetzler, Kreditwesen 2015, 400
  • Koch/Harnos, NZG 2015, 729
  • Noack, Stellungnahme für BT
  • Wicke, DNotZ 2015, 488

Legende: x = wird bejaht, – = wird verneint, tend.= tendiert zu

 

Autoren Angebot bei Downlisting kein Angebot nach Übernahme Spruchverfahren/Unternehmenswerter-mittlung HV-Beschluss/Mehrheit
Auer – (unklar) – (§ 39 BörsG) – (BörsG)
Bayer x tend. x x / (unklar) x / (unklar)
Brellochs x – / – (wie WpÜG) – (BörsG)
Buckel/ Glindemann/ Vogel x x (1 Jahr) – / – (wie WpÜG) – (BörsG)
Bungert x – / – (wie WpÜG)
Habersack x – / – – (BörsG)
Hirte x x / (unklar) (nicht eindeutig)
Kaetzler – (x bei Komplett-Rückzug) – / – (wie WpÜG)
Koch/ Harnos x x / u.U. (ähnlich WpÜG) – (BörsG)
Noack x tend. x – / – (wie WpÜG) – (§ 3 AktG)
Wicke x x / ausnahmsweise x / 75 %

 

III.  Erkenntnisse und Kritik

1. Zunächst: Eine umgehungsfeste Regelung knüpft nach ganz h.M. an das Ende der Notierung am geregelten Markt an (erfasst also auch die Fälle des Downlisting). Dem kann ich mich nur anschließen. Eine Ausnahme von der Angebotspflicht nach erfolgter Übernahme wird nur von wenigen überlegt, widerspräche aber im Ergebnis den gesetzlichen Wertungen in § 39a WpÜG, was offenbar niemand sieht.

2. Ferner halten fast alle einen Hauptversammlungsbeschluss für entbehrlich (siehe die 5. Spalte der Liste). Da ein Angebot erforderlich ist, könnte gegen den Willen der Aktionäre der Vorstand den Rückzug gleichwohl nicht durchführen. Denn wenn er niemanden findet, der das notwendige Übernahmeangebot machen will, so verbietet § 71 AktG ihm selbst, mehr als 10% der Aktien zurückzukaufen. Das müsste er indessen, wenn das Angebot mangels HV-Beschlusses allen Aktionären gemacht werden muss.

Richtigerweise sollte ein HV-Beschluss das Delisting auch in solchen Fällen ermöglichen können: Wenn die (einfache) Mehrheit meint, auf die Börsennotierung verzichten zu können oder zu müssen (und die zustimmenden Aktionäre sich zudem zur Übernahme der Aktien der mit Nein stimmenden Aktionäre bereit erklären – jeder könnte bei der Abstimmung sagen, wie viele er abkaufen würde, anschließend wüsste man, ob es aufgeht), sollte der Vorstand zum Delisting berechtigt und verpflichtet sein.

3. Umstrittener ist die Frage der Notwendigkeit eines Spruchverfahrens (4. Spalte). Zwar wollen einige ein solches beibehalten. Nach ganz überwiegender Meinung soll anlässlich des Delisting aber keine Unternehmensbewertung mehr stattfinden, vielmehr sei an die übernahmerechtliche Regelung des § 5 WpÜG-AngVO anzuknüpfen (dreimonatiger Referenzkurs vor Delisting-Ankündigung). Nur in Ausnahmefällen (vgl. § 5 Abs. 4 WpÜG-AngVO) soll eine solche Bewertung durchgeführt werden müssen. Ob und unter welchen Umständen ein solcher Ausnahmefall vorliegt, kann allerdings nur im Spruchverfahren endgültig geklärt werden. Ich ziehe daher zunächst diejenigen vor, die die Regelung des WpÜG zumindest mit der Anwendung des Spruchverfahrens kombinieren wollen.

Allerdings: Würde eine Regel ohne Unternehmenswertermittlung tatsächlich Gesetz, so wäre dieses Gesetz ein Geschenk an alle Großaktionäre, die noch nicht die nötigen 90% für einen Squeezeout aber vielleicht schon 70 oder 80 % zusammenbekommen haben. Künftig setzen sie den Vorstand unter Druck, ein Delisting durchzuführen. Anbieten müssen sie dann weniger als beim Squeezout (nämlich eben keine volle Entschädigung mehr), können aber praktisch doch sicher sein, dass die 30%ige Minderheit aus der Gesellschaft verschwindet – eben aus Angst vor dem späteren Eingesperrt-Sein in einer AG ohne Börsennotierung. Gerade vor diesem wirtschaftlichen Druck schützen wollte der BGH in Macrotron, als er noch Ersatzgesetzgeber war. In bestimmten Konstellationen könnte die Neuregelung auch perfiden
„freundlichen“ Übernahmen einen günstigen Weg bahnen: Der Bieter macht dann kein WpÜG-Übernahmeangebot, sondern eben ein (schlechtes) Delisting-Angebot, das aus Angst dann trotzdem alle annehmen.

IV. Ceterum Censeo

Im Übrigen: Wo sind eigentlich all diejenigen, die von der Downlisting-Rechtsprechung des OLG München und des KG und später von Frosta so begeistert waren? Sie haben sich in der aktuellen Debatte (bis auf Bungert) noch nicht zu Wort gemeldet. Ich vermute, sie sind fleißig damit beschäftigt, das Going Dark von rückzugswilligen Unternehmen in der Zeit zu organisieren, in der Frosta noch gilt. Für diejenigen Aktionäre, die an Gesellschaften beteiligt waren, die bereits „gone dark“ sind, kommt jede gesetzliche Hilfe zu spät. Die Verantwortung für ihren Schaden tragen allein die Mitglieder des II. Senats, die für „Frosta“ gestimmt haben.